Von der siegreichen Sache und den Menschen. Hannah Arendt zum 40. Todestag

Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni. Dies ist eines von zwei Zitaten, das man nach Hannah Arendts Tod auf einem in ihrer Schreibmaschine eingespannten Blatt Papier fand. Hannah Arendt erlitt am 4. Dezember 1975 in ihrer New Yorker Wohnung einen Herzinfarkt, ihren zweiten, und verstarb im Alter von 69 Jahren.

Bei dem eingespannten Blatt Papier handelte es sich um das Titelblatt zum dritten und letzten Teil ihres Werkes „The Life of the Mind“ (dt. Vom Leben des Geistes). Der Teil ist überschrieben mit „Judging“ (Urteilen) und sollte nach den Büchern über das Denken und das Wollen den Abschluss ihrer Trilogie über die geistigen Tätigkeitsweisen des Menschen darstellen. Abgesehen von einigen Notizen und dem Manuskript ihrer 1970 gehaltenen Vorlesung über Kants Kritik der Urteilskraft wissen wir heute nicht, welche Ausführungen Arendt hätte machen wollen. Was wir hingegen wissen, ist, dass Arendt der Urteilskraft eine zentrale Stellung zugedacht hat. Von der Kultivierung der Urteilskraft erhoffte sich Arendt nichts weniger als dass sie dem Menschen in der „riskanten Moderne“ (Nolte) Orientierung stiften und ein Zusammenleben ermöglichen möge.

Die Kernaufgabe der reflektierenden Urteilskraft ist „subjektive Allgemeingültigkeit“ (Kant) hervorzubringen, d.h.  den eigenen Standpunkt in einer Weise zu finden, die andere Sichtweisen, Meinungen und Gefühle reflektiert und miteinbezieht. Denn erst dadurch wird man in die Lage versetzt, sich gegenüber anderen Personen zu rechtfertigen, da somit schon im eigenen subjektiven Urteil auch ein gemeinschaftlicher, ein „allgemeiner“ Sinn eingebettet ist. Reflektierende Urteilskraft soll damit jene Orientierungslosigkeit beenden, die durch den Verlust tradierter Wertvorstellungen und Denkmuster entstanden ist – im Zuge von Säkularisation und gesellschaftlich-ökonomische Modernisierung auf der einen und der modernen Gewalt- und Terrorerfahrung auf der anderen Seite. Erst durch das Üben im Urteilen erlangt der Mensch seine Eigenständigkeit. Das Cato-Zitat, das Arendt dem Teil über das Urteilen voran zu stellen gedachte, bringt diese Eigenständigkeit zum Ausdruck, da der römische Senator und Feldherr sich in seiner eigenen Urteilsbildung weder dem Urteil der Göttern unterordnen noch der Geschichte das Recht zugestehen wollte, die letzte Richterin zu sein. Ein ebenso offenes wie freies, daher aber stets risikoreiches Unterfangen.

Welche Herausforderungen in einem solchen „Urteilen ohne Geländer“ liegen, erfahren wir dieser Tage zuhauf. 40 Jahre nach Arendts Tod scheinen angesichts der Flüchtlingskrise ihr Werk und ihre Vita aktueller denn je. Und so lohnt es sich an ihren Übungen im politischen Denken auch unsere Urteilskraft zu schärfen.

Nachdem Hannah Arendt im Zuge ihrer Widerstandstätigkeiten gegen die Nazis und für die zionistische Bewegung 1933 kurze Zeit inhaftiert wurde, verließ sie Deutschland über die grüne Grenze und flüchtete nach Frankreich. Dort engagierte sie sich in der jüdischen Flüchtlingshilfe, kam 1940 ins französische Internierungslager Gurs, weil sie den Franzosen als feindliche Ausländerin galt. Im Fernsehgespräche mit Günther Gaus äußerte sie sich dazu 1964 sarkastisch In „Wir Flüchtlinge“ merkt sie dazu sarkastisch an: Menschen, wie wir, Flüchtlinge also, seien von ihren Feinden in Konzentrationslager und von ihren Freunden in Internierungslager gesteckt worden. Sie floh aus dem Lager Gurs in einer Nacht- und Nebelaktion zunächst nach Lissabon und erreichte im Mai 1941 schließlich New York. Ihre deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihr 1937 entzogen und sie sollte 14 Jahre lang, bis 1951 staatenlos bleiben. Ihr amerikanischer Pass, so schrieb Arendt in einem Brief an ihren Ex-Ehemann Günther Anders, sei das „schönste Buch“, das sie kenne.

