theorieblog.de | Replik auf Leon Schettler: In der Struktur liegt der Zwang, nicht im Handeln der Akteure

10. September 2015, Braune

Diese Replik auf den Beitrag „Austerität oder Grexit“ versteht sich rein analytisch und möchte auf zwei Dinge aufmerksam machen: Nämlich dass erstens weite Teile der philosophischen Literatur über coercion und allen voran Robert Nozick durchaus geneigt sind, zu einem anderen Schluss als Leon Schettler zu kommen; und dass zweitens das grundlegendere Problem nicht in Handlungsweisen liegt, die Zwang bedeuten, sondern in Strukturen, die diese Handlungsweisen ermöglichen oder gar selbst Zwang verkörpern.

Die Betonung, dass dieser Beitrag rein analytisch gemeint ist, bezieht sich darauf, dass man sich mit dem Formulieren einer Replik schnell dem Verdacht aussetzt, nicht nur mit den analytischen, sondern auch mit den normativen Aussagen des Gegenüber nicht einverstanden zu sein. Um diesen Verdacht auszuräumen, sei zunächst versichert, dass ich die Art und Weise, wie in den vergangenen Monaten zwischen der demokratisch gewählten griechischen Regierung und den (immerhin teilweise auch demokratisch gewählten) Akteuren der Gläubigerseite „verhandelt“ wurde, für ökonomisch falsch und politisch gefährlich gehalten habe. Die postdemokratische Krise der europäischen Demokratien hat sich dadurch nur noch verschärft. Meine Replik zielt vielmehr darauf, dass die normative Kritik besser zu formulieren ist, wenn man auf einen differenzierteren Zwangsbegriff zurückgreift.

1. Wurde Griechenland überhaupt gezwungen?

Leon Schettler hat Recht, wenn er den coercion-Aufsatz Nozicks als bahnbrechend bezeichnet. Er löste in der angloamerikanischen politischen Philosophie eine breite Debatte über den Bedeutungsgehalt von Zwang als coercion aus. Dabei handelt es sich um einen strikt handlungstheoretischen Zwangsbegriff, wie ihn auch Anderson verwendet. Eine der zentralen Fragen dieser Debatte bestand darin, ob neben Drohungen auch Angebote geeignet sind, Instrumente des Zwangs zu sein. Während eher ‚idealistisch‘ gefärbte und linke Autoren dazu neigten, die Frage zu bejahen (exemplarisch: Frankfurt: Coercion and Moral Responsibilty), insistierten vor allem libertäre Autoren wie Nozick darauf, dass Zwang nur dann vorliegt, wenn er mit einer Drohung durchgesetzt wird. Hinter dieser vordergründig nur begriffsanalytischen Frage verbarg sich natürlich die politische Frage, ob das ‚Angebot‘ des Kapitalisten zur Lohnarbeit gegenüber dem Arbeitnehmer ein Instrument des Zwangs sei oder nicht. Wäre das Angebot kein Zwangsinstrument, wäre der ‚freie‘ Arbeitsvertrag aus freiheitsanalytischer Perspektive nicht zu beanstanden.

Wenn man sich nun einmal darauf festgelegt hat, dass nur Drohungen Instrumente des Zwangs sein können, wie man es tut, wenn man Anderson und besonders Nozick folgt, stellt sich natürlich die Frage, wie man zwischen Drohungen und Angeboten unterscheiden kann. Nozick formulierte hier etwas, das Peter Baumann in seiner Auseinandersetzung mit Nozick und dem libertären Zwangsbegriff als „Normalitätserwartung“ bezeichnete. Nozick postulierte einen „normal or natural or expected course of events“ (S. 24, zit. nach dem Neuabdruck in Nozick: Socratic Puzzles), in den der Sprechakt des Zwangsurhebers einbricht. Dieser Sprechakt ist nach Peter Baumann eine „bikonditionale Absichtserklärung“ (S. 224): Wenn Du A, dann ich A‘, wenn Du B, dann ich B‘. Will man nun die Frage entscheiden, ob diese Absichtserklärung ein Angebot oder eine Drohung (und nur damit Zwang) ist, müsse man den Adressaten fragen, ob er das Vorhandensein dieser Absichtserklärung im Lichte des ‚normalen, natürlichen oder zu erwartenden Verlaufs der Dinge‘ begrüßt oder nicht. Nozick dazu: „The Rational Man, once in the offer situation, would not prefer being back in the preoffer situation, whereas the Rational Man in the threat situation would normally prefer being back in the prethreat situation.” (S. 41) Das Kalkül ist klar: Wer einem Straßenräuber begegnet, der einem ‚Geld oder Leben‘ anbietet, würde doch lieber in der „prethreat situation“ sein und dem zu erwartenden Verlauf der Dinge frönen, wie er ohne den Straßenräuber verlaufen wäre. Wer aber durstig durch die Wüste zieht, eine Oase erreicht und von dem Besitzer Wasser angeboten bekommt, vorausgesetzt, er verrät seinen besten Freund, begrüßt und befolgt vielleicht selbst diese bikonditionale Absichtserklärung – und wird demnach nicht gezwungen.

