theorieblog.de | Kein „Dampfbad des Volksempfindens“. Bericht zur Tagung „Liberalismus – Traditionen, Konstellationen, Ausblicke“ (LMU München, 16.–18. März 2016)

21. Juli 2016, Häger

Das „21. Jahrhundert“, so die Prognose des Ideenhistorikers Panajotis Kondylis, wird „die Abschaffung des Liberalismus bedeuten.“ Die Äußerung gewinnt an Geltung. Gerade in einer Zeit, in der das Liberale im „Dampfbad des Volksempfindens“ (Dahrendorf) zu versiegen droht; in der Menschen wieder nach Heimat und nationalem Zusammenhalt begehren; in der die Sehnsucht nach der homogenen Gemeinschaft Einzug hält – dem, was Émile Durkheim „mechanische Solidarität“ nannte – und in der mit Nationalfahnen nicht nur Fußballfröhlichkeit, sondern Fremdenfeindlichkeit demonstriert wird.

Möglicherweise war es eine derartige Impression, aus der heraus es den Veranstaltern Karsten Fischer (LMU München) und Sebastian Huhnholz (LMU München) geboten schien, zum Thema Liberalismus – Traditionen, Konstellationen, Ausblicke einzuladen. Diese Vermutung sei erlaubt, diagnostizierte doch Huhnholz zum Auftakt der Tagung: Gegenwärtig gebe es keinen liberalen Topos, der sich nicht Zweifeln an seiner Funktionalität und Integrität ausgesetzt sehe. Der Liberalismus avanciere zum Sündenbock, zur nahezu beliebigen Projektionsfläche wutbürgerlicher Frustration wie eines gesellschaftlichen Unbehagens überhaupt. Entsprechend würde auch auf verschiedenen Theorieebenen eine Vielzahl an Kritiken laut, die Grundsätzliches gegen den Liberalismus in Stellung bringen. Und angesichts der aufgeheizten Stimmung sei es angebracht, aus diesem „Dampfbad“ auszusteigen und die Frage zu stellen, was Liberalismus ist.

Die Tagung nahm diese Frage anhand von Vorträgen zur liberalen Denktradition, zu den Konfliktlagen, in denen sich der Liberalismus in der Moderne wiederfindet, sowie zu dessen Verhältnis zum Neoliberalismus und zum Feminismus in den Blick. Eine kleine Auswahl der Vorträge, die an zwei Veranstaltungsorten, der Carl Friedrich von Siemens Stiftung und der Ludwig-Maximilians-Universität, gehalten wurden, werden im Folgenden ausführlicher dargestellt.

Michael Schefczyk (Karlsruher Institut für Technologie) sprach zum Denken John Stuart Mills. In geradezu frappierender Weise spreche Mill von den Fragen unserer heutigen Zeit. Eine solche Frage sei, wie wirtschaftliche und politische Freiheit zueinander in Beziehung stehen. Derzeit würde strikt zwischen politischem und wirtschaftlichem Liberalismus getrennt; erstgenannter erfreue sich weitgehender Zustimmung, letztgenannter werde argwöhnisch beäugt. Im Lichte dieses Schismas könne auch Mill gelesen werden; einmal als der Denker, der gemeinsam mit seiner Frau Harriet das Freiheitsprinzip verteidige, und dementgegen als der Autor, der mit seiner Theorie liberaler Wirtschaftspolitik dem Laissez-faire-Prinzip und dem Erwerb materieller Vorteile das Wort rede. Mit einer solchen Lesart werde es denkbar, Mills politischem Liberalismus beizupflichten und zugleich seinen Wirtschaftsliberalismus argwöhnisch zu betrachten, was ins aktuell zu beobachtende Schisma passe. Gegen eine solche Lesart wandte Schefczyk ein: Mill fasse nicht beide Spielarten des Liberalismus unabhängig voneinander, vielmehr impliziere nach ihm der politische Liberalismus den Wirtschaftsliberalismus. Das Prinzip individueller Freiheit, das im Interesse des Menschen als eines entwicklungsfähigen Wesens gründe, erstrecke sich auf alle Formen menschlicher Interaktion und somit auch auf das Wirtschaften, also auf die Produktion, die Verteilung und den Austausch von Wohlstand. Aus diesem Grund finde sich bei Mill der Gedankengang, dass auf einer gewissen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstufe, nämlich genau dann, wenn eines verheißungsvollen Tages Zentralverwaltungswirtschaften höhere Wachstumsraten erzielen und so das Ziel der Wirtschaftspolitik ergiebiger erfüllen könnten als liberale Marktwirtschaften, politisch dennoch wirtschaftliche Freiheit gewährt werden müsse.

