Replik auf Leon Schettler: In der Struktur liegt der Zwang, nicht im Handeln der Akteure

Diese Replik auf den Beitrag „Austerität oder Grexit“ versteht sich rein analytisch und möchte auf zwei Dinge aufmerksam machen: Nämlich dass erstens weite Teile der philosophischen Literatur über coercion und allen voran Robert Nozick durchaus geneigt sind, zu einem anderen Schluss als Leon Schettler zu kommen; und dass zweitens das grundlegendere Problem nicht in Handlungsweisen liegt, die Zwang bedeuten, sondern in Strukturen, die diese Handlungsweisen ermöglichen oder gar selbst Zwang verkörpern.

Die Betonung, dass dieser Beitrag rein analytisch gemeint ist, bezieht sich darauf, dass man sich mit dem Formulieren einer Replik schnell dem Verdacht aussetzt, nicht nur mit den analytischen, sondern auch mit den normativen Aussagen des Gegenüber nicht einverstanden zu sein. Um diesen Verdacht auszuräumen, sei zunächst versichert, dass ich die Art und Weise, wie in den vergangenen Monaten zwischen der demokratisch gewählten griechischen Regierung und den (immerhin teilweise auch demokratisch gewählten) Akteuren der Gläubigerseite „verhandelt“ wurde, für ökonomisch falsch und politisch gefährlich gehalten habe. Die postdemokratische Krise der europäischen Demokratien hat sich dadurch nur noch verschärft. Meine Replik zielt vielmehr darauf, dass die normative Kritik besser zu formulieren ist, wenn man auf einen differenzierteren Zwangsbegriff zurückgreift.

1. Wurde Griechenland überhaupt gezwungen?

Leon Schettler hat Recht, wenn er den coercion-Aufsatz Nozicks als bahnbrechend bezeichnet. Er löste in der angloamerikanischen politischen Philosophie eine breite Debatte über den Bedeutungsgehalt von Zwang als coercion aus. Dabei handelt es sich um einen strikt handlungstheoretischen Zwangsbegriff, wie ihn auch Anderson verwendet. Eine der zentralen Fragen dieser Debatte bestand darin, ob neben Drohungen auch Angebote geeignet sind, Instrumente des Zwangs zu sein. Während eher ‚idealistisch‘ gefärbte und linke Autoren dazu neigten, die Frage zu bejahen (exemplarisch: Frankfurt: Coercion and Moral Responsibilty), insistierten vor allem libertäre Autoren wie Nozick darauf, dass Zwang nur dann vorliegt, wenn er mit einer Drohung durchgesetzt wird. Hinter dieser vordergründig nur begriffsanalytischen Frage verbarg sich natürlich die politische Frage, ob das ‚Angebot‘ des Kapitalisten zur Lohnarbeit gegenüber dem Arbeitnehmer ein Instrument des Zwangs sei oder nicht. Wäre das Angebot kein Zwangsinstrument, wäre der ‚freie‘ Arbeitsvertrag aus freiheitsanalytischer Perspektive nicht zu beanstanden.

Wenn man sich nun einmal darauf festgelegt hat, dass nur Drohungen Instrumente des Zwangs sein können, wie man es tut, wenn man Anderson und besonders Nozick folgt, stellt sich natürlich die Frage, wie man zwischen Drohungen und Angeboten unterscheiden kann. Nozick formulierte hier etwas, das Peter Baumann in seiner Auseinandersetzung mit Nozick und dem libertären Zwangsbegriff als „Normalitätserwartung“ bezeichnete. Nozick postulierte einen „normal or natural or expected course of events“ (S. 24, zit. nach dem Neuabdruck in Nozick: Socratic Puzzles), in den der Sprechakt des Zwangsurhebers einbricht. Dieser Sprechakt ist nach Peter Baumann eine „bikonditionale Absichtserklärung“ (S. 224): Wenn Du A, dann ich A‘, wenn Du B, dann ich B‘. Will man nun die Frage entscheiden, ob diese Absichtserklärung ein Angebot oder eine Drohung (und nur damit Zwang) ist, müsse man den Adressaten fragen, ob er das Vorhandensein dieser Absichtserklärung im Lichte des ‚normalen, natürlichen oder zu erwartenden Verlaufs der Dinge‘ begrüßt oder nicht. Nozick dazu: „The Rational Man, once in the offer situation, would not prefer being back in the preoffer situation, whereas the Rational Man in the threat situation would normally prefer being back in the prethreat situation.” (S. 41) Das Kalkül ist klar: Wer einem Straßenräuber begegnet, der einem ‚Geld oder Leben‘ anbietet, würde doch lieber in der „prethreat situation“ sein und dem zu erwartenden Verlauf der Dinge frönen, wie er ohne den Straßenräuber verlaufen wäre. Wer aber durstig durch die Wüste zieht, eine Oase erreicht und von dem Besitzer Wasser angeboten bekommt, vorausgesetzt, er verrät seinen besten Freund, begrüßt und befolgt vielleicht selbst diese bikonditionale Absichtserklärung – und wird demnach nicht gezwungen.

