„Sense of Doubt. Wider das Vergessen“ – Eine Ausstellung im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kunst und Politik

Sense of DoubtDas Ausstellungsprojekt „Sense of Doubt. Wider das Vergessen“ widmet sich aus einer interdisziplinären Perspektive der narrativen und interpretativen Dimension einer Geschichtsschreibung (post)kolonialer globaler Konflikte und Machtdiskurse. Das Setting der Ausstellung ist einem Frachtschiff nachempfunden: Stege aus Holzplanken verbinden gleich einem Schiffsdeck elf Container miteinander, Seile markieren eine Reling. In Verbindung mit dem Titel der Ausstellung – Sense of Doubt – drängt sich die Metaphorik einer Reise ins Ungewisse, das Zweifeln als Verlassen eingefahrener Denk- und Wahrnehmungswege geradezu auf.
Doch die Metapher des Schiffs ist zweifach gebrochen: die Frachtcontainer sind geöffnet und geben den Blick auf ihren Inhalt – Videos –  frei, die sich alle mit Konflikten zwischen dem globalen Süden und Norden, mit kolonialen und postkolonialen Machtstrukturen und daraus resultierenden Ungerechtigkeiten beschäftigen; es ist nicht das Schiff, das sich vorwärts bewegt, sondern der Besucher, der auf den Stegen zu den Containern gelangt, und über die Destabilisierung von eingefahrenen und unreflektierten Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien einen Erkenntnisprozess durchläuft. Schon in der konzeptuellen Anlage der Ausstellung „Sense of Doubt. Wider das Vergessen“ ist damit das Motiv der Zweideutigkeit, des Spiels mit Erwartungshaltungen, des Aufbrechens von Deutungsmustern gesetzt. Diese bewusste Mehrdeutigkeit steht auch auf inhaltlicher Ebene im Zentrum des Ausstellungsprojektes, indem stereotype Sichtweisen auf postkoloniale globale Machtstrukturen und auf die Rolle von benachteiligten und unterprivilegierten Akteuren dekonstruiert werden.

Videodokumentationen zwischen Kunst und Wissenschaft

Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, des Museums Angewandte Kunst Frankfurt und Sesc São Paulo. Sie versucht, Kunst und Wissenschaft anhand von 18 Videokunstwerken unter dem Titel „memórias inapagáveis“ (Unauslöschliche Erinnerungen) aus der brasilianischen Sammlung „Videobrasil“ in einen Dialog zu bringen. Die Ausstellung, die vom 10. September bis zum 11. Oktober im Metzlerpark des Museums Angewandte Kunst stattfand, wurde von einem wissenschaftlichen Vortragsprogramm und einer umfassenden Publikation begleitet; sie verortet sich damit in dem diskursiven Dreigestirn von Wissenschaft, Kunst und Politik. Die Videokunstwerke zu konkreten Fällen von Unterdrückung, Ausbeutung, Geschichtsvergessenheit und kultureller Missachtung stehen in der Ausstellung dabei nicht nur für sich, sondern sind auch Anstoß für eine Verhältnisbestimmung dieser drei Perspektiven.

Die Komplexität der Ausstellung, die durch die Verschränkung von geistes-, sozial-, geschichts- und kunstwissenschaftlichen Diskursen erzeugt wird, wirkt auf den ersten Blick überfordernd. Denn durch die erklärende und deutende Rahmung der Videos fällt es anfangs schwer, sich auf diese als künstlerische Werke einzulassen und sie nicht von vornherein nur unter einer politisch-dokumentarischen Perspektive zu lesen.

Von Würmern, Eroberern und exotischem Kitsch

Dabei fordert das programmatische Moment des Zweifelns vom Betrachter genau das: die immer schon (vor-)urteilsgesättigte eigene Perspektive zu hinterfragen und dem Kunstwerk einen Wahrnehmungsraum zu eröffnen, der es in seiner Eigenheit zur Erscheinung kommen lässt.Die Videos selbst sind dann höchst divers und auf einem breiten Spektrum von gezielter ästhetischer Provokation bis hin zu sachlicher analytischer Präzision angesiedelt: Im Video „Casa Blanca“ (2005) etwa schlängeln sich Würmer durch eine Miniatur des Weißen Hauses, erobern Stockwerk um Stockwerk, besetzen Fenster, Balkone und Dach – der subjektive Eindruck des Ekels eröffnet einen ungewohnten Blickwinkel auf die Perversionen von Macht und die kollektiven (psychischen) Deformationen, zu denen Beherrschung, Unterdrückung und Ausbeutung führen können.

