Ein Plädoyer für (mehr) Theoriearbeit. Rezension zu Gasteiger/Grimm/Umrath (Hrsg.): „Theorie und Kritik. Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen“

Gasteiger, Ludwig/Grimm, Marc/Umrath, Barbara (Hrsg.): Theorie und Kritik. Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen, Transcript 2015

Kann man als Sozialwissenschaftlerin gegenwärtig völlig „frei“ entscheiden, ob man theoretische oder empirische Zugänge wählt? Warum dies nicht so ist und warum es sinnvoll wäre Vielfalt in der Wissenschaft zu ermöglichen, zeigen die Herausgeber/-innen in kritischer Auseinandersetzung mit den Themenfeldern „Theorie und Kritik“ auf. Im Mittelpunkt des Sammelbandes stehen in dieser gedanklichen Klammer Beiträge, die das Verhältnis von Theorie und Kritik nicht bloß im wissenschaftlich-akademischen Kontext beleuchten. Der Band geht zurück auf die Tagung „Begriffe – Theorien – Kritik “, welche die Herausgeber/-innen im Herbst 2013 im Rahmen der Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Augsburg veranstalteten.
Damit leistet das Buch einen wertvollen Beitrag dazu, die Kritik-Theorie-Debatte unter Einbeziehung verschobener (neoliberaler) Vorzeichen wieder aufleben zu lassen.Ausgangspunkt des Buches ist „die Annahme, dass die Pluralität theoretischer Angebote nur dann produktiv werden kann, wenn statt einer Beliebigkeit des unvermittelten Nebeneinanders ein Dialog über die Möglichkeiten und Grenzen von Theorie und Kritik zwischen den Theorietraditionen und Disziplinen geführt wird“ (34). In Anlehnung und Erweiterung von Peter Zimas Überlegungen wird von den Herausgeber/-innen in der Einleitung der Wunsch nach einer „dialogische[n] Theoriebildung“ (ebd.) stark gemacht. Vor diesem Hintergrund plädieren sie dafür, die „zentrale Aufgabe und Gewinn dialogischer Theoriebildung“ in einem „vertieften Verstehen des ‚Eigenen‘ mit Hilfe des ‚Fremden‘ und ‚Anderen‘“ (35) zu sehen. Dabei gehe es darum, „eine Anerkennung von Differenzen“ zu ermöglichen (ebd.). Was diese Haltung der Herausgeber/-innen für die einzelnen versammelten Autoren/-innen heißt, ist sehr unterschiedlich. Alexander Neupert-Doppler, der die Theorienpluralität hinsichtlich Kritik thematisiert, betont in seinem Beitrag sehr eindrücklich beispielsweise, dass es nicht dabei bleiben kann, die Pluralität unterschiedlicher Ansätze zu feiern, sondern ausgehend von dem Gegenstand die Heranziehung des einen oder anderen Ansatzes zu begründen: „Wenn ich ein Bild aufhängen möchte, sollte ich nicht versuchen, mit der Wasserwaage Bretter zu sägen, sondern einen Hammer wählen, mit dem sich ein Nagel in die Wand schlagen lässt“ (53). Es gehe somit auch immer um Fragen nach Reichweite: „Warum wird Kritik geübt? Was wird kritisiert? Welche Mittel der Kritik werden angewendet? Und selbstverständlich auch umgekehrt: Was kann mit den Mitteln einer Kritik nicht zum Gegenstand dieser Kritik werden?“ (53).
Als Leserin fragt man sich auf den ersten Blick, wie man so ein unterschiedliches Sammelsurium an Beiträgen in einem Band plausibel zusammenbringt und sie mit einem roten Faden verbindet. Auf den zweiten Blick sieht man, dass die Herausgeber/-in dieser Herausforderung auf interessante und kluge Weise begegnet sind, indem sie die Beiträge des Sammelbandes nach der Komplexitätssteigerung aufgelistet haben. Nach der Einleitung erfolgt die Auseinandersetzung mit „einzelnen Theorie- und Denktraditionen“ im ersten Teil (36), im zweiten geht um mehr als einen Ansatz, nämlich um die Beschäftigung mit „koexistierenden Denkstilen“ (37) und im dritten um die Dynamisierung von „Forschungsfeldern, theoretischen und politischen Diskursen“ (ebd.). Um der Komplexität der Beiträge in ihrer Gesamtheit Rechnung zu tragen, wäre es für die Leserin/den Leser sicherlich gewinnbringend, wenn am Ende von den Herausgeber/-innen die (vorläufigen) Schlussfolgerungen herausgearbeitet worden wären.
