John Rawls stellt am Ende seiner Einleitung zur Taschenbuchausgabe von Politischer Liberalismus (Suhrkamp, 1998, übers. v. Wilfried Hinsch, S. 64) klar: „[Für] den von vielen Lesern empfundenen abstrakten und weltfernen Charakter dieser Texte […] entschuldige ich mich nicht.“ ‚Abstrakt’ und ‚weltfern’ – genau so erscheint Rawls’ Werk jedoch auch den Autor*innen (ausgenommen Nullmeier) des gerade veröffentlichten Sonderhefts „Politische Theorie in der Krise“ der Zeitschrift Mittelweg 36 (Ausgabe 2/2016). Auf dieser Wahrnehmung wurzelt sodann deren zentrale These, dass Rawls’ liberale politische Philosophie schuld daran sei, dass die Politische Theorie zu den gegenwärtigen Krisen in und um Europa schweige – etwa zur Währungskrise, zu den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten sowie zur sogenannten Flüchtlingskrise. Da Rawls’ Theorie des politischen Liberalismus nicht nur „überhistorisch“ (Schaub, S. 24) sei, sondern auch die Politische Theorie dominiere, erweise sich letztere angesichts aktueller Krisen als sprachlos. Dies wirft die Frage auf, ob sich Rawls nicht doch hätte entschuldigen müssen. Meine Antwort hierauf lautet: Nein!
Zunächst gibt es eine Bandbreite an liberalen politiktheoretischen Interventionen zu den Krisen in und um Europa. Andrea Sangiovanni befasst sich mit Fragen europäischer Solidarität in mehreren Aufsätzen und seinem in Kürze erscheinenden Buch The Bounds of Solidarity: International Justice, Reciprocity and the European Union (Harvard University Press). Joseph Carens trug unlängst seine bereits über drei Jahrzehnte andauernden Arbeiten zu verschiedenen Fragen der Migration in The Ethics of Integration (Oxford University Press, 2013) zusammen. Allen Buchanan veröffentlicht seit Anfang der 1990er Aufsätze und Bücher zu moralischen Problemen der Sezession, so etwa Justice, Legitimacy, and Self-Determination (Oxford University Press, 2003). Und Cécile Fabre, Jeff McMahan und Seth Lazar revolutionieren gerade in ihren Schriften Michael Walzers Theorie des gerechten Krieges – Fabre beispielsweise in ihren zusammengehörigen Büchern Cosmopolitan War (Oxford University Press, 2012) und Cosmopolitan Peace (Oxford University Press, 2016). Alle diese Autor*innen sind liberale politische Theoretiker*innen. Sie haben jedoch kein Problem aktuelle Krisen normativ zu erhellen.
Darüber hinaus wäre es verkürzt, liberale Politische Theorie nur dann als politisch relevant und nicht als ‚abstrakt’ oder ‚weltfern’ gelten zu lassen, wenn sie sich auf konstruktive Weise mit Krisen in und um Europa beschäftigt. Verzichten wir (wie auch Kreide und Schaub) also auf diese eurozentrische Einschränkung. Dann aber können wir noch eine ganze Reihe weiterer liberaler politiktheoretischer Anstrengungen identifizieren, etwas zur Lösung aktueller Krisen beizutragen. Beispiele hierfür sind Arbeiten, die liberale politische Theoretiker*innen zu Ernährungskrisen, der globalen Klimakrise und der Krise staatlicher Souveränität liefern. Zu diesen Theoretiker*innen zählen, der Reihenfolge der aufgelisteten Krisen entsprechend, Thomas Pogge und Amartya Sen, Simon Caney und Darrel Moellendorf sowie Miriam Ronzoni.
Allerdings könnten die Autor*Innen des Sonderhefts natürlich einwenden, dass es sich bei den genannten Beispielen zwar um liberale Theoretiker*innen handelt, nicht aber um solche, die sich in besonderer Weise Rawls’ politischem Liberalismus verschrieben haben. Nur dadurch sei zu erklären, weshalb sie Krisen auf politisch relevante Weise zu durchdringen vermögen. Die im Sonderheft vorgetragene Kritik des politischen Liberalismus gelte somit weiterhin. Dies mag sein. Jedoch würde dieser Einwand der Autor*innen der in ihrer These enthaltenen Aussage widersprechen, dass der politische Liberalismus die zeitgenössische Politische Theorie dominiere. Wie sonst könnten so viele liberale politische Theorien entstehen, die keine Varianten des politischen Liberalismus im engeren Sinne sind?