Wie ‚Julian‘ im ersten Kommentar unter dem Artikel auf dem Theorieblogschon andeutete: Unter diesem Verständnis war das letzte Hilfspaket für Griechenland genau das: ein Angebot. Der normale und zu erwartende Verlauf der Dinge lief auf einen Staatsbankrott und damit einen de-facto-Grexit hinaus. In dieser Situation formulierten die Gläubiger einen Sprechakt, der lautete: Nehmt unsere Kredite zu unseren Konditionen ODER tut dies nicht und geht in den Bankrott und Grexit. Griechenland hatte in dieser Situation die ‚freie Wahl‘ – so würden es zumindest Nozick und die ihm folgenden coercion-Theoretiker formulieren – dieses Angebot anzunehmen oder nicht. Zumindest die griechische Regierung (nicht: Bevölkerung) favorisierte das Vorhandensein dieses Sprechaktes gegenüber seinem Nichtvorhandensein und ging auf die in ihm enthaltene Absichtserklärung ein. Folglich: Angebot. Folglich: Kein Zwang. Man nahm das Wasser und verriet den besten Freund; man nahm die Kredite und verriet seine politische und ökonomische Doktrin.

Unterstützt wird diese Schlussfolgerung eines libertären Zwangsbegriffs durch ein weiteres Argument, das dessen Theoretiker vorbrachten: Eine bikonditionale Absichtserklärung ist nur dann eine Drohung (und damit Zwang), wenn das Übel, welches sie in Aussicht stellt, durch den Zwangsurheber selbst herbeigeführt wird (und nur dann sei er auch moralisch für sie verantwortlich). Sowohl A‘ als auch B‘ müssen Handlungen sein, die dem Sprecher selbst als eigene Handlungen zuzuordnen sind. Andernfalls spricht Michael R. Rhodes von ‚Hintergrunddrohungen‘ („background threat“, S. 56-59, 76-78), für die der Urheber der Absichtserklärung nichts kann. Das Verdursten wird durch den Oasenbesitzer nicht selbst herbeigeführt – es ist kein Schaden, den er dem Durstigen androht oder selbst zufügt, er liegt im normalen Verlauf der Dinge, die eintreten, wenn er nichts tut oder der Durstige nicht auf die Oase gestoßen wäre. Die Option ‚Staatsbankrott & de-facto-Grexit‘ war nun in gleicher Weise nichts, welches intentional durch die ehemalige Troika herbeigeführt wurde, sondern selbst Teil des ‚normalen, natürlichen oder zu erwartenden Laufs der Dinge‘ (oder wenigstens versuchte man, es so darzustellen). Man steuerte geradewegs darauf zu, was durch die Medien reichlich ausgeschlachtet und durch die Gläubigerseite reichlich als Verhandlungsdruck eingesetzt wurde. Aber ‚gezwungen‘ wurde Griechenland diesem Zwangsverständnis nach nicht, weil der größere Schaden ohne die ‚Hilfe‘ wie eine ‚Naturgewalt‘ über es gekommen wäre, hätte man das Geschehen nur laufen lassen. Die Troika und die Bundesregierung können daher ihre Hände in Unschuld waschen und weiterhin von Griechenlandhilfe sprechen.