Jens Hacke (Hamburger Institut für Sozialforschung) stellte mit seinem Vortrag, die „hellere Seite“ der Weimarer Republik heraus. Gefragt wurde titelgebend nach der Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus? Sollte dieser Geist mit ideengeschichtlichen Traditionsangeboten in Verbindung stehen, so die gegebene Antwort, dann müsse dieser Geist von den „helleren“ Aspekten des demokratischen Liberalismus der Weimarer Zeit genährt sein. Die Auseinandersetzung mit Weimar, der Zwischenkriegszeit und der sich darin vollziehenden Krise des Liberalismus gebe zwar keine Patentrezepte an die Hand, aber immerhin Hinweise auf bestimmte Kennzeichen liberalen Denkens, die seither in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt seien. Und derlei Kennzeichen gebe es mindestens vier. Mit Blick auf Weimar ließe sich zunächst zeigen, dass spannungsgeladener Pluralismus konstitutiv für liberales Denken ist. Ein solches Denken sei daher nur als Einheit konkurrierender Liberalismen zu begreifen. Von hier leitete Hacke ein zweites Kennzeichen ab, nämlich die Unausweichlichkeit, die wirtschaftliche Ordnung als „mixed market economy“ zu begreifen und als politisch gestaltbar zu denken. Ein naturreiner Kapitalismus komme für Liberale nicht in Betracht. Drittens hätten die Liberalen der Zwischenkriegszeit dafür gestritten, ideologische Vorstöße zu einer geschlossenen unfreien Gesellschaft abzuwehren und die Gesellschaft offener zu machen. Schließlich sei man sich zur Weimarer Zeit auf liberaler Seite darüber im Klaren gewesen, dass Demokratie nur als repräsentative und damit liberale Demokratie praktikabel sei. Dass eine eindimensionale Thematisierung der Demokratie ohne implizierte liberale Idee dazu tendiere, in die Sogwirkung des Autoritären zu geraten, sei eine Erkenntnis, die die Liberalen jener Zeit durch ihre Auseinandersetzung mit dem Faschismus gewonnen hätten. Auch heute seien diese vier Kennzeichen für liberales Denken wichtig und könnten auch, so Hacke vorsichtig, für den bundesrepublikanischen Geist des Liberalismus konstitutiv gewesen sein.

Bevor Jürgen Habermas leibhaftig auf der Tagung zugegen war, im Auditorium Platz nahm und Beiträge zum Verhältnis von Liberalismus und Religion verfolgte, thematisierte ihn Matthias Hansl (LMU München) im Vortrag Spuren eines gehaltvollen Liberalismus in der Ideengeschichte der BRD: Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas. Was sich beim Vergleich der beiden bundesrepublikanischen Intellektuellen zeige, sei bei aller Differenz ein Zusteuern ihrer Konzepte in den 1970er und 1980er Jahren auf einen „gehaltvollen Liberalismus“. Zunächst schärfte Hansl den von ihm prononcierten Begriff, indem er marktfreundlichen Neoliberalismus, reformunwilligen Liberalkonservatismus und technokratischen Konservatismus als Antipoden eines „gehaltvollen Liberalismus“ vorstellte. Weitere Konturen gewinne ein solcher Liberalismus zudem durch zweierlei: zum einen durch Ermunterung der Staatsbürger zu mehr politischem Widerspruch in den Routinen einer bürokratischen Megamaschine; zum anderen durch Rückbindung von Demokratisierung und Politisierung an einen universalistischen Sozialcharakter. Insbesondere im kollektiven Taumel der deutschen Wiedervereinigung sei nun der „gehaltvolle Liberalismus“ von Dahrendorf und Habermas hervorgetreten. Angesichts zunehmender populistischer Anfeindungen der liberalen Demokratie hätten beide ihr Augenmerk auf den Rechtsstaat verlagert und dem nationalen Taumel ein auf den Rechtsstaat verpflichtetes „Vorwärtsverteidigen des Kantischen Aufklärungsideals“ entgegengehalten. Erinnert wurde in diesem Zusammenhang auch an den von Habermas im Einigungsjahr geforderten europäischen Verfassungspatriotismus, womit die Hoffnung auf Ausbreitung eines integrationsfreundlichen und universalistischen Sozialcharakters in den europäischen Mitgliedsstaaten verbunden gewesen sei. Dass eine solche Hoffnung, so unterstrich Hansl abschließend mit Worten Dahrendorfs und mit Blick auf Tagespolitisches, derzeit im „Dampfbad des Volksempfindens“ aufgelöst werde, sei bedauerlich.

