Alternative für Deutschland: Gescheiterter Konservatismus

Die AfD will mehr als reine Protestpartei sein. Deshalb fischt sie nicht nur in den Gewässern der radikalen Rechten, sondern wildert auch in den Gefilden der Mitte. Sie stellt sich dafür als konservative Partei dar. Grund genug, das Bild gerade zu rücken.

Die Rechte hat immer wieder versucht, den Konservatismus für sich zu vereinnahmen. Der politischen Linken kam das meist nicht ungelegen. In der Konsequenz wurde Konservatismus mit Nationalismus, Kapitalismus, sozialer Ungleichheit, Volkstümelei oder dem Glauben an eine göttlich vorgegebene Ordnung verbunden. In der Vergangenheit hat der Konservatismus durchaus solche Positionen gestützt. Die institutionellen Ordnungen waren (und sind ja zum Teil noch heute) national, kapitalistisch, ständisch, ethnisch oder religiös ausgestaltet. Ein innerer Zusammenhang zwischen Konservatismus und solchen historisch-kontingenten Formen institutioneller Ordnung besteht indes nicht. Denn Konservatismus steht quer zu inhaltlichen gestaltungspolitischen Ansichten. Er ist der Gegenpart zum Radikalismus.

Selbstredend kann man Konservatismus auf ganz unterschiedliche Weise definieren. Herangehensweisen, die sich von der Begriffsverwendung leiten lassen, sind jedoch ebenso problematisch wie populär. Wie J.G.A. Pocock feststellte, ist es ideengeschichtlich nicht möglich, eine einheitliche Doktrin des Konservatismus auszumachen, weil „zu viele Geister aus zu vielen Gründen versucht haben, zu viele Dinge zu erhalten“. Darüber, dass die Gegner der Französischen Revolution den Begriff des Konservatismus für sich beanspruchten, vergisst man beispielsweise leicht, dass die Befürworter der Revolution ihrerseits bereits seit 1789 eine Bewahrung der revolutionären Errungenschaften unter dem Begriff des Konservativen eingefordert hatten. Vor allem aber kann die (Ideen- und Real-) Geschichte nicht nur eine Unzahl von verwegenen Vereinnahmungsversuchen vorweisen, sondern auch kreative Abgrenzungsbemühungen (z.B. Friedrich August von Hayeks „Why I am not a conservative“). Wenn man Konservatismus nicht als Oberbegriff für einen bunten Strauß disparater politischer Ideologien ausgeben möchte, ist man also gezwungen, begriffsgeschichtlich selektiv vorgehen. Einiges spricht deshalb dafür stattdessen mit einer Reflexion darüber zu beginnen, wie sich eine analytisch distinkte politische Theorie überhaupt ausnehmen kann, die „Erhaltung“ zum Programm erhebt. Denn an der Wortbedeutung wollen ja selbst jene festhalten, die den Begriff des Konservativen in sein Gegenteil verdrehen.

Verstanden als eine politische Theorie der Erhaltung lässt sich Konservatismus so denn vor allem auf zwei Arten konzipieren: adjektivisch und nominal. Die adjektivische Variante begründet eine Politik der Vorsicht. Sie formuliert einen Vorbehalt gegen die Einführung radikaler Neuerungen in die bestehende institutionelle Ordnung, worauf diese Neuerungen auch immer abzielen mögen. Konservative dieser Variante sind konservative Liberale, Grüne, Sozial- oder Christdemokraten. Sie verfolgen ihre inhaltlichen gestaltungspolitischen Ansichten, agieren aber risikoavers, weil sie potentielle Wohlfahrtsverluste systematisch größer als potenzielle Wohlfahrtsgewinne bewerten. Begründen lässt sich diese Haltung über den Mangel an Gewissheit hinsichtlich erstrebenswerter Ziele und geeigneter Mittel in der Politik sowie über die Ungewissheit hinsichtlich funktionaler Interdependenzen zwischen bestehenden Institutionen. Auch das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen und Transformationskosten, die jede Abkehr vom Status quo zwangsläufig verursacht, lassen sich anführen.

Die nominale Variante empfiehlt dagegen eine Politik der Instandhaltung. Sie basiert auf einer widerleglichen Vermutung zugunsten institutioneller Errungenschaften, ganz gleich welche genaue Form diese angenommen haben mögen. Nominale Konservative sind liberale, grüne, sozial- oder christdemokratische Konservative. Sie versperren sich keineswegs gegen Reformen, streben damit aber nicht nach Innovation. Stattdessen passen sie bestehende Institutionen an veränderte Umstände an, damit diese nach wie vor die ihnen zugedachte Rolle spielen können. Dem nominalen Konservatismus liegt die Ansicht zugrunde, dass bestehende Institutionen über einen erhöhten Funktionswert verfügen. Ihr Mehrwert liegt vor allem darin, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihnen bereits alltagspraktisch vertraut sind. Der daseinsbedingte Mehrwert lässt sich folglich gegen die Ersetzung einer existierenden Institution mit alternativen Lösungen anführen, selbst wenn jene auf dem Papier überlegen sind. Beispielsweise spricht aus liberaler Sicht viel dafür, das monarchische Element im britischen politischen System durch ein Präsidialamt zu ersetzen. Doch tragen Queen und Royals (wenngleich aus unterschiedlichen Gründen) erheblich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt im Vereinigten Königreich bei. Viele Briten scheinen im monarchischen Element einen Grundpfeiler ihrer politischen Identität zu sehen.