Das Medium des Films ad absurdum führt das Video „Vera Cruz“ im Container unter dem Titel „(Un)mögliche Dokumentation. Die Kolonisierung Südamerikas“: Über 45 Minuten präsentieren Untertitel die erste Begegnung der portugiesischen Kolonisatoren mit den indigenen Bewohnern des späteren Brasiliens, während Ton- und Bildspur jenseits eines immerwährenden Rauschens von Wasser und eines flackernden Standbilds in ihrer Monotonie scheinbar nichts preisgeben. Doch gerade in seinem Minimalismus ist der Film entlarvend: Alles, was wir über die „Eroberung“ des Neuen Kontinents zu wissen glauben, wird als eine Narration bloßgestellt, die aus der Sicht der Mächtigen und Sieger erzählt wird und eine dominante Lesart von historischen Ereignissen produziert, in der konkurrierende Deutungen keinen Platz haben. 

Doch das mit einem ästhetischen Anspruch auftretende Zum-Sprechen-Bringen von vergessenen, unterdrückten, überhörten Stimmen der Geschichte kann auch misslingen. Das zeigt sich am Video „Barrueco“ (2004), das sich dem persönlichen Leid und der beschädigten Identität von zu Sklaven Gemachten widmet: Untermalt vom hoch emotionalen Gesang Nina Simones (Black Is the Colour) [https://de.wikipedia.org/wiki/Nina_Simone] und den klagenden Worten des Gedichts „Divisor“ (von Mira Albuquerque) wird in farblich und perspektivisch symbolschwangeren Bildern das rituelle Waschen von Perlen in Palmöl inszeniert – ein papiernes Schiff auf dem Palmöl gemahnt an die transatlantischen Sklavenschiffe. Aber statt dem Skandalösen der Degradierung von Menschen zu Handelsobjekten und dem je individuellen Schmerz, den diese Entwurzelung und Unterdrückung produziert, transportiert der Film nur Kitsch. Der Grund dafür mag darin liegen, dass die Bilder und gesungenen Worte zwar eine starke poetische Wucht entfalten, damit aber gänzlich im Stereotypen verbleiben: Mit der Inszenierung von Körperlichkeit und Sinnlichkeit werden Klischees unkritisch affirmiert, die das Exotische in westlicher Perspektive auf schwarzafrikanische Kulturen romantisieren. Damit unterbleibt jeglicher Versuch einer differenzierteren Deutung.

Kann Kunst politisch sein?

Doch gerade auch der Charakter des Kitschigen und Rührseligen, welcher diesem Videokunstwerk im Container unter dem Titel „Perlen aus dem Ozean der Sklaverei“ innewohnt, provoziert die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit politischer Kunst und danach, inwieweit Kunst und Wissenschaft füreinander produktiv sein können. Bezüglich der Deutung dieser Fragen eröffnet das Ausstellungsprojekt einen großen Diskussionsraum und bewahrt gleichzeitig gestützt durch den heterogenen Charakter der Videos dessen Offenheit und Unabgeschlossenheit. Das ist die große Stärke der Ausstellung und ihres Rahmenprogramms.

Wenn Kunst aus dem anarchischen und zweckfreien Spiel des Ästhetischen hervorgeht, wie Christoph Menke in seinem begleitenden Vortrag „Kunst – Experiment – Leben“ am 7. Oktober 2015 behauptete, mutet Kunst als Medium eines politischen Statements geradezu paradox an. Doch es wäre auch gänzlich verfehlt, die Videos primär als Dokumentarfilme mit politischem Impetus zu betrachten. Zumindest die gelungenen unter ihnen erzählen ihre Geschichte auf eine radikale Weise, keinem anderen Ziel verpflichtet als dem, ihrem Gegenstand möglichst nah zu kommen, eine möglichst authentische Zugangsweise zu finden, die auch sperrig, provokant oder experimentell sein kann. Genau dann, wenn Thema und Form eines Videos – wie beispielsweise in „Vera Cruz“ – eine kreative Partnerschaft eingehen, wird das Videokunstwerk fruchtbar, auch im politischen Sinn, indem es ein Gegennarrativ erzählt. Hier gelingt eine Begegnung von Kunst und Wissenschaft: ein sachliches, präzises, Tatsachen und Argumenten verpflichtetes Erkenntnisstreben gewinnt durch die gänzlich andersartige Sprache der Kunst, die in ihrer Unmittelbarkeit, ihrem berührenden, verstörenden, herausfordernden Charakter einen eigenen Wirklichkeitszugang bietet. Gerade durch ihre Komplementarität zur wissenschaftlichen Analyse und ihr sich stets entziehendes Wesen ermöglicht Kunst damit einen wirklichen „Sense of Doubt“. Dieser ist unentbehrlich, um postkoloniale, globale und lokale Macht- und Gerechtigkeitsdiskurse neu zu bestimmen und eine reflektierte Erinnerungskultur auszubilden.

 

Regina Schidel ist Doktorandin am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Promotionsstipendiatin der Leibniz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit“ unter der Leitung von Rainer Forst. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Frage, wie rational und autonom stark eingeschränkte Menschen in einer rechtfertigungsbasierten Gerechtigkeitstheorie angemessen zu berücksichtigen sind.

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