Krieg und Frieden. Mit Kant gegen den islamischen Extremismus (Zweiter Teil: Das Völker- und Weltbürgerrecht)

Im ersten Teil habe ich überlegt, welche Ansätze Immanuel Kants Staatsrechtstheorie enthält, um mit der aktuellen Herausforderung des islamischen Extremismus fertig zu werden. Im zweiten Teil widme ich mich Aspekten seiner Theorie des Völker- und Weltbürgerrechts.

Wie der staatsrechtliche erste Abschnitt des öffentlichen Rechts beruhen auch der zweite und dritte Abschnitt auf derselben Prämisse: Der natürliche Zustand des Krieges zwischen den Menschen und Völkern ist zu beenden und ein Zustand des Friedens zu schaffen. Dem föderalistischen Ideal des Völkerrechts gemäß sollen sich die Staaten fortschreitend organisieren, den Krieg als Mittel zur Konfliktlösung durch zwischenstaatliche Streitschlichtung ersetzen, und sich gegenseitig Sicherheit gegen äußere Feinde leisten. Allen anderen gegenüber, zu denen keine Völkerrechtsbeziehungen bestehen – insbesondere den Individuen und Gruppen ohne Völkerrechtssubjektivität („Wilde“) –, hat sich Kant zufolge jeder zumindest nach dem Prinzip der weltbürgerrechtlichen Hospitalität zu verhalten, d. h. weder dürfen Fremde grundlos als Feinde behandelt, noch andere Völker als rechtliches Nullum usurpiert oder kolonialisiert werden.

Das Völkerrecht und die neuen „Barbaren“

Eine grundsätzliche Frage betrifft Kants Völkerrechtsbegriff. Findet das Völkerrecht auf Gruppen wie den Islamischen Staat überhaupt Anwendung? Oder gelten generell – mangels Einschlägigkeit des Völkerrechts – allenfalls die minimalen Prinzipien des Weltbürgerrechts?

Völkerrecht – oder wie er alternativ vorschlägt: Staatenrecht – definiert Kant als das Recht der Staaten im gegenseitigen Verhältnis. Individuen, sofern sie Mitglieder eines Staates sind, kommen nach diesem Verständnis grundsätzlich nur als Staatsangehörige in das Blickfeld des Völkerrechts, sie werden mediatisiert. Bei den allermeisten Terrorgruppen weltweit handelt es sich um nicht-staatliche Akteure, die auch in Kants Theorie keine freien und gleichen Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft der Staaten sein können. Die Verantwortung für die Pariser und Brüsseler Anschläge hat jedoch eine Organisation übernommen, die nicht nur die Errichtung eines islamischen Staates anstrebt, sondern mit einer solchen Staatsgründung tatsächlich bereits begonnen hat und sich selbst entsprechend betitelt. Das in Syrien und Irak ausgerufene Kalifat weist Charakterzüge eines genuinen Territorialstaates auf, wie ihn auch Kant definiert hatte: effektive Kontrolle eines bestimmten Gebietes, Einführung eines mit Gewalt durchgesetzten Rechtssystems, Erhebung von Steuern, Aufbau eines Bildungssystems, wohltätiger Einrichtungen etc. In politiktheoretischer Hinsicht kann der Islamische Staat durchaus als revolutionärer Staat begriffen werden, der – strukturell ähnlich wie das revolutionäre Frankreich nach 1789 – die derzeit vorherrschenden internationalen Normen und das auf Staaten basierende internationale System ablehnt.