Doch nicht nur in Arendts eigener Flucht liegt ihre Aktualität begründet. Vielmehr steht werkgeschichtlich die Auseinandersetzung mit der Figur des Flüchtlings im Zentrum ihres politischen Denkens. An der Figur des Flüchtlings nimmt ihre grundlegende Kritik des souveränen kontinentaleuropäischen Nationalstaats als politischem Ordnungsmodell den Ausgang. Anhand einer beeindruckenden Analyse der Flüchtlings- und Minderheitenproblematik der europäischen Zwischenkriegszeit erbringt Arendt den Nachweis, dass der souveräne Nationalstaat als politisches Ordnungsmodell auf Paradoxien beruht, die nicht zuletzt dessen eigene Stabilität und Dauerhaftigkeit bedrohen. Und sie zeigt – und das ist zentral –, dass er als Ordnungsmodell für eine globalisierte Welt untauglich ist. Der unzureichende Umgang mit den Flüchtlingen der europäischen Zwischenkriegszeit führt nach Arendt dazu, dass sich die Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit der Nationalstaaten auflöst. Die Konsequenz ist eine Dynamik von politischer Handlungsunfähigkeit der Einzelstaaten, gepaart mit innerstaatlichen ethnischen Konflikten, dem Niedergang des so wichtigen zwischenstaatlichen „spirit of unorganized solidarity and agreement“, wie es bei ihr heißt, und dem Autoritätsverlust einer demokratischen Regierungsform. Arendt ist davon überzeugt, dass die globale Expansion der Idee des souveränen Nationalstaats gerade nicht die Lösung bringen werde.

Arendts Diagnose ist gezeichnet durch die Erfahrung der Katastrophe. In ihr spiegelt sich, wie in der europäischen Zwischenkriegszeit schrittweise an die Stelle demokratischer Rechtsstaaten autoritäre Regime getreten sind und wie mit dem „Untergang des Nationalstaats“ als Regierungsform auch moralische Standards und Werte aus dem öffentlichen Leben zu verschwinden begannen. Der Niedergang der politischen und moralischen Kultur im Europa der Zwischenkriegszeit war unmittelbar mit dem Niedergang der politisch-rechtlichen Ordnung des Nationalstaats als Regierungsform verbunden. Die Geschichte dieses Niedergangs stellt in ihren Augen ein erstes, aber wichtiges Element im „langwierigen Prozeß der Präparierung für die Ausrottung von Menschen” dar.

Die Unbrauchbarkeit des Nationalstaats als politisches Ordnungsmodell ist aber auch deshalb problematisch, weil zum damaligen Zeitpunkt kein alternatives und wirkmächtiges politisches Ordnungskonzept vorhanden war. Der Völkerbund war auf ganze Linie gescheitert. Ein supranationales Institutionengefüge wie die Europäische Union war nicht in Sicht. „Eine Anweisung auf eine politische Organisation der Menschheit“, wie Arendt in ihren Denktagbüchern formuliert, entdeckt sie stattdessen in der Gründungsidee der amerikanischen Republik: citizenship, föderales System, Völkerrechtsfreundlichkeit etc. Die nationalstaatliche Souveränität wird ersetzt durch ein föderatives Geflecht verschiedener Machtzentren, in dem alle Gemeinwesen zu jeder Zeit und bei jeder politischen Frage aufeinander bezogen bleiben. Eine solche Föderation, deren „innere Struktur sie für eine endlose Erweiterung gleichsam prädestiniert, weil ihr Prinzip weder Expansion noch Eroberung war, sondern lediglich die Kombinierung existierender Machtgruppen“, ist auch weit eher in der Lage, global jenes Recht zu garantieren, auf das es Arendt in besonderer Weise ankommt: „das Recht, Rechte zu haben“. Dieses Recht bedeutet, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird, nicht von Herkunft oder Status. Angela Merkels historischer Satz, wonach das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte keine Obergrenze kenne, kommt dem spirit eines solchen „Rechts auf Rechte“ nahe und ist ganz im Sinne einer postnationalstaatlichen Organisation der Menschheit formuliert –  ebenso wie die ursprüngliche Fassung von Art 16, Absatz 2 Grundgesetz. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Merkels Satz gerade deshalb auch auf so viel Skepsis, Angst und Ablehnung gestoßen, weil er in der Tat den Nationalstaat als politisches Ordnungsmodell transzendiert (hinzu kommt sicherlich noch, dass Merkels Impuls vornehmlich moralischer Natur war und sich über die politische Möglichkeit einer europaweiten Etablierung eines bedingungslosen Grundrechts auf politisches Asyl keine Rechenschaft ablegte)