Wie ‚Julian‘ im ersten Kommentar unter dem Artikel auf dem Theorieblogschon andeutete: Unter diesem Verständnis war das letzte Hilfspaket für Griechenland genau das: ein Angebot. Der normale und zu erwartende Verlauf der Dinge lief auf einen Staatsbankrott und damit einen de-facto-Grexit hinaus. In dieser Situation formulierten die Gläubiger einen Sprechakt, der lautete: Nehmt unsere Kredite zu unseren Konditionen ODER tut dies nicht und geht in den Bankrott und Grexit. Griechenland hatte in dieser Situation die ‚freie Wahl‘ – so würden es zumindest Nozick und die ihm folgenden coercion-Theoretiker formulieren – dieses Angebot anzunehmen oder nicht. Zumindest die griechische Regierung (nicht: Bevölkerung) favorisierte das Vorhandensein dieses Sprechaktes gegenüber seinem Nichtvorhandensein und ging auf die in ihm enthaltene Absichtserklärung ein. Folglich: Angebot. Folglich: Kein Zwang. Man nahm das Wasser und verriet den besten Freund; man nahm die Kredite und verriet seine politische und ökonomische Doktrin.

Unterstützt wird diese Schlussfolgerung eines libertären Zwangsbegriffs durch ein weiteres Argument, das dessen Theoretiker vorbrachten: Eine bikonditionale Absichtserklärung ist nur dann eine Drohung (und damit Zwang), wenn das Übel, welches sie in Aussicht stellt, durch den Zwangsurheber selbst herbeigeführt wird (und nur dann sei er auch moralisch für sie verantwortlich). Sowohl A‘ als auch B‘ müssen Handlungen sein, die dem Sprecher selbst als eigene Handlungen zuzuordnen sind. Andernfalls spricht Michael R. Rhodes von ‚Hintergrunddrohungen‘ („background threat“, S. 56-59, 76-78), für die der Urheber der Absichtserklärung nichts kann. Das Verdursten wird durch den Oasenbesitzer nicht selbst herbeigeführt – es ist kein Schaden, den er dem Durstigen androht oder selbst zufügt, er liegt im normalen Verlauf der Dinge, die eintreten, wenn er nichts tut oder der Durstige nicht auf die Oase gestoßen wäre. Die Option ‚Staatsbankrott & de-facto-Grexit‘ war nun in gleicher Weise nichts, welches intentional durch die ehemalige Troika herbeigeführt wurde, sondern selbst Teil des ‚normalen, natürlichen oder zu erwartenden Laufs der Dinge‘ (oder wenigstens versuchte man, es so darzustellen). Man steuerte geradewegs darauf zu, was durch die Medien reichlich ausgeschlachtet und durch die Gläubigerseite reichlich als Verhandlungsdruck eingesetzt wurde. Aber ‚gezwungen‘ wurde Griechenland diesem Zwangsverständnis nach nicht, weil der größere Schaden ohne die ‚Hilfe‘ wie eine ‚Naturgewalt‘ über es gekommen wäre, hätte man das Geschehen nur laufen lassen. Die Troika und die Bundesregierung können daher ihre Hände in Unschuld waschen und weiterhin von Griechenlandhilfe sprechen.

2. Wo liegt also der Zwang?

Aus diesen Überlegungen kann man nun zweierlei entgegengesetzte Schlussfolgerungen ziehen: Griechenland wurde in den ‚Verhandlungen‘ nicht ‚gezwungen‘. Oder aber: der libertäre Zwangsbegriff ist irgendwie einseitig, weil er Phänomene, die wir intuitiv als Zwang auffassen, nicht mit dem Begriff des Zwangs beschreiben möchte. Weil ich das normative Urteil Leon Schettlers teile, tendiere ich zur zweiten Lesart, überspringe aber ein, zwei Argumente, die innerhalb eines strikt handlungstheoretischen Zwangsbegriffs dafür sprechen würden, auch im Griechenland-Fall von Zwang zu sprechen. Dann unterlägen die Zwangsurheber tatsächlich der Notwendigkeit öffentlicher Rechtfertigung, wie Schettler richtigerweise schreibt und wie sie in einem kontraktualistischen Rechtfertigungsmodell durchaus möglich wäre. Vielmehr soll es noch einmal in aller Kürze um den Punkt gehen, dass das Übel, welches Griechenland angeblich angedroht wurde, selbst im normalen Lauf der Dinge lag.