Doch der Fall des Islamischen Staates unterscheidet sich grundlegend von dem der französischen Revolutionäre oder auch dem der islamischen Revolution im Iran von 1979, denn er gedeiht auf dem Boden gleich mehrerer zerfallener oder zerfallender staatlicher Ordnungen in Syrien, Irak und anderswo und zielt auf deren gänzliche Überwindung zugunsten einer neuen – wenn man so will: transnationalen – Ordnung ab. Völkerrechtler lehnen die Anerkennung des Islamischen Staats als Staat daher mit guten Gründen ab. Auch nach Kants Staats- und Völkerrechtstheorie dürfte der Schutz, der mit der Zuerkennung der Staatsqualität verbunden ist, dem Islamischen Staat nicht gebühren. Eine Organisation, die erklärtermaßen bestehende zwischenstaatliche Beziehungen – zunächst im Nahen und Mittleren Osten, aber letztlich weltweit – durch einen Gottesstaat ersetzen will, ruft den globalen Naturzustand aus. Kants Völkerrecht, das den Völkern die innere Transformation gestatten, sie vor Interventionen von außen bewahren und in einer immer engeren internationalen Federation vereinen will, steht dem entgegen. Übrigens hätte er ebenso vehement einer Politik des „Regime Change“ widersprochen, wie sie etwa die US-Regierung unter Präsident George W. Bush praktiziert hat. Prägnant verbietet der 5. Präliminarartikel der Friedensschrift jegliche gewalttätige Einmischung in die Verfassung und Regierung eines anderen unabhängigen Staates. „Denn was kann dazu berechtigen?“ fragt Kant rhetorisch. Eine Intervention durch äußere Mächte würde selbst ein mit Bürgerkrieg ringendes Volk in seinen Rechten verletzen – und letztlich „die Autonomie aller Staaten unsicher machen“. Auch im zwischenstaatlichen Bereich gilt Kants rechtsphilosophisches Leitmotiv „Evolution statt Revolution“.

In der Debatte über den Islamischen Staat tauchen immer wieder der Begriff der „Zivilisation“ und der Gegenbegriff der „Barbaren“ auf. Nach den Pariser Anschlägen erklärte der französische Staatspräsident François Hollande, es handele sich um „Akte der Barbarei“, Frankreich werde aber über die „Barbaren“ triumphieren. Auch die Resolution 2249 des UN-Sicherheitsrates vom 20. November 2015 verurteilt die Zerstörung und Plünderung des Islamischen Staates als „barbarische Akte“. Es ist erstaunlich, wie sich die Sprache des 18. bis 20. Jahrhunderts von den „zivilisierten Nationen“ und den „ungesitteten Wilden“ oder „Barbaren“ (die auch Kant benutzte und noch in Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut übrig ist) angesichts der Gräuel der heutigen islamischen Extremisten wieder aufzudrängen scheint.

Diese Wortwahl hat eine gewisse Berechtigung, denn sie verweist auf die Kluft, die die islamischen Extremisten von unserem Staats- und Völkerrechtsverständnis trennt. Mit ihrer Rückbesinnung auf die Altvorderen und der möglichst getreuen Umsetzung der Sharia weichen die salafistisch-jihadistischen Gruppen tatsächlich fundamental von jeglichem „Standard of Civilisation“ ab, der im 19. und 20. Jahrhundert Mindeststandards bei der Behandlung von Fremden bedeutete, heute jedoch auch in einem weiteren Sinne durch die Grundsätze von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat gekennzeichnet werden könnte. Die Nicht-Anerkennung ihrer Staatlichkeit und Abwesenheit eines allgemeinen Völkerrechts zu Gruppen wie dem Islamischen Staat einmal unterstellt, bliebe daher nur der Rückgriff auf die Prinzipien des Weltbürgerrechts. Durch seine Voraussetzungslosigkeit verdient dieses Recht den Namen „kosmopolitisch“, denn es kommt allen menschlichen Individuen und Gruppen gleichermaßen zu. Andererseits beruht es ähnlich dem Völkerrecht auf Reziprozität, da ich nur die Fremden nicht-feindlich behandeln muss, die sich auch mir gegenüber nicht als Feinde verhalten. Mit anderen Worten: Das Weltbürgerrecht erlaubt selbstverständlich, sich eines Feindes zu erwehren, ohne jedoch seinerseits zu Imperialismus und Kolonialismus überzugehen.

Das Recht des Krieges und die Pflicht zum Frieden

Der französische Präsident Hollande bezeichnete die Anschläge in Paris als einen Kriegsakt, begangen von einer terroristischen Armee, geplant und durchgeführt von außen mit Hilfe durch Komplizen von innen. In diesem Sinne sprach nach den Anschlägen von Brüssel der französische Ministerpräsident Valls erneut davon, dass wir uns in einem Krieg befinden.

Der Krieg ist das zentrale Problem von Kants Völkerrechtstheorie. Der Philosoph akzeptiert, dass im natürlichen Zustand der Staaten und Völker das Recht zum Krieg (ius ad bellum) „die erlaubte Art [ist], wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt, nämlich, wenn er von diesem sich lädiert glaubt, durch eigene Gewalt; weil es durch einen Prozeß (als durch den allein die Zwistigkeiten im rechtlichen Zustande ausgeglichen werden) in jenem Zustande nicht geschehen kann“ (Rechtslehre, 1797, § 56).

