theorieblog.de | Demokratietheorie-Programme und Demokratie-Programme – ein unvermittelter Gegensatz? ZPTh-Replik auf Emanuel Richter

30. November 2016, Heidenreich

Emanuel Richter formuliert in seiner Auseinandersetzung mit meinem Aufsatz sehr grundlegende Einwände gegen meinen Versuch, Rosanvallons Begriff der Gegen-Demokratie auf seine Folgen für die Organisation des Politischen zu befragen. Diese Kritik gibt mir die Gelegenheit, den entscheidenden Punkt meiner Argumentation noch klarer herauszuarbeiten und möglichst präzise zu benennen, inwiefern unsere beiden Perspektiven auf Rosanvallon divergieren.

Zunächst betont Emanuel Richter, er könne meine Einschätzung nicht teilen, die Rezeption Rosanvallons im deutschsprachigen Raum stehe noch am Anfang. Womöglich hätte ich klarer benennen müssen, welche Vergleichsgrößen mir bei dieser Aussage vor Augen standen. Michel Foucault starb 1984 – und noch immer wird jede neue Edition oder Übersetzung seiner Vorlesungen mit Spannung erwartet. Die Regale mit Sekundärliteratur zu Foucault füllen sich beständig; sein Werk ist in aktuellen Debatten (bspw. um die Theorien der individuellen oder kollektiven Subjektivierung) ein beständiger Referenzpunkt; seine Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus hat die Perspektive einer ganzen Generation geprägt. Wie anders indes bei Rosanvallon: Hier wird nicht jedes Manuskript mit großer Akribie bei Suhrkamp verlegt; vielmehr engagiert sich die Hamburger Edition mit großem Einsatz, um zunächst einmal die Hauptwerke auf Deutsch zugänglich zu machen. Gerade im Gegensatz zu den von Emanuel Richter genannten radikaldemokratischen Autoren fehlt Rosanvallon womöglich der radical chic, um eine größere Resonanz zu finden. Umso verdienstvoller scheint mir daher Wim Weymans, Paula Diehls oder eben Daniel Schulz’ Arbeit an der Vermittlung seiner Werke in den deutschsprachigen Raum.

Während die Frage, inwiefern ich mit meiner Einschätzung der Resonanz Rosanvallons im deutschsprachigen Raum danebenliege oder abwegige Vergleichsmaßstäbe heranziehe, eher marginalen Charakter hat, zielt der entscheidende Einwand Richters auf die bei mir nach seiner Einschätzung „unterbelichtet“ gebliebene radikaldemokratische Pointe seines Werkes. Ich werde zunächst versuchen zu rekonstruieren, bis zu welchem Punkt unsere beiden Sichtweisen kongruieren, um dann umso deutlicher benennen zu können, inwiefern sie sich unterscheiden.

Genau wie Emanuel Richter verstehe ich Rosanvallon als einen Autor, der von Antinomien und Spannungen ausgeht, die das Versprechen der Demokratie durchziehen und nie vollends aufgelöst werden können. Das deutlichste Beispiel ist in der Tat der bereits im Begriff der Demokratie vorausgesetzte demos, den wir einerseits immer suchen, bzw. voraussetzen  müssen, andererseits nie abschließend verorten können (vgl. Le peuple introuvable). Auch unsere Vorstellungen politischer Repräsentation lassen sich nie restlos nach einer Seite auflösen. In diesem Sinne lässt sich auch die Dopplung von Demokratie und Gegen-Demokratie als ein paradoxer Anspruch verstehen: Demokratie heißt, dass man (zum Beispiel durch Wahlen oder Abstimmungen) bestimmen kann, was man will und wem man vertraut; Demokratie heißt aber als Gegen-Demokratie auch, dass man (mehr oder weniger abstrakt und unbestimmt) formulieren kann, was man nicht will und wem man in welcher Hinsicht misstraut. Problematisch wird der Umgang mit diesen Antinomien, so verstehe ich Rosanvallon, gerade dann, wenn auf Restlosigkeit, Widerspruchslosigkeit oder Eindeutigkeit abgezielt wird, zum Beispiel im Populismus.

Richter scheint nun den Begriff der Antinomie ganz im Sinne von Kants Kritik der reinen Vernunft als limitierenden Widerspruch oder im Sinne Derridas als Aporie zu verstehen. Dann wäre, wie Richter vorschlägt, Rosanvallon tatsächlich in die Nähe Derridas zu rücken, dessen „démocratie-à-venir“ immer nur als Motor dekonstruktiver Arbeit fungieren kann. Das „gegendemokratische Offenhalten der Verkörperungen von Volkssouveränität unterbricht“ dann, so Richter, jene immer schon irgendwie ideologischen Verkürzungen und Institutionalisierungen, indem es „herrschende Demokratieverständnisse als ideologische Manöver seiner inhaltlichen Festschreibung entlarvt“ (Richter). Aus dieser Perspektive wäre Rosanvallons Ergebnis dann wirklich ein bloß „analytisches Modell zum Verständnis der Demokratie“, das immer nur die „endlose“ und „aussichtslose“ Bemühung dokumentieren kann, in denen die Verwirklichung von Demokratie auf immer nur neue Weise scheitert.