Wir müssen uns dann fragen, wie ein ‚Lauf der Dinge‘ entstehen kann, in dem ein Land in Europa in den Staatsbankrott und, schlimmer noch, dessen Gesellschaft an den Rand der Existenz und des Zerfalls gebracht werden kann. Freilich: Das Land kann Fehler machen, so wie ein privater Schuldner, der Kredit für Kredit versäuft und letztlich allen Kredit verspielt. Das populistische Griechenland-Bashing kennt nur diese Seite. Wir haben es im Falle der Euro-Krise jedoch mit einem systemischen Problem zu tun, das alle Euroländer der Peripherie erfasst hat, was dagegen spricht, dass wir die Krise allein auf individuelle Unzulänglichkeiten der einzelnen Länder zurückführen können. In Griechenland haben sie die Krise vielleicht verschärft, aber nicht ausgelöst. Die neoliberale Reformagenda pflegt den Diskurs, dass sich diese Länder nur anständig ‚regieren‘ müssten (im Sinne der Gouvernementalität und den Techniken des Selbst Foucaults), und schon wären ihre Probleme beseitigt. So einfach ist dies jedoch nicht.

Der ‚normale, natürliche oder zu erwartende Verlauf der Dinge‘, wie ihn Nozick als neutrales Hintergrundgeschehen eines möglichen Zwangsaktes definierte, ist eben nicht neutral, sondern die Folge einer bestimmten Konstellation von Institutionen, Verfahren, Organisationen, Akteuren, Machtverteilungen etc. In diese Konstellationen können erstens Anlässe und Möglichkeiten eingelassen sein, unrechtmäßige Zwangshandlungen im Sinne Nozicks ungestraft auszuführen. Wenn dies so ist, sind es Konstellationen, die Herrschaft im Sinne neorepublikanischer politischer Theorie (Pettit, Skinner etc.) begünstigen. Die Aufgabe anti-herrschaftlicher Politik ist es dann, für Konstellationen zu sorgen, in denen dies weniger der Fall ist.

Zweitens können diese Konstellationen selbst ‚geronnener‘ Zwang, struktureller Zwang sein. Sie bringen dann schon selbst asymmetrische Akteursbeziehungen zum Ausdruck oder reproduzieren oder verschärfen solche Asymmetrien. Terence Ball stellte in der Debatte über den Zwangsbegriff dem handlungstheoretischen Zwangsbegriff Nozicks einen zweiten, strukturellen gegenüber (freilich unter den ideologischen Bedingungen des Kalten Krieges), der sich in den letzten Jahrzehnten reichlich ausdifferenziert hat. Mit ihm sollte arbeiten, wer die Eurokrise jenseits individueller Zwangsakte einzelner Akteure im Lichte des Zwangsbegriffs analysieren möchte. Man käme dann zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen, z. B. der, dass die Art und Weise, wie die Währungsunion konstruiert ist, schon aus ökonomischen Gründen geradezu zwangsläufig auf die Krise hinauslaufen musste, weil sie einen Zentrums-Peripherie-Konflikt verschärfte; oder auch: wie in den europäischen Verträgen die neoliberale Gouvernementalität strukturell festgeschrieben ist. In der Art und Weise, wie die Institutionen gestrickt sind, liegt dann der Zwang, nicht darin, wie die Akteure in ihrem Rahmen handeln. Denn das ist – innerhalb dieser Institutionen – leider allzu oft alternativlos. Die wichtigere Frage ist nicht, ob es moralisch falsch oder politisch unklug ist, Griechenland in der Form zu zwingen, wie es geschehen ist, sondern, warum es überhaupt möglich war. Eine adäquate Schlussfolgerung könnte nach ihrer Beantwortung lauten: Wir brauchen andere Institutionen.

Andreas Braune ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Dissertation „Zwang und Heteronomie in der Politischen Theorie der Moderne“ erscheint in diesem Jahr im Nomos-Verlag.


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