Der Islamische Staat ist, wie oben besprochen, nicht als Staat im völkerrechtlichen Sinne einzustufen. Dennoch kommt natürlich auch gegen ihn der Einsatz von Gewalt durch auswärtige Staaten wie Frankreich, Belgien und andere Verbündete in Frage. Ohne hier auf die Details der juristischen Diskussion einzugehen, wage ich die Einschätzung, dass Kant keine Einwände gegen einen Kriegseinsatz im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts von Art. 51 UN-Charta hätte. Wie den obigen Ausführungen zu entnehmen ist, würde er hingegen mit Blick auf die Figur der humanitären Intervention zu allergrößter Vorsicht raten, auch wenn heute viele Versuche unternommen werden, Kant für diese Idee in Beschlag zu nehmen. Die neuen Kosmopoliten übersehen zu oft, wie wichtig dem Königsberger die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit der Staaten waren – und dass er die Friedhofsruhe des Weltstaates gerade nicht für wünschenswert hielt. Dennoch kann Kants Verbots der äußeren Einmischung in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates heute in aller Strenge nicht mehr gefolgt werden. So wie dieses Prinzip eine Reaktion auf die Revolutionen und Konter-Revolutionen seiner Zeit war, haben wir seither Erfahrungen gemacht, nach denen bestimmte äußere Einmischungen heute nicht nur erlaubt, sondern unter Umständen sogar Pflicht sein können.

Die Schwierigkeit des Rechts im Krieg (ius in bello) ist, das hatte Kant klar erkannt, „ein Gesetz in diesem gesetzlosen Zustande zu denken (inter arma silent leges), ohne sich selbst zu widersprechen“. In seiner Antwort auf dieses Problem zeigt sich, worum es dem Philosophen bei der Behandlung des Kriegsrechts immer ging: um den Frieden. Er schlägt folgendes Prinzip vor: „den Krieg nach solchen Grundsätzen zu führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt, aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegen einander) herauszugehen, und in einen rechtlichen zu treten.“ Diejenigen „heimtückischen Mittel“ sollen daher verboten sein, „die das Vertrauen, welches zur künftigen Gründung eines dauerhaften Friedens erforderlich ist, vernichten würden“ (Rechtslehre, § 57; vgl. auch Zum ewigen Frieden, 1795, 6. Präliminarartikel). Auf die Wiedergabe der Details und Beispiele verzichte ich hier aus Platzgründen ebenso wie auf eine Übertragung auf die heutige Kriegsführung, doch Kants Überlegungen dürften auch heute noch zu Diskussionen anregen. Fest steht, dass wir uns im Krieg gegen den globalen Terrorismus und den Islamischen Staat – trotz der massiven, systematischen Verletzungen völkerrechtlicher Menschenrechtsstandards und des humanitären Völkerrechts durch den Islamischen Staat – nicht wieder wie während des fatalen „War on Terror“ nach dem 11. September 2001 auf die Stufe der „Barbaren“ begeben dürfen. Die Sicherheitsrats-Resolution 2249 stellt unmissverständlich fest: „Member States must ensure that any measures taken to combat terrorism comply with all their obligations under international law, in particular international human rights, refugee and humanitarian law“.

Zu erwähnen ist auch das Theorem des „ungerechten Feindes“. Kant argumentiert, dass ein solcher Feind zwar ebenfalls ohne verbotene Mittel, kräftemäßig aber unbegrenzt bekämpft werden dürfe. Der Kampf gegen den „ungerechten Feind“ ist also eine Frage der Quantität, nicht der Qualität der Kriegsführung. Wonach aber bestimmt sich, wer als ein „ungerechter Feind“ anzusehen ist? Kant schlägt folgende Definition vor: „derjenige, dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte.“ Hierunter zählt Kant „die Verletzung öffentlicher Verträge, von welcher man voraussetzen kann, daß sie die Sache aller Völker betrifft, deren Freiheit dadurch bedroht wird, und die dadurch aufgefordert werden, sich gegen einen solchen Unfug zu vereinigen und ihm die Macht dazu zu nehmen“ (Rechtslehre, 1797, § 60). Ob Kants Kategorie des „ungerechten Feindes“ heute noch sinnvoll ist und ob sie zweckmäßig auf unser Thema angewendet werden kann, will ich hier als Frage stehen lassen. Der UN-Sicherheitsrat jedenfalls hat den Islamischen Staat in seiner Resolution vom 20. November als „a global and unprecedented threat to international peace and security“ bezeichnet.