Die Einleitung bietet einen interessanten, allerdings sehr verdichteten Streifzug durch Kritik(verständnisse) und Wissenschaft im akademischen (Herrschafts-)Feld. Die Herausgeber/-innen zeigen die Gemachtheit von Theorie und Theoretikern/-innen auf und verweisen auf die (bedrohte) Pluralität von Denkstilen unter Berücksichtigung historischer Ent- und Verwicklungen.
Im ersten Teil „Entwicklung kritischer Theorien im Spannungsfeld von Tradition, Aktualisierung und Bruch“ ist der gemeinsame Schnittpunkt der Beiträge in der Auseinandersetzung mit dem Marxschen Kritikverständnis zu sehen, wobei auch neuere Denker der Kritischen Theorie zu Wort kommen: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und u.a. Jürgen Habermas (Alexander Neupert-Doppler; Marc Grimm und Martin Proißl).
Im zweiten Teil „Dialoge zwischen differenten Forschungsprogrammen und Paradigmen“ geht es nicht um einen einzelnen Ansatz, sondern um den Vergleich unterschiedlicher Paradigmen. Dialoge zwischen Stoikern und Skeptikern (Eva Seidlmyer), Hannah Arendt und Carl Schmitt (Marco Walter) sowie Reinhart Koselleck, Michel Foucault und Quentin Skinner (Sebastian Huhnholz) werden hier (re-)konstruiert, um Grenzen, Reichweiten und Anschlussmöglichkeiten von Theorie und Kritik auszuloten.
Im letzten – und längsten – Teil „Wandel von Forschungsfeldern, Theorielandschaften und politischen Diskussionen“ finden sich Beiträge, die sich kritisch mit den Umbrüchen von feministischen (Cornelia Möser, Tina Jung), aber auch pädagogischen (Katarina Froebus) und bildungspolitischen (Ludwig Gasteiger) Debatten auseinandersetzen. Darüber hinaus hinterfragt Anne Rethmann die Stellung des Individuums in der Menschenrechtsdebatte. Die Beiträge basieren auf vielfältigen Perspektiven: Ansätze der kritischen Theorie, diskursanalytische bis hin zu (post-)marxistischen Ansätze werden u. a. herangezogen.
Exemplarisch soll auf den Beitrag von Cornelia Möser, der – ebenso wie der von Tina Jung – für mich als Geschlechtersoziologin besonders spannend ist, eingegangen werden. Möser startet mit dem Befund, dass die feministische Wissenschaft häufig in den Zeitabschnitt vor und nach Judith Butler eingeteilt wird. Diese Erzählung hat Befürworter/-innen und Kritiker/-innen auf den Plan gerufen. In ihrem Beitrag geht sie aus diskursanalytischer Perspektive der Frage nach, wie dieser Paradigmenwechsel hervorgebracht wird (185). Dabei fokussiert sie die „kulturellen Übersetzungen“ und geht „dem Wandern von Theorien im Dreieck Deutschland – Frankreich – USA“ (185) nach, um herauszuarbeiten, inwiefern „Übersetzung eine produktive Rolle in der Herstellung von Wissen spielt“ (186). Untersuchungsgrundlage stellt die Einführungsliteratur der Gender Studies dar (196). Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, in der deutschsprachigen Geschlechterforschung seien drei Narrative von besonderem Gewicht: „Differenznarrativ, Verfallsnarrativ und Versöhnungs- und Überwindungsnarrativ“ (198-199). Dabei problematisiert Möser, dass bei allen Narrativen „die real geführten Konflikte hinter den Erzählungen verschwinden“ (199). Im Anschluss an Chantal Mouffe plädiert sie dafür, die Konflikthaftigkeit und Uneindeutigkeit zu benennen und „damit theoretisierbar“ zu machen (ebd.). Der Beitrag endet mit dem Plädoyer, Theoretiker/-innen feldspezifisch zu verorten und sozio-strukturelle machtdurchdrungene Dynamisierungsprozesse, die das Feld des (Un-)Sichtbaren mitproduzieren, in den Blick zu nehmen. So sollte stärker als bisher, wenn ich die Autorin richtig lese, die Frage nach feministischer Forschung und akademischer Institution in den Blick genommen werden, die mit eigenen Rationalitäten Bewegungen bzw. Ein- und Ausschlüsse produziert (201).
