Aus der ‚Mitte der Gesellschaft‘? Eine Kritik der vorherrschenden Deutungen von Pegida

Die öffentliche Debatte über Pegida wird durch die Frage nach der sozialen und politischen Herkunft der Demonstrierenden geprägt. Handelt es sich um besorgte Bürger aus der Mitte der Gesellschaft? Sind das Neonazis? Oder ist Pegida die politische Manifestation des Extremismus der Mitte? Derlei Etikettierungen verleiten dazu, den Diskurs von Pegida als politischen Ausdruck einer gegebenen Gemeinschaft zu begreifen. Doch sollte Pegida vielmehr als eine Form der Vergemeinschaftung verstanden, analysiert und bekämpft werden.

Als vor einem Jahr die ersten Pegida-Demonstrationen stattfanden, interessierten sich politische Beobachter in erster Linie für die soziale und politische Herkunft der Demonstrierenden. Für die einen handelte es sich um Rechtsradikale und Rechtsextreme. Die anderen identifizierten eine Bewegung aus dem rechten Teil der Mitte der Gesellschaft und hofften auf eine konservative Renaissance der Union. Diejenigen, die heute mit Pegida sympathisieren, hätten ihr politisches Zuhause früher bei den Unionsparteien gefunden und würden es eigentlich am liebsten dort auch wiederfinden, weswegen gerade CDU und CSU die Sorgen und Ängste dieser Menschen ernst nehmen müssten. So lautete etwa die Kernbotschaft von Werner J. Patzelt (im Video ab 1:40).

Gesine Schwan kritisierte diese Deutung von Pegida bei Günther Jauch mit dem nur scheinbar lapidaren Satz „Aus der Mitte der Gesellschaft heißt ja nicht automatisch, dass die alle Demokraten sind” (im Video ab 11:05). Ein Jahr später gibt die radikalisierte Bewegung der Politologin Recht. Die Mobilisierungserfolge von Pegida werden inzwischen in erster Linie auf einen ‚Extremismus der Mitte‘ zurückgeführt. Demnach kommt mit Pegida an die Oberfläche, was subkutan in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus lange vor Pegida bereits gor. Die Bewegung ist der politische Ausdruck eines gesellschaftsfähig gewordenen Neo-Rassismus, der nicht ausschließlich den rechten Rand kennzeichne, sondern auch in der Mitte tief verankert sei.

Für die einen gibt es Pegida, weil die etablierten Parteien ihre Repräsentationsfunktion nicht erfüllen. Für die anderen war das demokratische Gemeinwesen bereits vor Pegida innen hohl und verfault.

Beide Pegida-Deutungen sind politisch folgenreich: Wenn ‚gemäßigt Konservative‘ ihren Unmut nur deswegen bei den Pegida-Demonstrationen ausdrücken, weil ihre Sorgen von den etablierten Parteien als rassistische Ressentiments marginalisiert oder als irrationale Ängste bagatellisiert werden, dann ist Ausgrenzung politisch fatal. Handelt es sich dagegen um einen ‚Haufen verkappter Extremisten‘, deren Positionen und Ziele mit liberaldemokratischen Prinzipien unvereinbar sind, ist Ausgrenzung politisch angezeigt.

Den beiden widerstreitenden Deutungen liegt jedoch ein- und dasselbe politiktheoretische Modell zugrunde, in dem politische Phänomene als Oberflächenphänomene basaler und vor-politischer Verhältnisse konzipiert werden: Pegida ist die jüngste Manifestation eines besonders im postsozialistischen Osten vorherrschenden Anti-Pluralismus; Pegida ist der Ausdruck rassistischer Ressentiments in spezifischen Milieus; Pegida ist die politische Reaktion von Modernisierungsverlierern; Pegida ist die verspätete Revolte der Ostdeutschen, die sich von den westdeutschen Deutungseliten als retardierte Nachhilfe-Schüler in Sachen Demokratie und Liberalismus behandelt sehen.

Diese Deutungen haben ihre Berechtigung. Pegida entsteht ja keineswegs aus dem Nichts, sondern aus einer bestimmten gesellschaftspolitischen Gemengelage. Was dieser Konzeption von Pegida jedoch entgeht, ist die soziale Performativität der Bewegung. Pegida ist eben nicht nur der politische Ausdruck eines vor-politischen Kollektivs. Sie ist vielmehr als politisches Projekt zu verstehen, das dieses Kollektiv erst hervorbringt. Daher gilt es nicht (nur) zu fragen, was Pegida ist, wo Pegida herkommt, welche Gruppen, Schichten und Milieus sich hinter Pegida verbergen und was den Erfolg von Pegida bedingt, sondern auch was Pegida und Pegida-nahe Medien tun. Welche Ideen und welche Identitäten werden auf einer Pegida-Demo oder auf der Facebook-Seite der Bewegung produziert? Wie erzeugt die heterogene Bewegung Kohäsion und Legitimation?

Solche Fragen werden dadurch blockiert, dass man die Hauptaufgabe der Forschung darin definiert, Pegida-Anhänger als rechtsextremistisch, ostdeutsch, kleinbürgerlich oder mittig zu etikettieren. Um Pegida besser zu verstehen, wäre es hilfreich, politische Identitäten nicht aus statistisch erhobenen Aggregatdaten abzuleiten, sondern im Anschluss an die Politiktheoretiker Ernesto Laclau und Chantal Mouffe als kontingente, diskursiv geschöpfte und politisch umkämpfte Äquivalenzketten zu fassen, die vielfältige Elemente miteinander verknüpfen, indem sie diese gegen einen antagonistischen Bedrohungskomplex in Stellung bringen (vgl. etwa Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal (2006): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen, S. 141ff.).

