theorieblog.de | Was wir von Dewey für die Demokratie im 21. Jahrhundert lernen können

4. Mai 2016, Pogrebinschi

Zum 100-jährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Teil 4)

Mit dem 100. Geburtstag von Demokratie und Erziehung wird deutlich, wie sehr Dewey seiner Zeit voraus war und wie zeitgemäß seine Philosophie heute ist. Das gilt ganz besonders für seine Überlegungen zur Demokratie. Zusammen mit Problemen der Erziehung hat Dewey Probleme der Demokratie identifiziert, die den gegenwärtigen Diagnosen einer „Krise“ der Demokratie ähnlich sind, besonders der Krise der politischen Repräsentation. Sicherlich haben sich die Gesellschaften in den vergangenen 100 Jahren wesentlich verändert, aber wenn man Dewey liest wird klar, dass sich die Demokratie nicht entsprechend weiterentwickelt hat. Ihre Probleme sind genauso alt wie ihre Institutionen selbst.

Dewey war ein freigeistiger Denker. Er kritisierte einige der wichtigsten Ideen, die Politiktheoretiker über Jahrhunderte entwickelt haben – etwa den Gesellschaftsvertrag, den allgemeinen Willen und die nationale Souveränität. Er hinterfragte eine Vielzahl elementarer demokratischer Institutionen, wie das allgemeine Wahlrecht, regelmäßige Wahlen und das Mehrheitsprinzip. Während Dewey damals gegen den Zeitgeist gedacht hat, sind seine Überlegungen für unsere Zeit besonders geeignet. Sein Werk beinhaltet wertvolle Einsichten, aus denen wir für die Demokratie im 21. Jahrhundert lernen können.

Das Heilmittel gegen die Krankheiten der Demokratie ist nicht mehr (von derselben) Demokratie.

Das Heilmittel gegen die Krankheiten der Demokratie kann nicht mehr Demokratie sein, solange die Übel der Demokratie dadurch beseitigt werden sollen, dass „den schon vorhandenen Apparaten noch mehr derselben Art hinzugefügt oder indem diese verfeinert und vervollkommnet werden“ (Die Öffentlichkeit und ihre Probleme [ÖP]: 125).

Dewey war ein Kritiker der repräsentativen Demokratie. „Politische Demokratie“, wie er sie nannte, ist nur eine institutionelle Maschinerie, die die „Idee der Demokratie“ nicht hinreichend erfasst. Wenn wir heute die dauerhaft niedrige Wahlbeteiligung beklagen, ist es vielleicht an der Zeit zu realisieren, dass Reformen des Wahlrechts das Problem allein nicht lösen werden. Die Maschinerie muss sich ändern, und hierfür müssen wir zum ursprünglichen Ideal der Demokratie zurückkehren – einem Ideal, das deutlich anders ist als die nach ihm benannten Institutionen: Wir müssen dazu die Vorstellung aufgeben, „daß die Idee [der Demokratie, T.P.] selbst die Regierungspraktiken, welche in demokratischen Staaten bestehen, erzeugt hat […] Allgemeines Wahlrecht, regelmäßige Wahlen, Mehrheitsprinzip, Regierung durch Kabinett und Kongreß haben nichts Heiliges an sich. Diese Dinge sind Instrumente, die sich in die Richtung entwickelten, in die der Strom floß“ (ÖP: 126). Da sich die Ströme heutiger Gesellschaften in andere Richtungen bewegen, sind neue Instrumenten nötig.

Der Staat ist nicht der einzige Raum für Demokratie. Aber die Entwicklung der Demokratie ist an den Staat gebunden.

Dewey glaubte, dass die „Idee der Demokratie […] eine weitere und reichere Idee [ist] als daß sie selbst im besten Staat exemplifiziert werden kann“ (ÖP: 125). Die Idee der Demokratie kann in allen Formen menschlicher Gemeinschaften gefunden werden, denn „Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ (DE: 121).

Dewey war ein Vertreter der partizipativen Demokratie. Ihm war klar, dass „Regierungseinrichtungen nichts weiter als Mechanismen“ sind, und dass neue Kanäle innerhalb der Gesellschaft gesucht werden sollten, oder genauer in den vielfältigen Formen menschlicher Gemeinschaften. Wenn die Bürger heute den Parlamenten nicht mehr trauen und politische Parteien konstant Mitglieder verlieren, ist es vielleicht an der Zeit zu realisieren, dass auch andere Formen der Vereinigung von Menschen als „politisch“ anerkannt und als integraler Bestandteil von Demokratie betrachtet werden sollten. In den letzten Jahrzehnten haben sich vielfältige Kanäle der Partizipation entwickelt. Demokratische Innovationen haben sich als neue Formen der gesellschaftlichen Organisation verbreitet und etabliert. Das Potenzial, das Dewey in Nachbarschaftsgemeinschaften erkannte, findet sich heute in Formen partizipativer Governance wieder, die Zivilgesellschaft und Staat zusammenbringen. Sie fördern die „Ausweitung des Gebietes gemeinsamer Interessen und die Entbindung einer größeren Mannigfaltigkeit persönlicher Fähigkeiten, die eine Demokratie kennzeichnen“ (DE: 121).