Ironischerweise sind es nun nicht die Parteien der erweiterten Mitte in Deutschland, die sich zum Konservatismus bekennen. Selbst die Vertreter der Union vermeiden den Begriff nach Möglichkeit. Stattdessen nimmt gerade die Partei für sich in Anspruch, konservativ zu sein, die einen breit angelegten Kurswechsel fordert. „Wir sind Liberale und Konservative“, lautet der erste Satz der Präambel des AfD-Grundsatzprogramms. Von einer Politik der Vorsicht und Instandhaltung ist in der Folge freilich wenig Rede. Marc Jongen, prominenter Ideengeber und Programmkoordinator der AfD Baden-Württemberg, sieht darin kein Problem für das konservative Selbstverständnis der Partei. „In einer Zeit der permanenten Traditionsbrüche,“ erklärte er kürzlich, „müssen tradierungswürdige Zustände erst wieder aktiv herbeigeführt und gestaltet werden.“ Er nennt dies „Avantgarde-Konservatismus“ und möchte uns damit wie Joseph de Maistre und Arthur Moeller van den Bruck vermitteln, ein Vorwärts in die Vergangenheit stelle nicht Gegenrevolution, sondern das Gegenteil einer Revolution dar.

Jongen überspielt dabei, dass das AfD-Grundsatzprogramm einer beachtlichen Reihe von Traditionen die Loyalität verweigert, die bislang noch gar nicht aufgegeben wurden. Es wird beispielsweise ein Bruch mit der Erinnerungspolitik gefordert. Seit Gründung der Bundesrepublik definiert sich diese konstitutiv über die Abgrenzung zur NS-Vergangenheit. Die Aufkündigung supranationaler Strukturen, die behutsam aufgebaut und mit nationalen Institutionen verzahnt wurden, der Anerkennungsentzug gegenüber dem Islam, Aufrüstung und eine Rückkehr zum Abstammungsprinzip von 1913 sind weitere Punkte. Wer aber bestehende Traditionen zu beerdigen bereit ist, um inzwischen aufgegebene Traditionen wiederzubeleben, erweist sich weder als adjektivisch noch als nominal konservativ. Vielmehr haben wir es, wie Samuel Huntington feststellte, mit gescheiterten Konservativen zu tun: „Der gescheiterte Konservative, der den Idealen früherer Zeiten verhaftet geblieben ist, wird zum Reaktionär, d.h. Kritiker der existierenden Gesellschaft, der in der Zukunft ein Ideal wiedererschaffen möchte, von dem er glaubt, es hätte in der Vergangenheit existiert. Er ist ein Radikaler.“

Dass die AfD unter falscher Flagge segelt ist das Eine; dass die Union—aber auch die SPD, FDP und Grünen—der AfD die Deutungshoheit zubilligen, das Andere. Wenn überhaupt, wird Erhard Epplers „Wertkonservatismus“ ins Spiel gebracht. Doch irgendwelche Werte erhalten will ja jede Partei mit gestaltungspolitischen Anspruch, die AfD eingeschlossen. Reaktionäre wie Jongen meinen ja nur, dass die von ihnen favorisierten Werte erst (wieder) in der gegenwärtigen Ordnung institutionell zum Tragen gebracht werden müssen.

Dabei hätten die Parteien der erweiterten Mitte gute Gründe, sich zu einer wahrhaft konservativen Politik der Vorsicht und der Instandhaltung zu bekennen. Sie sind ja anti-radikal. Einen systematischen Bruch mit den heute bestehenden institutionellen Traditionen in Deutschland streben sie auch nicht an. Vielleicht sind sie sich ihres Konservatismus nur nicht hinreichend bewusst. Wer Wähler mobilisieren will, kommt nicht umhin, Veränderungen zu versprechen. Darüber gerät leicht aus dem Blick, dass Veränderungen ebenso gut auf Renovation wie auf Innovation abzielen können. Und angesichts der sich gegenwärtig rasant verändernden Umstände ist wahrlich genug zu tun, damit sich die Dinge zumindest nicht verschlechtern. Was muss nicht alles unternommen werden, damit etwa die Privatsphäre in Zeiten der Digitalisierung und der Wohlfahrtsstaat unter Bedingungen ökonomischer Globalisierung nicht ausgehöhlt werden? Die ehemalige dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt brachte es mit ihrer Kampagne „Det Denmark du kender“ (Das Dänemark, das du kennst) ganz gut auf den Punkt. Damit liberale Demokratien so bleiben wie wir sie schätzen, ist es beizeiten nötig, wie sie es ausdrückte, „reform-amok“ zu laufen.

Konservatismus ist dynamisch genug, um sich in adjektivischer oder nominaler Form in die Programme der Parteien der erweiterten Mitte integrieren zu lassen; so beliebig, dass sich die AfD damit schmücken könnte, ist er nicht.

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Martin Beckstein ist SNF Fellow an der New York University.

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