Aus diesem Blickwinkel manifestieren sich in der Radikalisierung der Bewegung nicht etwa die neo-rassistischen Einstellungen des kleinbürgerlichen Milieus. Die Radikalität von Pegida entspringt nicht vorgängigen Positionen, sondern geht aus einer politischen Identitätskonstruktion hervor, die multiple Elemente (von Volkssouveränität, Frauen- und Minderheitenrechten, autoritärer Erziehung und der Privilegierung der bürgerlichen Kleinfamilie bis hin zur Abwehr von TTIP) gegen einen Bedrohungskomplex artikuliert und auf diese Weise sinnhaft macht. Um eine derart weitreichende Äquivalenzkette zu kreieren, ummantelt Pegida den ursprünglichen Primärfeind ‚Islam‘ mit einer Reihe von Sekundärfeinden – den ‚Gutmenschen‘, die ihr symbolisches Kapital zulasten des Volkes vermehre, und der ‚Lügenpresse‘, die gemeinsam mit den ‚Altparteien‘ die Integrationsresistenz des Islam verschleiere. Pegida ist insofern als eine Variante eines paneuropäischen, neu-rechten politischen Projekts zu verstehen, das heterogene und potentiell antagonistische Forderungen zu selbstidentischen, originären Völkern zusammenschließt.

Entscheidend ist, dass die Sogwirkung und die interne Kohäsion von Pegida & Co nicht auf eine positive Gemeinsamkeit der verknüpften Forderungen zurückgeführt werden kann. Die Identifikationsschablone wird vielmehr im Außen durch die Imagination eines übergeordneten Bedrohungskomplexes geschaffen. Dieses Außen ist zugleich bedrohlich und konstitutiv. Es transzendiert die internen Differenzen und repräsentiert sie als Facetten ein- und desselben Unterdrückungsverhältnisses.

Anhand von rechtspopulistischen Protestbewegungen lässt sich exemplarisch studieren, dass die diskursiv absorbierten Elemente (die Missstände, Forderungen, Sorgen und Unrechtserfahrungen, aber auch die etablierte Identifikationsbegriffe einer Gemeinschaft) nicht als solche repräsentiert, sondern erst im politischen Prozess signifiziert und resignifiziert werden. Im Pegida-Diskurs etwa bezeichnet der Demokratiebegriff weder die umkämpfte Selbstinstituierung einer Gesellschaft noch den Regimetyp, der dieses Prinzip prozeduralisieren soll, sondern die Souveränität eines dinghaften ‚Deutschen Volkes‘. Und auch die ‚Mitte der Gesellschaft‘ ist nicht mehr jene politische Mitte, die durch die etablierten Parteien abgedeckt und abgesteckt wird. Angesichts eines ‚kulturell inkompatiblen, expansiven Islams‘ wird die Mitte nicht in politischen oder sozioökonomischen, sondern in kulturalistischen Begriffen fixiert: Die Semantik der Mitte wird deutsch, abendländisch, christlich und natürlich anti-islamisch.

Gesine Schwans Mahnung „Aus der Mitte der Gesellschaft heißt ja nicht unbedingt, dass die alle Demokraten sind“ sollte deshalb nicht als schlichte Antithese (‚Es handelt sich um Anti-Demokraten aus der Mitte der Gesellschaft‘) verstanden werden. Schwans Intervention ist vielmehr als Aufforderung zu lesen, die ‚Mitte der Gesellschaft‘ als semantisch leeren Identifikationspunkt zu begreifen, den es auch und gerade im Kampf gegen Pegida & Co mit liberaldemokratischen Inhalten zu füllen gilt. Die Kongruenz von politischer Mitte und freiheitlicher demokratischer Grundordnung sollte daher nicht den Ausgangspunkt der Analyse bilden. Vielmehr sollte analysiert werden, wie diese Kongruenz im politischen Prozess perpetuiert, erodiert und restauriert wird.

 

Marius Hildebrand promoviert in Soziologie mit einer Hegemonieanalyse des populistischen Diskurses der Schweizerischen Volkspartei an der Universität Hamburg

2 Kommentare zu “Aus der ‚Mitte der Gesellschaft‘? Eine Kritik der vorherrschenden Deutungen von Pegida

  1. Ich würde den Autor doch bitten, demnächst mehr Fremdwörter zu benutzen. Die Qualität des Textes leidet sonst mangels intellektueller Glaubwürdigkeit.

  2. Die Frage, wie die Kritik an Pegida gestaltet ist, hängt auch davon ab, was mit der Kritik erreicht werden soll, bzw., gegen wen sie gerichtet ist.
    Pegida mehr als Phänomen an sich zu betrachten, wie der Artikel hier fordert, ist wenig zweckmäßig, denn Pegida selbst könnte nichts erreichen. Wie alle politischen Bewegungen wird sie in der Praxis nur durch ihren Einfluss auf größere soziale Zusammenhänge politisch wirkmächtig.

    Die übliche Beschäftigung mit ihr trägt diesen Umstand Rechnung und zielt daher auch gar nicht gegen die Bewegung an sich.
    Der Kritik, die Pegida aus der Mitte der Gesellschaft kommend betrachtet, möchte Pegida nur als Aufhänger für die Kritik am mehrheitsgesellschaftlichen Rassismus benutzen, der sie ja u.a. hervorgebracht hat.
    Dem Ansatz, der sie zu Extremisten erklärt, will dagegen die Verbindung Pegidas zur übrigen Gesellschaft kappen, um sie politisch zu neutralisieren.

    In jedem Fall geht es nicht um Pediga an sich, denn das wäre nicht zielführend.

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