Das Buch eröffnet neue Denkräume, indem es unterschiedliche Denktraditionen disziplinenübergreifend zusammenführt. Damit lenkt es den Blick darauf, inwiefern das Wissenschaftsfeld von sozialen, politischen und sozio-ökonomischen Zielen und Absichten durchzogen ist. Die Herausgeber/-innen zeigen in diesem Rahmen auf, dass es im Zuge dynamisierter neoliberaler Wissenschaftsbedingungen, mit entscheidender Weichenstellung in den 1990er Jahren (Bologna), vor allem um (Spitzen-)Forschung nach Kriterien des Wettbewerbs- und der Konkurrenz geht. Dabei spielen kritisch zu reflektierende Qualitätsstandards, die an spezifische Wissenschaftsoutputs interessiert sind, eine bedeutende Rolle. An diesen Qualitätskriterien organisieren sich Hierarchien, die zu Ausschluss und Verwerfung und in der Konsequenz zu sozialer Ungleichheit im Wissenschaftssystem führen (können). So betonten die Herausgeber/-innen darauf Bezug nehmend, dass es notwendig ist, Theoriearbeit als nützliche und wertvolle Arbeit anzuerkennen und sie nicht gegenüber etwa empirischen Arbeiten abzuwerten. Viel zu häufig würde Theoriearbeit bloß als Mittel zum Zweck für scheinbar „effizientere“ empirische Arbeiten verstanden. Die Herausgeber/-innen setzen sich dafür ein, dass Theoriearbeit anerkannt wird und damit Ressourcen umverteilt werden. Theorie und Empirie sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern als unterschiedliche Zugänge in der Wissenschaft verstanden werden, die je ihre Daseinberechtigung haben. Welcher Ansatz (un-)bedeutend ist und gemacht wird, ist damit eine soziale Frage und liegt nicht in der Natur der Dinge. Folglich, so die Herausgeber/-innen, ist auch das, was als Klassiker/-in – bisher meistens Männer – gilt, auf einem Feld ausgehandelt worden und wird stets ausgehandelt. Wer, wann, wie zitiert wird, ist nicht losgelöst von den herrschenden Strukturen, Repräsentationen, Ressourcen, Bedingungen etc.
Das Buch adressiert eine interdisziplinäre, eher akademische Leser/-innenschaft aus den Geistes-, Sozial-, Kultur- und/oder Gesellschaftswissenschaften, die sich für Theorie und Kritik interessieren. Ein Gewinn ist es vor allem für Freunde/-innen der Kritischen Theorie, der Diskursanalyse, aber auch Vertreter/-innen der (post-)marxistischen Theorie.

Dr. Eva Tolasch ist Assoziierte und Lehrbeauftragte am Institut für Diversitätsforschung der Uni Göttingen. Vorher war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Gender Studies der Uni München. Sie studierte Soziologie, Politische Wissenschaften mit Vertiefung in der Kriminologie in Kiel und Hamburg.  Arbeitsschwerpunkte: Genderansätze, qualitative Verfahren der Sozialforschung, Mutter-, Vater- und Elternschaft, gleichstellungspolitische Ansätze und Gewaltsoziologie. Kontakt: Eva.Tolasch@sowi.uni-goettingen.de