2. Wo liegt also der Zwang?

Aus diesen Überlegungen kann man nun zweierlei entgegengesetzte Schlussfolgerungen ziehen: Griechenland wurde in den ‚Verhandlungen‘ nicht ‚gezwungen‘. Oder aber: der libertäre Zwangsbegriff ist irgendwie einseitig, weil er Phänomene, die wir intuitiv als Zwang auffassen, nicht mit dem Begriff des Zwangs beschreiben möchte. Weil ich das normative Urteil Leon Schettlers teile, tendiere ich zur zweiten Lesart, überspringe aber ein, zwei Argumente, die innerhalb eines strikt handlungstheoretischen Zwangsbegriffs dafür sprechen würden, auch im Griechenland-Fall von Zwang zu sprechen. Dann unterlägen die Zwangsurheber tatsächlich der Notwendigkeit öffentlicher Rechtfertigung, wie Schettler richtigerweise schreibt und wie sie in einem kontraktualistischen Rechtfertigungsmodell durchaus möglich wäre. Vielmehr soll es noch einmal in aller Kürze um den Punkt gehen, dass das Übel, welches Griechenland angeblich angedroht wurde, selbst im normalen Lauf der Dinge lag.

Wir müssen uns dann fragen, wie ein ‚Lauf der Dinge‘ entstehen kann, in dem ein Land in Europa in den Staatsbankrott und, schlimmer noch, dessen Gesellschaft an den Rand der Existenz und des Zerfalls gebracht werden kann. Freilich: Das Land kann Fehler machen, so wie ein privater Schuldner, der Kredit für Kredit versäuft und letztlich allen Kredit verspielt. Das populistische Griechenland-Bashing kennt nur diese Seite. Wir haben es im Falle der Euro-Krise jedoch mit einem systemischen Problem zu tun, das alle Euroländer der Peripherie erfasst hat, was dagegen spricht, dass wir die Krise allein auf individuelle Unzulänglichkeiten der einzelnen Länder zurückführen können. In Griechenland haben sie die Krise vielleicht verschärft, aber nicht ausgelöst. Die neoliberale Reformagenda pflegt den Diskurs, dass sich diese Länder nur anständig ‚regieren‘ müssten (im Sinne der Gouvernementalität und den Techniken des Selbst Foucaults), und schon wären ihre Probleme beseitigt. So einfach ist dies jedoch nicht.

Der ‚normale, natürliche oder zu erwartende Verlauf der Dinge‘, wie ihn Nozick als neutrales Hintergrundgeschehen eines möglichen Zwangsaktes definierte, ist eben nicht neutral, sondern die Folge einer bestimmten Konstellation von Institutionen, Verfahren, Organisationen, Akteuren, Machtverteilungen etc. In diese Konstellationen können erstens Anlässe und Möglichkeiten eingelassen sein, unrechtmäßige Zwangshandlungen im Sinne Nozicks ungestraft auszuführen. Wenn dies so ist, sind es Konstellationen, die Herrschaft im Sinne neorepublikanischer politischer Theorie (Pettit, Skinner etc.) begünstigen. Die Aufgabe anti-herrschaftlicher Politik ist es dann, für Konstellationen zu sorgen, in denen dies weniger der Fall ist.

