Das Bedürfnis der Sozialkritik: Franck Fischbachs „Manifest für eine Sozialphilosophie“

Cover Fischbach (c) Transcript VerlagAuf Seite der „Beherrschten“ (71) manifestiert sich im neoliberalen Zeitalter mehr und mehr das Bedürfnis einer eingreifenden Sozialkritik – das ist die wunderbar konkrete und parteiische Motivation, die Franck Fischbachs  Manifest für eine Sozialphilosophie (jüngst auf Deutsch erschienen) konsequent antreibt (10, 17). Fischbach versucht hier die Sozialphilosophie als einen selbstbewussten und eigenständigen Diskurs der praktischen Philosophie zu etablieren, der dieses kritische Bedürfnisses reflexiv begleiten soll. Das Provokante dieses Versuches ist nun, dass er systematisch gegen die als hegemonial empfundene „klassische“ bzw. liberale politische Philosophie (bes. Rawls) gerichtet ist: Ihr Fokus auf die normativen Grundlagen einer gerechten politischen Ordnung produziere nämlich einen Begriff des Politischen, der letztlich apolitisch bleibt, weil er nicht das Soziale als einen „gespaltene[n] und grundsätzlich konfliktuelle[n] Raum“ (12) in den Blick bekommt, in dem jeder Impuls der Kritik jedoch operiert. Auf diese „Konfliktualität“ (87) insistiert dagegen Fischbach! Dadurch gibt er der Kritik ihre nötige Arena. Aber unterbestimmt bleibt dabei, wie sie dann in dieser Arena wiederum philosophisch und gesellschaftstheoretisch fundiert bzw. verortet werden soll.

Bevor Fischbach konfrontativ gegen diejenige politische Philosophie vorgeht, die s.E. die praktische Philosophie in Frankreich heute weitestgehend beherrscht, betätigt er sich versuchsweise als Wissenschaftshistoriker, der die bisherige Marginalität der Sozialphilosophie innerhalb der französischen Academia erklären möchte (Kap. 1). Während zu Zeiten der Revolution Begriff und Programm einer Sozialphilosophie zirkulierten, hätte sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts, so Fischbach, innerhalb der Philosophie eine introspektive „Reflexionsphilosophie“ (25) durchgesetzt und das politische Anliegen einer Reflexion des Sozialen verdrängt. Die Soziologie hingegen hat seit ihren durkheimschen Anfängen eine philosophische Behandlung des Sozialen als unwissenschaftlich verächtlich gemacht und sich in ihrem Selbstverständnis geradezu antiphilosophisch konstituiert. Im Groben trifft Fischbachs Bild von der Sozialphilosophie als einem disziplinär nirgends wirklich anerkannten Diskurs durchaus zu. Doch andererseits betätigte sich Durkheim selbst quasi als Sozialphilosoph, wie ja auch Fischbach bemerkt (26, 28). Und was ist bspw. mit der ganzen Tradition des Solidarismus (31 ff)? Sicher, hier begegnet uns noch nicht eine französische Sozialphilosophie mit dem spezifisch kritischen Gepräge, das Fischbach intendiert. Aber spätestens eine Figur wie Sartre verweist doch auf einen überaus einflussreichen französischen Ansatz einer kritischen Sozialphilosophie! Insgesamt schwächelt Fischbachs wissenschaftshistorischer Vorlauf deutlich, da er zu selektiv, ungereimt und oberflächlich ausfällt und ihm zudem eine ganz spezifische Vorstellung von Sozialphilosophie zu Grunde liegt, die selbst an dieser Stelle noch keineswegs geklärt ist.

Weitaus ergiebiger ist dagegen Fischbachs Kritik an der zeitgenössischen liberalen politischen Philosophie, durch die er seine Idee einer Sozialphilosophie konturiert (Kap. 2) – auch wenn hier nicht jeder Punkt überzeugt. So beurteilt Fischbach die universalistisch begründeten Prinzipien politischer Gerechtigkeit und die deontologische Moral der Diskursethik als unbrauchbar für das Unterfangen der Sozialkritik, wenn sie nicht sogar als die philosophischen Komplizen neoliberaler „Gegenreformen“ zu bezeichnen sind (9 ff, 39). Hier reproduziert Fischbach die gängige Karikatur einer Normativität des politischen Liberalismus, welche in ihrem abstrakten Formalismus gleichgültig bleibe gegenüber den konkreten gesellschaftlichen Leidens- und Entfremdungserfahrungen und letztlich nur auf die Affirmation einer formal einwandfreien Rechtsordnung hinausliefe. Doch ein solches Zerrbild verkennt die egalitären Implikationen, die sowohl die Diskursethik als auch Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie für bspw. auch sozioökonomische Praxiszusammenhänge hat – eine Affirmation kapitalistischer Herrschafts-, Ausbeutungs- und damit auch Entfremdungsverhältnisse ist damit zumindest nicht zu haben!