Vielleicht kann man Rosanvallon in diesem Sinne radikaldemokratisch lesen. Gerade der Gestus des Entlarvens, die Rhetorik des Radikalen, das Verharren in bloß skeptischer Befragung scheinen mir indes Rosanvallon fremd zu sein. Einer gerade in Frankreich verbreiteten radikaldemokratischen Denkweise, die ganz im Sinne von Heideggers „Frömmigkeit des Fragens“ jede Antwort verweigert, scheint mir Rosanvallon gerade zu widersprechen. In diesem Sinne habe ich Rosanvallons Begriff der Gegen-Demokratie auch als versteckte Antwort auf Alain Badiou lesbar zu machen versucht. Mir scheint eine Perspektive plausibler, die Rosanvallon eher analog zu Hegel oder Honneth als rekonstruktiven (nicht bloß dekonstruktiven) Autor versteht. Die Antinomien wären dann nicht Endpunkt eines Demokratiebegriffs, sondern (ich meide das Wort Dialektik) vielmehr Motor von Verkörperungen, die zwar unvollendet bleiben, aber deshalb keineswegs unvermeidlich ideologisch sind oder bloß scheitern. Sie können mehr oder weniger produktiv mit den Antinomien umgehen. Es gibt nach meiner Wahrnehmung bei Rosanvallon jedenfalls kein ontologisches Gefälle, bei dem die Emanationen der Demokratie sich in einem platonischen Sinne mit einer „allzu konkretistisch verstanden(en)“ Wirklichkeit kontaminieren. Es geht Rosanvallon nicht nur um „konzeptionelle Skepsis und Zweifel gegenüber verwirklichter Demokratie“; vielmehr deute ich sein großes Interesse an den konkreten Formen von Demokratie und ihrer Geschichte als ein Echo der Hegelschen Kritik an Platon, die so schön in dem Satz auf den Punkt gebracht ist: „Der Schein ist dem Wesen wesentlich.“ Die Organisation/ Institutionalisierung/ Konkretisierung ist der Demokratie wesentlich. Rosanvallon ist nach meiner Lesart ontologischer Katholik, nicht Gnostiker, dóxa ist hier nicht Schein im Sinne von Trug, sondern im Sinne von (mehr oder weniger gelungener) Verwirklichung. Eine „Demokratie jenseits der Formgebung“ (Richter) ist aus dieser Sicht ebenso schwer denkbar wie eine Demokratie „jenseits der Organisation des Politischen“ (Richter). There is a lot of „jenseits“ going on here!, würden unsere angelsächsischen Kollegen womöglich einwenden. Ich verstehe Rosanvallon als Immanenzdenker; nicht als einen radikaldemokratischen Theoretiker, der auf die radix der demokratischen Volkssouveränität verweist, um die Blüten als ideologisch, erstarrt oder verkürzt zu entlarven. In diesem Sinne war der Titel meines Aufsatzes als bewusste Provokation gemeint: Gegen ein Denken des Politischen, das die Formgebung immer nur als das Andere der Demokratie denken kann.

Diese Differenz wird vielleicht am Beispiel des Rechts deutlich. Richter betont, dass die vom Bürgertum gegenüber dem Adel erkämpfte Rechtsstaatlichkeit und die individuellen Abwehrrechte selbst schon als Ausdruck der Volkssouveränität zu deuten seien. Richter schreibt: „Die erstrittene Rechtsförmigkeit politischer Teilhabe kann nur als eine Manifestationsform der Volkssouveränität begriffen werden, nicht als eine vorpolitische Gegebenheit.“ Richter hat hier, wo das Recht als Medium der Teilhabe akzentuiert wird, die republikanische Tradition vor Augen. Mir ging es gerade darum, die liberale Denkweise in Erinnerung zu rufen. Denn kennzeichnend für den Naturrechtsdiskurs ist ja gerade, dass das Bürgertum die Schutzrechte als unverbrüchlich, gott- oder naturgegeben, also vorpolitisch reklamiert. Eine derartig starke Manifestationsform setzt der Volkssouveränität wiederum Grenzen. Vor allem aber – und darin scheint mir der Kern der Differenz zu liegen – kann man dann im kodifizierten Recht mehr sehen als die Gefahr, „in eine zu starre Formgebung der Demokratie“ (Richter) abzugleiten. Der Schwungrad-Effekt des Rechts, die Tatsache, dass den Autoren von Verfassungen und Grundrechtskatalogen die Implikationen ihrer Formulierungen gar nicht vollends vor Augen stehen, ist ja nicht nur eine Gefährdung der Demokratie, sondern hat sich in vielen Fällen auch als ein dynamisierendes Element für Demokratisierungsprozesse erwiesen. Recht als Verkörperung ist nicht an sich defizitär, droht nicht nur „abzugleiten“, sondern kann das Verständnis dessen, was es ausdrücken soll, durchaus verändern. In diesem Sinne ist die Gegen-Demokratie nach meinem Verständnis auch keineswegs eine primär positiv konnotierte Befragung von etablierten Demokratieformen; sie operiert selbst in oft sehr wohl institutionell etablierten Bahnen, nicht als Gegenteil der Demokratie, sondern als ein spezifischer Modus, der nicht nur Recht befragt, sondern selbst oft durch Recht ermöglicht wird.