Zweitens können diese Konstellationen selbst ‚geronnener‘ Zwang, struktureller Zwang sein. Sie bringen dann schon selbst asymmetrische Akteursbeziehungen zum Ausdruck oder reproduzieren oder verschärfen solche Asymmetrien. Terence Ball stellte in der Debatte über den Zwangsbegriff dem handlungstheoretischen Zwangsbegriff Nozicks einen zweiten, strukturellen gegenüber (freilich unter den ideologischen Bedingungen des Kalten Krieges), der sich in den letzten Jahrzehnten reichlich ausdifferenziert hat. Mit ihm sollte arbeiten, wer die Eurokrise jenseits individueller Zwangsakte einzelner Akteure im Lichte des Zwangsbegriffs analysieren möchte. Man käme dann zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen, z. B. der, dass die Art und Weise, wie die Währungsunion konstruiert ist, schon aus ökonomischen Gründen geradezu zwangsläufig auf die Krise hinauslaufen musste, weil sie einen Zentrums-Peripherie-Konflikt verschärfte; oder auch: wie in den europäischen Verträgen die neoliberale Gouvernementalität strukturell festgeschrieben ist. In der Art und Weise, wie die Institutionen gestrickt sind, liegt dann der Zwang, nicht darin, wie die Akteure in ihrem Rahmen handeln. Denn das ist – innerhalb dieser Institutionen – leider allzu oft alternativlos. Die wichtigere Frage ist nicht, ob es moralisch falsch oder politisch unklug ist, Griechenland in der Form zu zwingen, wie es geschehen ist, sondern, warum es überhaupt möglich war. Eine adäquate Schlussfolgerung könnte nach ihrer Beantwortung lauten: Wir brauchen andere Institutionen.

Andreas Braune ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Dissertation „Zwang und Heteronomie in der Politischen Theorie der Moderne“ erscheint in diesem Jahr im Nomos-Verlag.

5 Kommentare zu “Replik auf Leon Schettler: In der Struktur liegt der Zwang, nicht im Handeln der Akteure

  1. Lieber Andreas Braune,

    vielen Dank für deine Analyse. Genau diese Stoßrichtung hatte auch mein Kurz-Kommentar. Ich würde nur zur Vorsicht beim Neoliberalismus-Begriff im zweiten Teil deines Beitrags raten.

    Gerade Neoliberale wie Milton Friedman oder Joachim Starbatty haben bereits in den 90ern die damals bevorstehende Währungsunion kritisiert und die nun eingetretene Verschuldungskrise recht genau vorausgesagt. Damit verbunden ist dann auch, dass viele Wirtschaftsliberale und Libertäre ebenfalls der Ansicht sind, dass wir eine wirtschaftliche und politische Neuordnung, a change in the rules of the game, brauchen. I.e. die „Neoliberalen“ verstehen die die jetzige europäische Wirtschaftsordnung nicht als neoliberal und haben sie auch nie so verstanden.

  2. Lieber Julian,

    vielen Dank für den Hinweis bezüglich des Neoliberalismus. Es ist richtig, dass viele Neo- und Wirtschafsliberale die EU, die Währungsunion und die Krisenpolitik kritisieren, wie sich ja am Beispiel der früheren FDP anschaulich zeigt. Sie kritisieren sie aber, weil sie zu politisch, zu etatistisch sei. Das effiziente Arbeiten des Marktes werde durch das politisch gewollte und herbeikonstruierte Projekt der Währungsunion behindert. Die im weitesten Sinne linke Kritik moniert hingegen, dass der jetzige Grad der Integration nicht politisch genug sei, dass zu einem gemeinsamen Währungssystem eine gemeinsame Wirtschafs-, Industrie- und Sozialpolitik im keynesianischen Sinne hinzutreten müsse, ebenso wie ein solidarisches System der Staatsfinanzierung. Die Verträge und Institutionen wären wesentlich an ökonomischen Prinzipien orientiert (Freiheit der Zirkulation von Kapital, Waren, Dienstleistungen, Arbeitskraft als Raison d’être der EU), ohne dass sie über das politische Instrumentarium verfügen, das Wirken der Marktkräfte zu steuern und abzufedern. Sofern Neoliberalismus aus linker Perspektive mit Ökonomismus gleichgesetzt wird, stellt sich ihnen das jetzige Institutionengefüge als neoliberal dar. Aber auch das ist ein Kurzschluss, wie Foucault in den Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität zeigt: Der Neoliberalismus ist eine spezifische Regierungstechnik, die alles Verhalten und alle Regularien daraufhin ausrichten will, dass sie marktkonform sind (und somit den Markt erst erzeugt). Wenn EU-Krisenpolitik als Bankenrettungspolitik zur Aufrechterhaltung des Kapitalverkehrs und Griechenland-‚Hilfe‘ als austeritätsfixierte Wiederherstellung von ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ durchgeführt wird; wenn die griechische Demokratie und die europäischen Institutionen ‚marktkonform‘ zu sein haben, dann sind sie diesem Verständnis nach neoliberal, selbst wenn diese Dinge von einer Kanzlerin durchgedrückt werden, die die Neoliberalen fast als Wiedergängerin des Etatismus betrachten.

