theorieblog.de | Was wir hören – Erwiderung auf Julian Culps Replik „Wer Ohren hat, der höre“

23. Mai 2016, Vogelmann & Nonhoff

„Wer Ohren hat, der höre“, überschreibt Julian Culp seine Replik auf die Kritik am politischen Liberalismus, die von Regina Kreide, Frank Nullmeier, Jörg Schaub und uns beiden in dem von uns herausgegebenen Heft 2/2016 des Mittelweg 36 geübt wird. Also hören wir:

Der einleitenden Diagnose, die politische Theorie sei angesichts der derzeitigen Krisen sprachlos, stellt Culp eine ganze Reihe von Büchern und Aufsätzen entgegen, um so unsere Diagnose empirisch zu widerlegen. Gestehen wir um des Argumentes willen zu, dass unsere Eingangsdiagnose übergespitzt war – auch wenn Culp für seine Beweisführung von den genannten konkreten Beispielen abstrahieren, den Gegenwartsbezug außer Kraft setzen und die Krisen auf normative Krisen reduzieren muss. Schon diese drei Operationen weisen darauf hin, wo unserer Meinung nach der wesentliche Dissens liegt: wie Politische Theorie auf die Wirklichkeit zugreift. Doch genau diese Frage übergeht Culp, da er jede Auseinandersetzung mit den im Heft vorgebrachten Überlegungen vermeidet.

Diese Vermeidungsstrategie beginnt bereits im ersten Absatz, wenn Culp zu Rawls’ so einfacher wie irreführender „Entschuldigung“ für den „abstrakten und weltfernen Charakter [seiner] Texte“ (John Rawls: Politischer Liberalismus. Suhrkamp, 1998, S. 64) greift und glaubt, damit den Grund für die fünffache Kritik gefunden zu haben: Die Autor_innen des Mittelwegheftes seien nicht bereit oder nicht fähig, sich auf dieses Abstraktionsniveau zu schwingen – und sähen auch keinen Gewinn darin, es zu versuchen, obgleich (und hier wird die Replik moralisierend) es am Ende um „jene normative Krise [gehe], die im Zuge der Gräuel des Holocaust, des Gulag und des Vietnamkrieg aufgezogen ist. Sie besteht im Schwinden der Überzeugung, dass es Sinn macht, nach Gerechtigkeit zu streben“ (Culp). Im Umkehrschluss ist damit jede Kritik am politischen Liberalismus in der Rawls’schen Traditionslinie schon eine Absage an das Streben nach Gerechtigkeit. „Erpressung zur Aufklärung“ nannte Michel Foucault („Was ist Aufklärung?“, in: Michel Foucault, Schriften. Dits et Écrits, Band IV, Nr. 339. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, S. 687–707, hier S. 699) diese Art zu diskutieren, die seitdem an Charme nicht gewonnen hat.

Culps Replik verfehlt so von Anfang an ihr Ziel, da keine_r der Autor_innen des Hefts sich auf das einfache Argument zu großer Abstraktion einlässt. Nicht, dass Rawls abstrahiert, sondern wie er dies tut, kritisiert beispielsweise Jörg Schaub: Wer sich auf die „Methode“ des Überlegungsgleichgewichts (die wohl kaum allein Rawls verfolgt) einlasse, der setze gerade voraus, dass seine Überzeugungen krisenfest sind – normative Krisen würden durch die Form von Rawls’ Abstraktionsverfahren als Gegenstand ernsthafter Betrachtungen ausgeschlossen (Schaub, S. 43–45).

Nicht dass die normative politische Theorie in der Tradition des politischen Liberalismus nach Gerechtigkeit fragt, sondern wie sie es tut, kritisiert Regina Kreide: Denn indem sie moralische Begründungsfragen in den Vordergrund stellt, würde sie die gesellschaftstheoretischen Fragen nach strukturellen Handlungs- und Denkblockaden verdecken, die nicht erst nachträglich in Urteile über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von Verhältnissen eingehen könnten (Kreide, S. 16).

Nicht nur dass die normative politische Theorie die Frage nach dem Sozialkomparativen unreflektiert lässt, kritisiert Frank Nullmeier, sondern wie dies geschieht. Und er zeigt am Beispiel von Rawls’ Diskussion des Neides, wie dessen Weise, dieses sozialkomparative Gefühl zu verstehen – nämlich als „Motor der Zerstörung einer gerechten Gesellschaft“ (Nullmeier, S. 66) – auf den Ausschluss sozialkomparativer Emotionen aus der Gerechtigkeitstheorie hinausläuft statt ihnen einen Platz innerhalb dieser Theorie zu geben.

Nicht nur dass der politische Liberalismus von seiner Geschichte abstrahiert, kritisiert Martin Nonhoff in seinem Beitrag, sondern wie er sich damit selbst einen privilegierten Status verschafft. Denn indem der Liberalismus die historischen Kämpfe seiner Durchsetzung zur allmählich sich einstellenden moralischen Einsicht verklärt, blendet er die eigene Konflikthaftigkeit aus, um sie anderen Theorieangeboten negativ anzukreiden (Nonhoff, S. 25–29).

Und schließlich kritisiert Frieder Vogelmann nicht, dass das Wissen der normativen politischen Theorie in der Tradition des politischen Liberalismus subjektivierende Wirksamkeit entfaltet, sondern wie sie dies tut und welche Art von Subjekten sie erzeugt. Denn sie befriedet Konflikte, indem sie ihre Adressat_innen dazu erzieht, diese mit dem Akt der Differenzierung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie aus der Wirklichkeit auszuschließen – was sich gerade nicht lösen lässt, indem man einfach von der idealen zur nicht-idealen Seite wechselt, da so die Differenzierung erhalten bleibt (Vogelmann, S. 85–89).

Wir gestehen sofort zu, dass alle diese Kritiken bestreitbar sind. Wir verstehen auch, dass es unbequem ist, sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen, gerade wenn sie eigene Überzeugungen betreffen. Doch sich ihnen zu entziehen, indem man ihnen einen anderen Grund – nämlich sich nicht auf das Abstraktionsniveau der Rawls’schen Theoriebildung begeben zu wollen – unterschiebt, der sie von Anfang an diskreditiert, ist eine Immunisierungsstrategie, die aufs schönste den Verdacht bestätigt, der dem Heftes zugrunde liegt: Dass die normative politische Theorie in der Tradition des politischen Liberalismus das, was ihr in der Wirklichkeit nicht passt, umdeutet oder ignoriert, und so die Diskussion verweigert, ehe sie stattfinden kann. Notfalls auch, indem sie der Kritik moralisierend vorwirft, an Gerechtigkeit desinteressiert zu sein, nur weil diese darauf beharrt, dass es mehr als eine Weise gibt, Gerechtigkeit zu denken. Vielleicht sollte uns insofern nicht allzu sehr verwundern, was wir zu der vorgebrachten fünffachen Kritik hören: nichts.


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