Zum anderen scheint die Abkopplung der Sozialkritik von der Normativität des politischen Liberalismus eher auf eine normative Schwächung der Sozialkritik hinauszulaufen, als auf ihre Stärkung. Fischbach will anstatt von abstrakten Prinzipien politischer Gerechtigkeit lieber von einer „sozialen“ Normativität ausgehen, die direkt in den sozialen Leidenserfahrungen impliziert sei und sich in der intuitiven Erwartung eines nicht-pathologischen, „gelingenden“ und „guten Lebens“ ausdrückt (8, 14 ff, 129 ff). Aber „gelingt“ nicht oft genug ein Leben auch „unterhalb“ eines liberal-egalitären Settings, das dem politischen Liberalismus nach eine gerechte normative Ordnung definiert? Unterbietet die Forderung des „guten Lebens“ nicht die deontologische Moral der Diskursethik? Hinsichtlich ihrer normativen Ansprüchlichkeit scheint eine Orientierung der Sozialkritik an der Normativität, die die liberale politische Philosophie aus dem Geltungshorizont der bürgerlichen Moderne gewissermaßen rekonstruiert, nach wie vor durchaus gewinnbringend zu sein.

Doch die Verwerfung jener universalistischen Normativität ist nicht das Entscheidende in Fischbachs Kritik der liberalen politischen Philosophie. Die Hauptkritik zielt auf den Begriff des Politischen, den diese Tradition hervorbringt (Kap. 2). Dieser purifiziere nämlich die politische Sphäre zu einem abstrakten Formalismus der Legitimation und gehe damit über die Melange widerstreitender Gruppen, Interessen und Ziele hinweg, die Inhalt und Stoff der Politik eigentlich erst ausmachen. Der liberale Begriff des Politischen erweist sich in Fischbachs Sicht als ganz und gar apolitisch, weil er sich durch seinen abstrakten Universalismus gewissermaßen davor abschirmt, in das Handgemenge der realen politischen Auseinandersetzungen hinabzusteigen (12, 50) – zu denken ist hier an Rawls‘ Model einer „original position“, in der die gesellschaftlichen Subjekte unter Ausblendung ihrer empirischen Subjektivität, d.h. als reine, fleischlose Vernunftwesen ihren Nomos konstituieren  (49 f). Fischbachs Einsatz besteht nun darin, das Politische auf den historisch konkreten Raum des Sozialen rückzuführen, es also auf die Arena zu verweisen, in der partikulare gesellschaftliche Subjekte in prinzipiell ständigen Konfrontationen um das politische Wollen und Sollen kämpfen (46 ff).

Fischbach legt das Soziale als kontestativen Raum des Politischen, in dem dieses eigentlich erst seinen politischen Charakter erhält, mit besonderer Nachdrücklichkeit frei. Das Konfliktuelle ist ihm so wichtig, weil aus seinem Bewusstsein heraus überhaupt erst der Grundimpuls der Sozialkritik hervorgeht. Es ist die Einsatzstelle der Kritik: Erst wenn wir das Soziale als Raum widerstreitender Absichten und Standpunkte wahrzunehmen lernen, können wir den Schein der Interessenharmonie durchbrechen und die bestehenden asymmetrischen und exploitativen Gefüge in den Blick nehmen und attackieren. Und wie stark ein solcher Schein das Alltagsbewusstsein zu okkupieren versucht, zeigt Fischbach sehr eindringlich am Begriff des Sozialen selbst bzw. an seiner Entpolitisierung in den Diskursen um die „soziale Frage“: Das Soziale erscheint hier als „Fürsorge“ (94) für die „nun mal“ Armen und Schwachen, wo die Option des Klassenkampfes ideologisch exorziert wurde (Kap. 4 und 5).

Indem Fischbach den Raum des Sozialen als kontestatives Feld fokussiert, verleiht er einer Sozialphilosophie, die sich dem Bedürfnis der Kritik verschrieben hat, ihre aller grundlegendste gedankliche Basis. Dies ist die große Stärke seines Manifests! Jedoch ist dadurch, dass die Sozialkritik als Operation in jenem kontestativen Feld gedacht wird, der Problemhorizont einer kritischen Sozialphilosophie erst eröffnet. Es schließen sich an den konflikttheoretischen Ausgangspunkt theoretische Herausforderungen an, auf die Fischbach kaum eine Antwort jenseits lehrbuchmäßiger Standardformeln bietet (vgl. 57 ff, 61 ff, 64 ff). Eine kritische Sozialphilosophie soll nach Fischbach in das Handgemenge des Sozialen eingreifen und sich parteiisch auf die Seite der Beherrschten stellen, ihren Kampf artikulieren und reflexiv voranbringen (49, 70 ff). Aber wie vollzieht und begründet sie ihre Parteinahme? Anhand welcher Maßstäbe weist sie gesellschaftliche „Pathologien“ (63) auf und was sind die evaluativen Kriterien ihrer Kritik? Schließlich: Wie verhält sich diese Kritik zur hegemonialen gesellschaftlichen Ordnung und in welchen Praxiszusammenhängen erkennt sie die Voraussetzungen ihrer eigenen kritischen Existenz?