Vielleicht sind unsere beiden Lesart jedoch auch nicht so weit voneinander entfernt, wie es in dieser Zuspitzung scheinen mag. Richter selbst schreibt, es gehe Rosanvallon darum, „wie man die demokratischen Qualitäten der bestehenden Organisationsformen von politischer Willensbildung erfassen“ könne (meine Hervorhebung). Das klingt nun beinahe nach Hegels Suchauftrag, das Vernünftige im Wirklichen zu finden. Daraus ergibt sich aus meiner Perspektive dann aber auch, dass Rosanvallons „generalistische Betrachtung der Demokratie“ gerade nicht auf „der Ebene der analytischen Betrachtung verharrt“, sondern eben (um Richters Formulierung aufzugreifen) „Qualität“ benennen können muss. Die Einschätzung, hier gehe es nur um Analyse, scheint mir nicht nur bezogen auf Rosanvallons Person falsch; dieser engagiert sich vielfältig und stellt dabei selbst Bezüge zwischen Projekten wie raconterlavie.fr und seiner narrativen Methode her. Auch enthält Le bon gouvernement sehr konkrete Vorschläge zur Neugestaltung von Institutionen. Nein, vielmehr schiene mir eine völlige Trennung zwischen „Deutung und Erklärung“ (Richter) und konkreten Schlüssen fragwürdig. Ohne uralte Debatten über die Wertfreiheit der Wissenschaft oder den Sprechaktcharakter von Theorien aufwärmen zu wollen, würde ich erwidern: Eine gelingende Deutung und Erklärung eröffnet doch gerade den Möglichkeitshorizont für politische Gestaltung – durch wen auch immer. Natürlich liefert Rosanvallon keine fertige Theorie, die dann nur noch top-down zur Anwendung gebracht werden muss. Er ist kein konstruktiver Theoretiker wie bspw. Rawls. Aber daraus folgt aus meiner Sicht nicht, dass er „kein normatives Demokratiekonzept“ (Richter) hat; sonst könnte er auch gar nicht von „Pathologien“ sprechen, als die er beispielsweise den Populismus beschreibt. Aus dem Nebeneinander von Demokratietheorie-Programm und Demokratieprogramm einen unvermittelten Gegensatz zu machen, leuchtet mir, bei aller Skepsis gegenüber Kurzschlüssen, nicht ein. Dass diese beiden Dimensionen gerade bei Rosanvallon intensiv kommunizieren, scheint mir völlig evident, dass man diesen Wechselwirkungen auch über Rosanvallons eigene Arbeiten hinaus nachforscht, legitim.

Vor diesem Hintergrund möchte ich auch die These verteidigen, dass man Rosanvallons Unterscheidungen für die Analyse politischer Parteien fruchtbar machen kann, auch wenn ich diese Frage in meinem Aufsatz zugegebenermaßen nur anschneiden konnte. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um eine unzulässige konkretistische Verkürzung handelt. Warum Rosanvallon dies selbst nicht leistet, kann ich nur vermuten; womöglich bieten die ihm offenbar in erster Linie vor Augen stehenden Beispiele aus Frankreich und den USA nicht genug Material für eine Analyse gegen-demokratischer Prozesse in Parteien. Dass Rosanvallons Verabschiedung politischer Parteien beziehungsweise seine Vermeidung des Themas „nur konsequent“ (Richter) seien, leuchtet mir jedenfalls nicht ein. Vielmehr scheinen es eher kontingente Umstände zu sein, die dieses Thema bisher aus dem Fokus geraten ließen. Vor diesem Hintergrund ging es mir auch darum zu zeigen, dass man Rosanvallons Werk vielleicht dadurch gerecht werden kann, dass man – man verzeihe mir die implikationsreiche Leitmetapher – mit seinem „Instrumentenkoffer“ (Richter) auf „Baustellen“ geht, die Rosanvallon selbst, zumindest in den letzten Jahren, nicht besucht hat.

Felix Heidenreich ist Wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart. Er arbeitet zu Politischer Theorie, Kulturphilosophie, Kulturpolitik und Wirtschaftsethik.

 

Änderung (30.11.2016): Im zweiten Abschnitt des Beitrags wurde das Wort „Nachlassmanuskript“ durch „Manuskript“ ersetzt.


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