theorieblog.de | Von umgestülpten Augen, Data-Harvesting und dem ewigen Problem der Macht – Tagungsbericht Überwachen und Strafen heute
19. November 2015, Gerhards, Schewe & Egbert
40 Jahre nach der deutschen Erstveröffentlichung von Michel Foucaults Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses hatten Frieder Vogelmann, Jörg Bernardy und Martin Nonhoff dazu eingeladen, die bewegte Vergangenheit und nähere Zukunft des Klassikers zu diskutieren. Dabei fand die Tagung stets eine würdige Balance zwischen Historizität und Aktualität, was nicht zuletzt an der intimen Atmosphäre und den hochkarätigen Sprecher_innen (u.a. Susanne Krasmann, Friedrich Balke, Thomas Biebricher, Petra Gehring, Martin Saar und Katrin Meyer) lag, die ihrerseits zu Gesprächen, Kommentaren und spannenden Diskussionen innerhalb der Vortragspanels beitrugen.
Empirische Anschlüsse, oder: Vom Versuch, ein Buch über das Gestern für das Heute zu lesen
So warf beispielsweise Thomas Biebricher einen von Überwachen und Strafen inspirierten Blick auf die Europäische Union und ihr disziplinierendes Regime im Rahmen der Durchsetzung ökonomischer Vorgaben gegenüber ihren Mitgliedstaaten. Nicht erst die Krise in Griechenland habe diese Normierung augenfällig gemacht, bemerkte Biebricher in Bezug auf Stephen Gill und seine Untersuchung zur neoliberalen Delegitimierung von nationalstaatlicher Finanzpolitik aus dem Jahre 1998. Biebricher zeigte eindrücklich, wie sehr die EU inzwischen und immer noch vom Schema des Überwachen und Strafens geprägt ist. In einer Analogie zur Schule – ein Ort, den auch Foucault ursprünglich als von der Disziplin durchzogen ausmachte – beschrieb er das „Europäische Semester“ als Regelungsinstrument, das minutiös die Haushaltsentwürfe von Mitgliedsstaaten prüft, berät, korrigiert und zur Einstufung nach Gefährdungskategorien freigibt – also dafür sorge, dass diese „ihre Hausaufgaben“ machten.
Katrin Meyer konzentrierte ihre Analyse auf eine weitere Dynamik der europäischen Politik im Lichte einer aus Foucaults Theorie-Set gewonnenen Figur der „ausschließenden Eingrenzung“. Diese versucht sie in der schweizerischen Abschiebepolitik nachzuweisen Der Flüchtling repräsentiere dabei einen vom nationalstaatlichen Souverän nicht länger tolerierbaren Körper, der sich diesem durch eine bis zu anderthalb Jahren andauernde „Ausschaffungshaft“ in seinem Territorium entledige. Der anschließende „Wegweisungsvollzug“ antworte als rein administratives Mittel gewaltsam auf den Widerstand des Flüchtlings, seine Zelle und damit das Land zu verlassen. Um die erschreckende Realität dieser Praxis aufzuzeigen, wies Meyer auf ein Video über eine Rekonstruktion ebenjenes Vollzugs hin. Wie widersprüchlich die Regierung des Flüchtlings operiert, sprach sie ebenfalls an: Dessen Disziplinierung ziele nicht darauf, die körperlichen Kräfte zu steigern und diesen damit produktiv zu machen – dies sei der Sinn der Disziplin nach Foucault – sondern ihn mit Knebeln und Fesseln handlungsunfähig zu halten. Damit antworte der Staat auf das Dispositiv des „ökonomisch unproduktiven Flüchtlings“ und investiere lieber ein Vielfaches für seine absolute Ruhigstellung als in den Versuch seiner Integration in den Arbeitsmarkt – dies deutete Meyer als Sieg eines neuen Machtparadigmas zwischen Souveränität und Disziplin über die ökonomisch-gouvernementale Regierungsweise von Subjekten.
Sozialphilosophische Implikationen mit und über Überwachen und Strafen hinaus
Susanne Krasmann stützte sich in ihrem Vortrag auf ein weiteres zentrales Motiv von Überwachen und Strafen: Das Panopticon. Ausgehend und abgrenzend von der Disziplinargesellschaft konzeptualisierte sie die Kontrollgesellschaft 2.0 im digitalisierten Zeitalter als Rahmen, in dem große Datenmengen (Big Data) – die auch Dietmar Kammerer und Tobias Matzner zum Thema machten – als Gegenstand und Mittel aktueller Überwachungstechnologien die anvisierten Subjekte zu digitalen Subjekten, ‚Dividuen‘ (Deleuze) oder ‚data doubles‘ (Haggerty/Ericson) werden ließen. Die Pointe des ‚datalogical turns‘ (Patricia Clough) sah Krasmann insbesondere darin, dass die algorithmusgestützten Überwachungsregime der Kontrollgesellschaft 2.0 nicht nur aus den Datenmengen tatsächliche Korrelationen rekonstruieren, sondern ebenso auf die Herstellung von verdächtigen Zusammenhängen gepolt sind und schlussendlich eine Art „visuelle Bürgerschaft“ konstituieren.
