Die deutsche Politikwissenschaft plagen Selbstzweifel. Wie steht das Fach im öffentlichen Diskurs da? Wie gegenüber der Politik? Und wie im Vergleich zu anderen Disziplinen? Und wer ist schuld, wenn sich herausstellt, dass früher oder anderswo sicher alles besser war oder ist? Die öffentlich betriebene Nabelschau weckt – zumindest innerhalb der Zunft – viel Interesse. Meinung und Gegenmeinung werden mobilisiert, der Diskurs auch munter in die Institutionen wie die DVPW getragen. Das im April erscheinende Heft der Zeitschrift für Politikwissenschaft (ZPol) nimmt den Ball auf, gibt ihm aber noch einmal einen anderen Twist: Angefragt wurden 17 Beiträge von Vertreterinnen und Vertretern aller Teile der Disziplin und über die Senioritätslevel hinweg. Die Aufgabenstellung lautete: Formuliert kurz und knapp, was die nahe Zukunft – die nächsten fünf Jahre – mit dem Fach machen werden. Welche Eisberge harren der Umschiffung, welche Chancen müsste man nutzen?
Das Ergebnis ist erwartbar bunt: Die Schwerpunktsetzungen reichen von der Diskussion, ob das Fach gerade wegen seiner inhaltlichen und methodischen Pluralität stark ist (Uwe Jun), ob es nicht besser seine disziplinäre Identität herausarbeiten sollte, um interdisziplinär anschlussfähig zu sein (Herfried Münkler), oder ob man Ausdifferenzierung und Integration nicht durch eine stärkere Trennung von Forschung und Lehre balancieren könnte (Kai-Uwe Schnapp). Lehre ist auch ein Thema bei Monika Oberle, die an deren Bedeutung für die Gesellschaft erinnert. Der von Carlo Marsala geschriebene Beitrag fordert die Politisierung der Politikwissenschaft und hat schon vorab in einer Variation für die ZEIT für viele Diskussionen gesorgt. Auch Dirk Jörke verlangt nach einer für politische Kontexte sensibleren Politikwissenschaft, Sabine Manzel hingegen klagt ganz pointiert mehr „cojones“ ein, während Manfred G. Schmidt sarkastisch gegen Kleinteiligkeit und Drittmittellogik ätzt. Auch Internationalisierung wird mehrfach und kontrovers thematisiert, etwa bei Ton Nijhuis, der das Verblassen deutscher Besonderheiten (auch) als Schwäche diagnostiziert. Gabi Schlag und ich schließlich schütten noch aus einem anderen Fass Wasser in den Wein, wenn wir daran erinnern, dass Politikwissenschaft nicht nur Disziplin, sondern auch Beruf ist – und besser einer wäre (oder ein besserer wäre), wenn die Mehrheit der ihn Ausübenden weniger prekär von ihm leben könnten.
Wir nehmen die Veröffentlichung des ZPol-Forums zum Anlass, um unter dem Strich noch einmal die verschiedenen Beiträge der schon mehr als ein Jahr laufenden Debatte zu rekapitulieren und euch eine Übersicht über alle Beiträge des Sonderhefts zu geben.
Den Startschuss zum jüngsten Krisendiskurs gaben im Anschluss an den Duisburger DVPW-Kongress Frank Decker und Eckhard Jesse in der FAZ (Fach ohne Ausstrahlung). Es folgten Repliken, etwa von Hannah Bethke (FAZ-Artikel) und Sebastian Huhnholz (Theorieblog-Version seines FAZ-Artikels) sowie ein öffentlicher Facebook-Post von Thomas König (weitere Texte sind gesammelt auf einer Sonderseite der DVPW-Homepage). Schließlich die in den Blättern für deutsche und internationale Politik veröffentlichte Abschiedsvorlesung von Lothar Probst, in der dieser Politikwissenschaft und Politische Theorie davor warnte, zwischen Mathematisierung und Moralphilosophie zerrieben zu werden. Dann beruhigte es sich für einige Monate, bevor Nils Heisterhagen in der FR beklagte, dass der Demokratie die öffentlichen Denker fehlen und Carlo Marsalas ZEIT-Artikel erschien. Letzteren replizierte Ingo Rohlfing in einem Blog-Post.