Cornelia Klinger (Universität Tübingen) referierte unter dem Titel Weder eine neue Ehe noch eine „perverse Wahlverwandtschaft“. Über die „List der Geschichte“ im Verhältnis von Neoliberalismus und Postfeminismus. Angeknüpft wurde an den von Klinger bereits in den 1990er Jahren formulierten Gedankengang, der Feminismus sei in seiner Geschichte verschiedene Ehen mit unterschiedlichen Partnern wie Liberalismus, Marxismus und Postmoderne eingegangen. Heute seien diese einstigen Ehepartner allesamt verstorben. Doch zeichne sich ein neuer Verbündeter ab, der Neoliberalismus. Es gebe eine Verbindung zwischen Feminismus und Neoliberalismus, so die These, nämlich das Bekämpfen der bürgerlichen Geschlechterordnung. Situiert sei diese Geschlechterordnung in einer Sphärentrennung, die mit dem Gegensatz öffentlich und privat oder auch System und Lebenswelt angezeigt werden könne. Durch die Sphärentrennung sei stets ein Bereich des Lebens vorhanden gewesen, der von dem systemischen Betrieb weitgehend verschont geblieben sei. Damit sei aber auch eine Segregation der Frau einhergegangen. Der Neoliberalismus nun pulverisiere jegliche Sphärentrennung, wodurch Frauen Emanzipationsgewinne erfahren. So habe beispielgebend die Hausfrau die Chance, außerhalb des Hauses arbeiten zu können, als Befreiung erlebt, ungeachtet des oft oppressiven Charakters der ihr angebotenen Stelle. Auf diesem Argumentationspfad ließ Klinger am Ende ihres Vortrages noch eine äußerst skeptische Prognose verlauten: Alle Emanzipationsbewegungen könnten vermutlich gerade nur bis zu jenem Punkt vorstoßen, wo sie mit der Entwicklung der systemischen Struktur des Kapitalismus konvergieren.

Der Liberalismus, so lässt sich das Fazit der Tagung ziehen, weist keine eindeutige Essenz auf, weshalb in jeweiligen Konstellationen und Konfliktlagen immer wieder aufs Neue diskursiv bestimmt wurde, wird und werden muss, was liberal bedeutet. Die Frage, was Liberalismus ist, ist also eine komplexe und die Münchener Tagung entließ die TeilnehmerInnen mit einem regelrechten Kosmos von Antwortmöglichkeiten und Anschlussfragen im Kopf. In Anbetracht gegenwärtiger populistischer Stimmungen, wo allzu eilig auf unzweideutig Eindeutiges reduziert und allem Mehrdeutigen der Kampf angesagt wird, ist das ein ebenso wichtiger wie nützlicher Ertrag.

 

André Häger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Politische Theorie und Ideengeschichte des Instituts für Politikwissenschaft & Japanologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er hat seine Dissertation zu Leben und Werk des französischen Sozialphilosophen André Gorz verfasst und forscht derzeit über Panajotis Kondylis. Eine umfassendere Fassung der vorstehenden Besprechung erscheint in der Zeitschrift für Politische Theorie.


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