Fischbach orientiert sich hinsichtlich derartiger Fragen allzu vage an der deutschen Tradition einer linkshegelianischen Sozialphilosophie – Marx, Horkheimer, Adorno und Honneth sind hier v.a. die Referenzen (57 ff, 61 ff, 64 ff). In dieser Linie versucht man das Dezisionsproblem der politischen Parteinahme, in das gerade Fischbach den Ansatz einer Sozialphilosophie unweigerlich bringt, durch einen Begriff gesellschaftlich verkörperter Vernunft zu lösen: Innerhalb der gegebenen soziohistorischen Verhältnisse findet sich, so die hier geteilte Annahme, mindestens keimhaft ein ambitionierter praktischer Vernunftanspruch, den die Sozialkritik gegen seine herrschenden Verkürzungen mobilisieren kann. Die Parteinahme für diese oder jene subalterne Gruppe vermag sich dann als „Parteilichkeit der Vernunft“ (Habermas) zu begründen – eine emanzipatorischer Maßstab, der in Zeiten, in denen Subalterne ihre Erwartungen an ein „gelingendes“ und „gutes Leben“ zunehmend regressiv definieren, besondere Wichtigkeit besitzt. Und zudem kann sich so der Impuls der Sozialkritik, den die Sozialphilosophie aufgreift und fortsetzt, als Teil einer rationalen Lebenspraxis seiner eigenen Verortung vergewissern.

Doch Fischbach bringt einen solchen Begriff gesellschaftlich verkörperter Vernunft nur beiläufig zur Sprache, ohne ihn selbst eingehender zu klären, geschweige denn mit seiner Vorstellung von Parteilichkeit zu verbinden (49, 64 ff). Zur bloß angerissenen Vernunftkonzeption im Grunde unvermittelt, überwiegt in seinem Manifest ein polemologisches Paradigma gesellschaftlicher „Konfliktualität“, innerhalb der er keine wirkliche rationale Positionierung anzupeilen weiß (127 ff). Aber ohne eine solche Rationalität lässt sich Kritik als begründetes Unternehmen gar nicht vollziehen. Fischbachs Manifest lokalisiert das Bedürfnis der Sozialkritik innerhalb der Gemengelage gesellschaftlicher „Konfliktualität“ und macht es damit der Sozialphilosophie als je wirkliches, real erzeugtes Bedürfnis zum Thema. Aber er lässt es in jener politischen Konfliktkonstellation dann wiederum unbefriedigt und ohne argumentative Handhabe stehen, weil ihm ein zureichend artikulierter Begriff gesellschaftlich verkörperter Vernunft fehlt.

 

Fischbach, Franck: Manifest für eine Sozialphilosophie. Aus dem Französischen von Lilian Peter. Bielefeld. Transcript 2016. 153 Seiten.

 

Victor Kempf ist Doktorand am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main und wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Exzellenzcluster Normative Orders. Seine Dissertation beschäftigt sich mit Perspektiven der Kapitalismuskritik bei Marx und im Operaismus sowie in der Anerkennungstheorie (Honneth).

2 Kommentare zu “Das Bedürfnis der Sozialkritik: Franck Fischbachs „Manifest für eine Sozialphilosophie“

  1. || Zur bloß angerissenen Vernunftkonzeption im Grunde unvermittelt, überwiegt in seinem Manifest ein polemologisches Paradigma gesellschaftlicher „Konfliktualität“, innerhalb der er keine wirkliche rationale Positionierung anzupeilen weiß (127 ff). ||

    Innerhalb von Konflikt(ualität)en keine wirkliche rationale Positionierung anzupeilen zu wissen/zu können, ist doch das inhärente Kennzeichen des Konfligierens in seiner offenen und unbefriedeten, nur wenig eingehegten Form, – die wiederum Voraussetzung politischer Per- u. Rezeption ist (Aufmerksamkeit, Persistenz, Gefahren & Schäden -> Bedeutung usw.)
    Sobald eine „wirkliche rationale Positionierung“ möglich ist, verschwindet ein Konflikt, – es sei denn, man unterstelle, daß die herrschenden Konflikte lediglich auf Unverständnis, Unkenntnis, Ignoranz, Dummheit, gegenüber der „wirklich rationalen Position“, also auf etwas Irrationalem, beruhten. Zwar kann man je unendliche Geschichten über das Irrationale in den Konflikte berichten, – aber das gilt ja für alle, auch die eher konfliktlosen, Sphären des Menschlichen. Und spätestens mit dem „Interesse“ hält etwas Einzug in die aufgeklärte Vernunft, das nicht völlig in Vernunft aufgelöst werden kann bzw. NICHT zugleich als vernünftig UND letztbegründet darstellbar ist, weswegen es für manche Konflikte eben auch kaum eine universal gültige Rationalposition gibt.

    Zu solchen Konflikten steht nur noch die Transzendentalpragmatik unter dem Persistenzialparadigma als „Universalie“ über den Konfliktparteien, – wenn auch um den Preis, damit nicht alle, einst unter den Überansprüchen von Aufklärung und Bürgertum aufs Schild gehobenen „universellen Rechte“ als Universalien (wohl aber als berechtigte Partikularitäten) beibehalten zu können -, von wo aus aber letztlich nahezu alle Konflikte, auch solcher der transzendalen Art, befriedet/geklärt werden können.

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