Parallel zur deutschen Debatte entspann sich im Anschluss an den Wahlsieg Donald Trumps zudem eine internationale Debatte, die in den Zeitläuften die Chance bzw. Pflicht zum Relevant-Werden der Politikwissenschaft erblickt – etwa in Times Higher Education, in Wired oder in eingedeutschter Form bei uns mit Yascha Mounks Artikel „Was die Politikwissenchaft jetzt tun muss“ oder fachübergreifend-populär von Michael Hartung in der ZEIT.
Das im April erscheinende Heft 1/2017 der ZPol multiplizierte mit seinen Beiträgen noch einmal die Debatte. Die Beiträge im Einzelnen (leider mancherorts hinter Paywall):
- Manuel Fröhlich, Karl-Rudolf Korte, Stefan A. Schirm, Hans Vorländer: Unser Fach Politikwissenschaft (Editorial) (Pre-Print PDF)
- Andrea Römmele: International und praxisorientiert – Impulse für die Politikwissenschaft
- Andreas Nölke: Für eine öffentliche Politikwissenschaft
- Bettina Engels: Wünsch Dir was!
- Carlo Masala: Die Zukunft der deutschen Politikwissenschaft
- Dirk Jörke: Zurück in die Zukunft
- Ferdinand Müller-Rommel: Politikwissenschaft: „Ein Fach mit Ausstrahlung“
- Gabi Schlag: „Revolution must come“ – Von der Problemdiagnose zur politischen Aktion
- Hans-Joachim Lauth: Teamausrichtung und Problemlösungskapazität
- Herfried Münkler: Disziplinäre Konturen als Voraussetzung interdisziplinärer Kooperation
- Kai-Uwe Schnapp: Wie integriert man ein sich rasant ausdifferenzierendes Fach?
- Manfred G. Schmidt: Alles bestens!
- Monika Oberle: Professionalisierung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre, Verantwortung für die Politische Bildung und Öffentlichkeitswirksamkeit gesellschaftlich bedeutsamer Forschung
- Oscar W. Gabriel: Entbürokratisierung und Bündelung von Ressourcen – Wege zu einer besseren Qualität von Lehre und Forschung
- Sabine Manzel: Mehr „cojones“ und Souveränität in der Politikwissenschaft
- Thorsten Thiel: Die Zukunft der Arbeit – Politikwissenschaft ist auch ein Beruf (Pre-Print PDF)
- Ton Nijhuis: Deutsche Politikwissenschaft – Nationale Tradition und internationale Aufmerksamkeit
- Uwe Jun: Die Faszination des Faches liegt in der Vielfalt
Man darf gespannt sein, welche Wirkung es auf die Kaffeepausen kommender Konferenzen haben wird. Beteiligt Euch gerne auch in den Kommentaren.
Meinungen und Gegenmeinungen wird es immer geben. Es wird wohl kaum vorstellbar,einige Stimmen zu hören.
Es ist wichtig, dass sich die Politikwissenschaft ihrer Disziplin und ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung vergewissert. Es ist ebenso wünschenswert, dass dabei verschiedene Meinungen und (normative) Vorstellungen über das Fach in einen konstruktiven Austausch miteinander geraten. Ich finde es nur schade, dass die Stimmung unter den Studierenden dabei so selten Gehör findet. Als Student der Politikwissenschaft ist es natürlich interessant, die Reflexionen eines Lothar Probst oder Philippe Schmitter über die eigene Disziplin zu lesen. Meist enden diese Reflexionen in den schon oft gehörten Appellen: Die Interdisziplinarität des Fachs steigern, die Kreativtät in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung fördern, sich von quasi-naturwissenschaftlichen Methoden befreien, „out-of-the-box“- Denken etc. . Alles schön und gut. Doch wo sind die Seminare, in denen ich das Handwerkszeug dazu lerne? Das jedes Semester wiederkehrende Prozedere ein oder zwei Hausarbeiten zu schreiben, die am Ende bestenfalls von ein bis zwei Personen mehr oder weniger interessiert gelesen werden, ermutigt nicht gerade zu intensiven, eigenständigen Forschungsarbeiten. Zumal hier zumindest die Drohkulisse exisitert, dass Gedankenexperimente mit schlechten Noten abgestraft werden könnten. Die Selbstsicherheit im Verfassen eigener Gedanken und Argumente gilt es dann in autonom organisierten Seminaren oder außerhalb der Universität zu suchen. Doch das ist ebenfalls zeitintensiv und kollidiert oft mit einem eh schon überfüllten Semesterplan incl. Nebenjob(s).