Gleichzeitig aber tritt an dieser Stelle eine historisch-politische Entwicklung in den Vordergrund, von der Arendt zu ihrer Zeit nicht einmal zu träumen wagte: eine politische Union der Staaten Europas. Nicht dass die EU heute den nationalstaatlichen Egoismus beseitigt hätte, aber sie stellt doch eine institutionelle Arena zur Verfügung, in der Konflikte, wie die gegenwärtige Flüchtlingsfrage, bearbeitet werden könnten. Wenn es dort nicht gelingt, zu Lösungen zu gelangen, dann wird es keine Lösungen geben – zumindest keine, die in irgendeinem Sinne mit den Werten und Prinzipien eines demokratischen Europas vereinbar wären. Wenn die EU in dieser elementaren Frage scheitert, dann sind wir in der Tat in jener Welt angelangt, von der uns Arendts Analyse aufs Genaueste unterrichtet – in einer Welt, die ausschließlich auf der Logik souveräner Nationalstaaten basiert. Nach Arendt ist in einer solchen Welt „ein gesicherter Friede so utopisch wie die Quadratur des Kreises”. Unsere politische Urteilskraft ist also mehr denn je gefragt.

 

5 Kommentare zu “Von der siegreichen Sache und den Menschen. Hannah Arendt zum 40. Todestag

  1. Schöner Text Christian, eine Aktualisierung so nah am Geiste Arendts gelingt nicht alle Tage. Eine kleine Anmerkung habe ich: Der Satz mit den Internierungslagern findet sich meines Wissens nach nicht im Gaus-Interview, sondern nur im Text „Wir Flüchtlinge“ (s. 8f. in Zur Zeit)

  2. Dankeschön, Lukas! Und ja, die Stelle ist in der Tat nicht im Interview, sondern im Text. Vielen Dank für den Hinweis….

  3. Ich sehe die Antwort auf die millionenfache Erfahrung des Verlusts des „Rechts, Rechte zu haben“ — den Entzug bzw. Verlust der Staatsangehörigkeit/Staatsbürgerschaft, d.h. Staatenlosigkeit — darin, ein Recht auf Staatsangehörigkeit zu implementieren bzw. einen Schutz gegen Staatenlosigkeit zu errichten.
    Gleich nach dem 2. Weltkrieg geschah dies etwa in Art. 15 Allg. Erkl. d. Menschenrechte (allerdings noch nicht völkerrechtlich bindend), später mehreren Konventionen oder auf nationaler Ebene etwa in Art. 16 Grundgesetz.

    Frage an den Autor: Gibt es diesbezüglich insb. im Rahmen der Entwicklung des Völker- und Verfassungsrechts nach 1945 Kommentare von Arendt?

  4. Nein, Christoph, diesbezüglich gibt es keine Kommentare Arendts. Es ist in ihren Augen auch keine Frage der „simplen“ Positivierung von Recht, sondern es geht um die Wirkmächtigkeit eines Rechtes innerhalb einer ganz konkreten politischen Ordnungsformation. Die Frage, welches Recht wie positiviert wird, ist keinesfalls unwichtig; die Positivierung ist aber auch nicht die Antwort auf das Problem des oben skizzierten Verlustes. Es geht vielmehr darum, die Verfassung der politischen Ordnung zu bestimmen – Verfassung nicht nur im Sinne einer rechtlichen Verfasstheit der Ordnung, sondern auch als soziale und politische Verfassung (im Sinne von Zustand) – und dann zu klären, ob bzw. wo im Rahmen dieser Verfassung die Grenzen des Möglichen liegen. In diesem Fall: die Grenzen des Möglichen im Hinblick auf Einschluss, Zugehörigkeit, gesicherte Rechte etc. Und, wie es heutzutage bspw. die Refugee Tent Action-Bewegung macht, diese Grenzen in Frage zu stellen.

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