Schließlich muss in der gebotenen Kürze noch auf Kants Hauptanliegen, den Staatenföderalismus, eingegangen werden. Was Ende des 18. Jahrhunderts noch als ferner Traum oder Chiliasmus erschien, ist heute in einer großen Anzahl von regionalen Staatenverbindungen und Verteidigungsbündnissen wie der Europäischen Union und NATO und natürlich global betrachtet in den Vereinten Nationen Wirklichkeit. Mit Blick auf den Kampf gegen den globalen islamischen Terrorismus und den Islamischen Staat erscheint mir wichtig zu betonen, dass Sicherheit gegen äußere Feinde eine wesentliche Aufgabe von Kants Völkerbund ist. Der Philosoph würde also einen multilateral abgestimmten Einsatz im Rahmen einer Chapter-VII-UN-Sicherheitsrats-Resolution oder Art. 5 des Nordatlantikvertrages immer einzelstaatlichen Alleingängen vorziehen.

Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob grundsätzlich eine Verbindung zwischen dem Islamischen Staat und anderen Staaten gemäß Kants föderalem Grundsatz denkbar wäre. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Region des Nahen und Mittleren Ostens in ihren bisherigen Grenzen nicht weiterbestehen könnte. Nicht auszuschließen ist für diesen Fall, dass sich der Islamische Staat in irgendeiner Form etabliert. In Geschichte und Gegenwart gibt es Beispiele von Föderationen zwischen islamisch geprägten Staaten, von denen die Arabische Liga heute die wichtigste ist. Auch an der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz und Kooperation zwischen islamischen und nicht-islamischen Staaten kann kein Zweifel bestehen, wie die Arbeit in der UNO vielfach bestätigt. Gleichzeitig verdeutlicht die brisante Frage des möglichen EU-Beitritts der Türkei auch mögliche Grenzen regionaler Integration. Vertiefte Kooperation zwischen Staaten erfordert, was Art. 2 EU-Vertrag als „Werte, auf die sich die Union gründet“, bezeichnet. In dem Maße, wie eine solche gemeinsame Basis vorhanden ist – oder aber abhanden kommt –, kann eine immer engere Staatenunion existieren. Festzuhalten bleibt, dass die radikale religiöse Ideologie des globalen islamischen Terrorismus und des Islamischen Staates allenfalls geeignet ist, bestehenden Staatenverbindungen als gemeinsamer Feind zu dienen. Ein anderer Beitrag zur Annäherung an den „ewigen Frieden“ ist von ihnen nicht zu erwarten.

Hospitalität in Zeiten des Krieges

Abschließend will ich auf die Frage des Weltbürgerrechts zurückkommen. Was Kant vielleicht ahnte oder hoffte, ist heute Realität: Es gibt neben regionalen Völkerrechtsregimen auch ein globales Völkerrecht. Kants dritter Abschnitt des öffentlichen Rechts, das Weltbürgerrecht, mit seinem minimalen Prinzip der allgemeinen Hospitalität erscheint daher auf den ersten Blick nicht mehr notwendig. Doch gerade der radikale Bruch mit geltendem Völkerrecht, wie ihn der islamische Extremismus vollzieht, wirft Fragen nach den vor-positiven, universalen Grundlagen des Rechts der Völker auf.

Der Aufklärer Kant, der aus Prinzip auf den Fortschritt des menschlichen Geschlechts zum Besseren und die Vernunft vertraute, war überzeugt, an den naturrechtlichen Prinzipien für alle Zeiten und alle Völker zu arbeiten. Hospitalität schien ihm von den alten Griechen bis zu den arabischen Beduinen eine Art anthropologische Konstante zu sein und ein wegweisendes Prinzip abzugeben, damit sich die Völker der Welt einander friedlich annähern können. In Zeiten des Krieges mit dem islamischen Extremismus sollten wir uns in Kants Sinne daher immer wieder an das weltbürgerliche Prinzip erinnern, den Fremden, der uns friedlich gegenübertritt, nicht als Feind zu behandeln.

Christoph Brendel ist Rechtsanwalt und Doktorand an der Universität Leipzig.

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