  3. Nun, mir erschließt sich dann weiterhin nicht, warum man den Foucault’schen ‚Neoliberalismus‘ Begriff in akademischen Debatten benutzt. a) Scheint es sich vor allem um einen Kampfbegriff zu handeln und b) scheint der Begriff doch relativ unscharf zu sein. Beides sollte den Foucault’schen Neoliberalismus-Begriff zumindest in akademischen Debatten eigentlich disqualifizieren.
    Letztlich erschwert der Begriff auch die Debatte zwischen den Lagern, wie in deinem Kommentar auch deutlich wird. Einerseits schreibst du, dass aus einer Foucault’schen Warte die derzeitige ‚Rettungspolitik‘ im Zeichen des ‚Neoliberalismus‘, i.e. nach Markt-Maximen, durchgeführt wird. Zum anderen, so stellst du korrekt heraus, sehen liberale Ökonomen in der Rettungspolitik eine Ausgeburt des Etatismus. Beide Seiten scheinen insofern, wenn auch aus unterschiedlichen Grüden, unzufrieden mit der derzeitigen Politik zu sein.

  4. Lieber Andreas,

    vielen Dank für Deine Replik auf meinen Beitrag!

    In einigen Punkten sind wir ja sehr nah beieinander. Auf den von Dir formulierten Dissens möchte ich gerne eingehen.

    Dein erster Einwand lautet, dass man mit einem liberalen, handlungsorientierten Verständnis von Zwang nicht zu dem Schluss kommt, dass Zwang in den Griechenlandverhandlungen angewandt wurde. Du begründest diese Einschätzung mit dem „natürlichen Verlauf der Dinge“ sowie mit der für Zwang notwendigen Kongruenz zwischen Urheber und Vollstrecker einer Drohung.

    Begründung No. 1: der zu erwartende, normale Verlauf der Dinge wäre der Staatsbankrott/“Grexit“ gewesen. In dieser Situation hat die Troika ein Angebot gemacht, welches Griechenland letztlich besser stellte als zuvor.

    Ich finde es falsch, den drohenden Staatsbankrott Griechenlands als „natürlichen Lauf der Dinge“ zu charakterisieren. Denn der Euro ist ein Gemeinschaftsprojekt, in dem alle daran beteiligten Mitglieder miteinander verwoben sind und langfristig Verantwortung füreinander übernommen haben. Dementsprechend betrifft die Griechenlandkrise die Eurozone als Ganzes. Sich hier nicht gemeinschaftlich um eine Lösung zu bemühen hätte nichts mit „dem natürlichen Lauf der Dinge“ zu tun gehabt, sondern wäre – zu Recht – vollkommen unvorstellbar gewesen. Der „Grexit“ wäre daher auch keine „Naturkatastrophe“ oder eine extreme Wetterbedingung gewesen, sondern eine unter vielen möglichen Handlungsoptionen – die Wüsten-Analogie führt hier in die Irre.

    Begründung No.2: Eine Absichtserklärung ist nur dann eine Drohung (und damit Zwang), wenn das angedrohte Übel durch den Zwangsurheber selber herbeigeführt werden kann.

    Hier bin ich der Ansicht, dass die deutsche Bundesregierung durch ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Eurozone durchaus in der Lage gewesen wäre, einen „Grexit“ zu forcieren. Ob in Form eines noch konsequenteren Eintretens für einen „Grexit auf Zeit“ oder indirekt in Form vollkommen inakzeptabler Bedingungen – die dt. Regierung hätte diese Drohung im Zweifel auch im Alleingang wahr machen können. Schäubles Drohung war glaubwürdig und wurde von allen Beteiligten auch entsprechend ernst genommen.