Petra Gehring konterte Krasmanns Lesart mit einer kontrovers diskutierten Vorstellung des panoptischen Modells, die eine Übertragung der Benthamschen Technik auf heutige Phänomene und Weisen der Überwachung problematisierte. Der „alte“ hierarchische Blick, den das Gefängnis mit seinen optisch festgelegten Sichtachsen ermöglicht hätte, wäre einerseits oberflächlich, andererseits misstrauisch gewesen. Die neuen Disziplinen hingegen wirken dezentral und seien selbst unsichtbar. So schaffen sie ein ständiges Gesehen-werden; die Rede vom „invertierten Auge“, der Selbstüberwachung, sei heute ein Anachronismus, da in allem, was noch Auge ist, die Überwachung vormodern bliebe. Doch damit nicht genug: Das Argument Gehrings verdichtete sich in der anschließenden Diskussion auf eine Pointe, mit der die Foucault-Rezeption seit jeher zu kämpfen hat und worauf Gehring das Publikum energisch einschwor. Das Machtkonzept Foucaults impliziere eben nicht eine vorgängige Abhängigkeit des Knechtes von seinem Herrscher. Dasjenige Subjekt, dem Macht ‚geschieht‘, internalisiere nicht etwa den Wunsch des Machtvollen in einem stockholmsyndromatischen Verhältnis – wenn es heißt, die Macht sei produktiv, dann ist sie vor allem relational und ermöglicht immer wieder eine Neustrukturierung von politischen und sozialen Situationen und Möglichkeiten. Ähnlich argumentierte Martin Saar, der die Beschäftigung mit der „Immanenz der Macht“ stark machte: In Foucaults kritischer Ontologie der Gegenwart ginge es um eine wechselseitige Konstitution von Macht und Freiheit, um die Haltung, dass in jeder von Macht strukturierten Lage immer ein Fluchtpunkt existiert, in dem die Verhältnisse auch anders gedacht und in Angriff genommen werden können. Referent und Publikum waren sich daraufhin einig, dass man immer noch auf eine Publikation warte, die erfolgreich die Arendtsche Handlungstheorie mit der Foucaultschen Macht- und Subjekt(ivierungs)theorie verbindet, ohne sich in Aporien zu verwickeln.
Was bleibt? Eine Tagung zwischen Historizität und Aktualität
Was im Laufe der Tagung deutlich wurde: Auch 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Überwachen und Strafen ist dessen Rezeption bei weitem nicht beendet. Konsens war, dass eine angemessene sozialtheoretische wie empirische Übersetzungsleistung vonnöten ist, die – ohne die philosophische Arbeit Foucaults an seinem Archivmaterial zu kompromittieren – eine Gratwanderung darstellt. An dieser versuchte sich insbesondere Frieder Vogelmann, der in seinem exzellenten Vortrag dafür plädierte, die Disziplinarmacht und auch deren Strafformen als – zumindest partiell – überkommen zu interpretieren. Sie helfe für gleichermaßen kritische wie aktuelle Gesellschaftsdiagnosen nur mehr ansatzweise weiter. Die Herausforderung liegt also darin, die (durchaus politische) Haltung, mit der Foucault sein Buch verfasst hat, in aktuelle kritische Gesellschaftsanalysen zu überführen. Diese Haltung besteht darin, den Boden, auf dem man steht, aufzuwühlen und, bei aller empirischen und philosophischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Topoi, danach zu fragen, wie wir wurden, was wir heute sind. Besonders im Gedächtnis geblieben ist in diesem Zusammenhang Jörg Bernardys Bild von Foucault als Zeitreisendem, der in frühere Jahrhunderte eintaucht, um das Wissen mitzubringen von den Dingen, die nach wie vor unsere Gegenwart bestimmen.
Simon Egbert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „Anwendungsrationalitäten und Folgen von Drogentests“ an der Universität Bremen, Helene Gerhards ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte in Göttingen, Jan Philipp Schewe studiert im Master Politische Theorie in Frankfurt am Main.
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