Die Verfahren der Demokratie müssen sich ändern.

Dewey war klar, dass die bloße Aggregation von Präferenzen durch Wahlen kaum demokratische Responsivität und Legitimität erzeugen würde. Wahrscheinlich klang er zu radikal, wenn er argumentierte: „Das Mehrheitsprinzip, rein als Mehrheitsprinzip, ist so lächerlich wie seine Kritiker es zu sein bezichtigen.“ (ÖP: 173) Aber sein eigentliches Argument lautete, dass die „Mittel, mit denen eine Mehrheit zur Mehrheit wird, […] das Wichtigere [sind]“ (ebd.). Dewey war überzeugt, dass Wahlen nicht das einzige Mittel für Volkssouveränität sind. Aber insbesondere war er überzeugt, dass es „[b]edeutsamer […] ist, daß das Auszählen von Stimmen den vorausgehenden Rückgriff auf Methoden der Diskussion, Beratung und Überzeugung erzwingt“ (ebd.).

Dewey war auch ein Verteter der deliberativen Demokratie. Er glaubte, dass keine Regierung „in der die Massen nicht die Chance besitzen, die Experten über ihre Bedürfnisse zu informieren, […] irgend etwas anderes sein [kann] als eine Oligarchie, die im Interesse einiger weniger ausgeübt wird“ (ebd.). Er war überzeugt, dass das „wesentliche Erfordernis […] in der Verbesserung der Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens [besteht]“ (ebd.). So, wie die Präferenzen der Bürger sich verändern, sollten sich auch die Verfahren ändern, diese zu identifizieren. Die neuen Mittel der Demokratie sollten in deliberativen Praktiken gesucht werden, in denen Bürger miteinander interagieren, ihre Meinungen vertreten und sich von den Argumenten anderer überzeugen lassen können. Nur so lässt sich eine kollektive Intelligenz schaffen, die in der Lage ist, gemeinsame Probleme und Anliegen zu lösen und gleichzeitig neue Instrumente zur Formierung und Informierung des politischen Willens erzeugt, die voraussichtlich zu responsiveren und besser legitimierten Entscheidungen führen.

Demokratie braucht Anpassung und Experimente.

Wenn sich die Gesellschaft wandelt, muss sich die Demokratie anpassen. Wenn sie gleich bleibt, dann wird sie Symptome einer „Krise“ aufweisen und schließlich illegitim werden. Für Dewey war es entscheidend, Bürger zu befähigen, sich und die ihnen umgebenden Institutionen den veränderten Bedingungen anzupassen: „Eine bewegliche Gesellschaft, die von zahllosen Kanälen durchzogen ist, durch die eine irgendwo innerhalb ihres Bereiches entstehende Veränderung überallhin wirkt, muß darauf halten, daß ihre Mitglieder zu persönlicher Initiative und Anpassungsfähigkeit erzogen werden. Sonst werden sie durch die Umgestaltung, in die sie verwickelt werden, überwältigt, weil sie ihre Bedeutung und ihre Beziehungen nicht verstehen.“ (DE: 121f.). Demokratie als institutionelles Gefüge wird nur in eine Krise geraten, wenn sie sich nicht anpasst. Konzepte, Prinzipien und Theorien sollten genauso angepasst werden wie Policies und Vorschläge für soziales Handeln. Sie sollten als „Arbeitshypothesen betrachtet [werden], nicht als Programme, die streng zu befolgen und durchzuführen sind“ (ÖP: 169).

Dewey war ein Experimentalist. Anpassung braucht Experimente. Wenn die repräsentative Demokratie ihre Aufgabe nicht erfüllt, sollte man mit Partizipation und Deliberation experimentieren. Wo Bürger Parteien und Parlamenten nicht mehr vertrauen, sollten andere innovative Formen der menschlichen Verbindungen und neue Formen der Entscheidungsfindung erprobt werden. Dewey glaubte, „die beste Bewährung einer beliebigen Art von Gesellschaft ist das Ideal, das sie für ihre Lebensformen anlegt, und der Grad, zu dem sie dieses Ideal realisiert“ (Ethics of Democracy; eig. Übers.). Wenn heutige politische Institutionen das demokratische Ideal realisieren würden, würde sich auch die Frage nach der „Krise“ der Demokratie nicht stellen. Nur ohne Anpassung wird es eine Krise geben. Das Heilmittel gegen die Übel der repräsentativen Demokratie liegt im Experimentieren mit neuen Formen der Partizipation und neuen Verfahren der Deliberation.

 

Prof. Dr. Thamy Pogrebinschi ist Senior Researcher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Sie forscht zu neuen Beteiligungsformen und demokratischen Innovationen. Derzeit führt sie ein Projekt über demokratische Innovationen in zwanzig Ländern Lateinamerikas (LATINNO) durch, das die empirische Grundlage für ihre Theorie der „pragmatischen Demokratie“ bildet. Sie hat verschiedene Publikationen zur Philosophie des Pragmatismus in portugiesischer Sprache veröffentlicht.


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