Jeglicher Idealismus in Ehren: Doch wie kann eine Sensibilität für die gesellschaftliche Bedeutung des eigenen Fachs entstehen, wenn man sich bereits als Student mit der Aussicht auf zukünftige prekäre Arbeitssitutationen einstellen muss? Noch dazu, wenn die eigenen Forschungsinteressen wohlmöglich jenseits des sogenannten „Mainstreams“ liegen.
Meiner Meinung nach sollten die Sorgen, Hoffnungen und Wünsche des politikwissenschaftlichen Nachwuchs in einer internen Selbstreflexion des Faches mehr Gehör finden.
Ich arbeite außerhalb der Sozialwissenschaft, habe aber Politikwissenschaft studiert. Aus meiner sicherlich sehr eingeschränkten Erfahrung kann ich bestätigen, dass die Politikwissenschaft in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wird. Daher habe ich die in der ZPol veröffentlichten Beiträge mit Interesse gelesen. Ich kann erstens unterschreiben, dass diese Gesellschaft immer komplexer wird, Gewissheiten schwinden und die Politisierung zunimmt (so die Herausgeber der ZPol) und zweitens eine Politikwissenschaft wünschenswert ist, die „die politische Urteilskraft“ (Jörge) schärft. Sicherlich bedarf es einer öffentlich sichtbaren Politikwissenschaft, die mit ihrer Vielfalt an Methoden und Theorien gesellschaftlich relevante Themen analysiert, deutet und Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Mir leuchtet nicht ein, warum öffentliche Auftritte von Politikwissenschaftlern im Fernsehen verpönt sind und dieses Feld anscheinend eher Wirtschaftswissenschaftlern und Historikern überlassen wird. Auch ein besonders deutsches Verständnis von Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft ist sicherlich hilfreich, um öffentliche Debatten zu fördern und damit einen Beitrag zur „Weiterentwicklung von Demokratie und Rechtsstaat zu leisten“ (Nijhuis). Meiner Meinung nach sollte man auf die normative Ausrichtung der Politikwissenschaft neben der sicherlich wichtigen, auf Erklärung und Prognose abzielenden empirisch-analytischen Ausrichtung nicht verzichten. Denn eine Politikwissenschaft, die zu Gerechtigkeit und zur guten Ordnung wenig zu sagen weiß, verkümmert genauso wie eine Politikwissenschaft, die nichts erklären würde. Skeptische Blicke auf die Möglichkeiten der Entwicklung und Thematisierung der Situation des Mittelbaus (Thiel) und auf die Sicht der Studenten (auch derjenigen, die sich vom Fach abwenden oder es als „Laberfach“ ansehen) sind notwendig. Letzteres fehlt in der ZPol.
Allerdings fehlen mir (auch) Äußerungen derjenigen Politikwissenschaftler, die der Methoden- und Theorievielfalt skeptisch gegenüberstehen. Auch Politikwissenschaftler, die beispielsweise der Rational-Choice-Richtung angehören, auf mathematische Modelle und Computersimulationen setzen, sich an der amerikanischen Ausrichtung der Politikwissenschaft orientieren oder sich mit Wissenschaftstheorie beschäftigen (und damit vermeintlich weit entfernt von der Analyse gesellschaftlicher Probleme zu sein scheinen), haben vermutlich eine Idee zur Entwicklung des Faches. Diese Ansichten sollten meines Erachtens ebenfalls an prominenter Stelle gehört werden, um die Debatte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und damit zu befruchten. Widersprechen kann dann ja, wer will.