Wenn also weder zutrifft, dass liberale politische Philosoph*innen zu aktuellen Krisen schweigen, noch dass der politische Liberalismus die Politische Theorie beherrscht, was bleibt dann von eingangs genannter These der Autor*innen übrig? Lässt sie sich zuspitzen, so dass womöglich ein Fünkchen Wahrheit zu Tage tritt, das vielleicht doch in ihr steckt? Als absurd scheidet aus, nicht der zeitgenössischen Politischen Theorie, sondern Rawls selbst vorzuwerfen, sich nicht zu den heutigen Krisen zu äußern. Dennoch stellt sich bei der Lektüre des Sonderhefts immer wieder die Frage, weshalb die Mehrheit der Autor*innen (insbesondere Nonhoff, Schaub und Vogelmann) Rawls’ Theorie des politischen Liberalismus und nicht deren Fortführung in den Arbeiten gegenwärtiger Theoretiker*innen diskutieren. Rawls’ theoretische Weichenstellungen – etwa die Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie oder die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs – mögen zwar in der Tat in gewisser Weise für seine Nachfolger*innen relevant sein. Dennoch ist jede normative Theorie verschieden, da sie ihre grundlegenden Ideen auf ihre je eigene Art und Weise zusammenfügt.
Die im Sonderheft diskutierte These muss also anders neuformuliert werden. Eine solche Neuformulierung könnte besagen, dass Rawls’ politischer Liberalismus verfehlt, sich mit denjenigen Krisen auseinanderzusetzen, die während seines Entstehungskontextes bestanden haben. So verstanden weckt die These starke Assoziationen zu Charles Mills’ Kritik in The Racial Contract (Cornell University Press, 1997), dass Rawls’ Theorie die offensichtlichen Ungerechtigkeiten gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung nicht thematisierte. Inwieweit Mills’ Kritik zutrifft, kann hier freilich nicht erörtert werden. Aber selbst wenn diese Kritik zuträfe, ließen sich dennoch andere Krisen gegen Ende des 20. Jahrhunderts ausfindig machen, zu deren konstruktiver Analyse Rawls’ politischer Liberalismus einen wichtigen Beitrag liefert.
Das hierfür beste Beispiel ist wohl jene normative Krise, die im Zuge der Gräuel des Holocaust, des Gulag und des Vietnamkrieg aufgezogen ist. Sie besteht im Schwinden der Überzeugung, dass es Sinn macht, nach Gerechtigkeit zu streben. Wenn das Böse stärker ist als das Gute, stehen diejenigen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, letztlich auf der Seite der Verlierer*innen. Sobald diese Auffassung weit verbreitet ist, fehlt es allseits an Motivation, die Welt gerecht zu gestalten, und sie wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Rawls’ liberale politische Philosophie stellt eine Antwort auf genau diese normative (Motivations-)Krise dar. Sie beansprucht zu zeigen, dass es möglich ist, eine soziale Ordnung derart einzurichten, dass diese zumindest fundamentale Gerechtigkeitsforderungen im Bereich des Politischen dauerhaft erfüllt. In der Tat erfordert dieser Untersuchungsgegenstand relativ abstrakte Überlegungen. Dies liegt insbesondere an der für dieses Forschungsvorhaben bedeutsamen Frage, wie, wenn überhaupt, sich gerechte Institutionen auf Dauer als stabil erweisen können. Denn ohne relativ allgemeine – moralpsychologische, ökonomische und soziologische – Überlegungen, die über den Status Quo hinausweisen, ist diese nicht zu beantworten. Insofern ist es Rawls’ spezifischem Forschungsinteresse geschuldet, dass viele Leser*innen seine liberale politische Theorie als ‚abstrakt’ und ‚weltfern’ wahrnehmen. Diese Wahrnehmung verkennt jedoch die politische Brisanz, die in genau jener normativen Krise steckt, um deren Lösung es Rawls geht.
Wer Rawls’ liberaler politischer Philosophie trotzdem vorwerfen will, dass sie sich zu gänzlich anders gelagerten und besonders aktuellen Krisen nicht zu äußern vermag, kann dies natürlich tun. Diese Kritiker*innen könnten aber auch zu einem anderen Buch greifen. Die liberale politische Philosophie hat eine Vielzahl im Angebot.
Dr. Julian Culp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Leibniz-Forschungsgruppe Transnationale Gerechtigkeit an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. In seiner Habilitation beschäftigt er sich mit Fragen gerechter und demokratischer Erziehung und Bildung in transnationaler Perspektive.
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