    Dein zweites Argument lautet, dass ein struktureller Zwangsbegriff besser geeignet sei als ein handlungstheoretischer, um die normative Kritik an den Verhandlungen zu formulieren.

    Wir sind uns darin einig, dass bestimmte Konstellation von Institutionen, Regeln, Verfahren und Macht die Ausübung von Zwang überhaupt erst ermöglichen. Genau darauf zielt mein Fazit ab in dem ich vorschlage die Architektur Europas so zu reformieren, dass die ungerechtfertigte Ausübung von Zwang unmöglich gemacht wird.

    Du scheinst jedoch eine Konzeption strukturellen Zwangs zu bevorzugen, welche die Ausübung von Zwang den Strukturen selbst zuschreibt. Diese Reduktion auf strukturelle Schieflagen deutet für mich jedoch nicht auf einen differenzierten, sondern im Gegenteil auf einen sehr eindimensionalen Zwangsbegriff hin. Die Verantwortung der Akteure, welche die strukturell angelegten Möglichkeiten zur Zwangsausübung bewusst ausnutzen, wird mit diesem Verständnis von Zwang unmöglich. Doch das Handeln der deutschen Regierung (und der Troika) war eben nicht „alternativlos“. Thomas Piketty, Jeffrey Sachs und Dani Rodrick haben u.a. in ihrem offenen Brief an Angela Merkel ja einige der Alternativen aufgezeigt. Die dt. Regierung kann ihre Hände daher auch nicht „in Unschuld waschen“. Sie trägt – im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen – Verantwortung. Die Interdependenz von Struktur und Akteur zu verkennen halte ich daher für analytisch unbefriedigend und für politisch gefährlich.

    Am Ende stimmen wir dann wieder überein. Wo Du schreibst, die entscheidende Frage sei nicht, „ob es moralisch oder politisch unklug ist, Griechenland in der Form zu zwingen, wie es geschehen ist, sondern warum es überhaupt möglich war“, gebe ich Dir grundsätzlich Recht. Zufügen würde ich allerdings: Es war politisch unklug und moralisch verwerflich, Griechenland die Austerität aufzuzwingen. Die dt. Regierung sollte die Verantwortung für ihren Anteil daran übernehmen indem sie sich für eine umfassende Reform jener Strukturen einsetzt, die ihr dieses Fehlverhalten überhaupt erst ermöglichten.

  5. @ Julian:
    Ich glaube nicht, dass der Foucault’sche Neoliberalismus-Begriff (so es ihn denn gibt) ein Kampfbegriff ist. Was er uns lehrt, ist die Einsicht, dass Neoliberalismus eine spezifische Regierungstechnik ist. In der popularisierten Vorstellung von Neoliberalismus finden wir oft den Dualismus von Markt und Staat: Neoliberale seien die, die mehr Markt und weniger Staat wollen, während ihre Kritiker mehr Staat und weniger Markt verlangten. Diese simple Vorstellung nach dem Modell kommunizierender Röhren ist jedoch verkürzt. Es geht nicht darum, wieviel Intervention durch den Staat in einen angeblich von allein funktionierenden Markt gerechtfertigt oder aus Effizienzgründen geboten ist. Was Foucault betont, ist der Umstand, dass es diesen ‚Markt‘ ohne den Staat gar nicht gäbe, dass er ihn durch eine Reihe von Politiken erst herstellt (und das verkennen diejenigen Liberalen, die dem Modell kommunizierender Röhren und der Vorstellung von einem ‚natürlichen‘ Markt anhängen). Neoliberalismus ist dann, wie ich geschrieben habe, die Regierungstechnik, die die Individuen und Institutionen in diesen durch die Politik hergestellten Marktmechanismus zwingt, und zwar auch diejenigen Institutionen, die gar nicht Teil der Ökonomie im engeren Sinne sind (Partnerschaft, Bildungssystem, Hochschulen, Kunst und Kultur, Politik etc.). Ich glaube, dass mit dieser Analyse viel gewonnen ist, weil die Kolonisation der Lebenswelt durch den Neoliberalismus viel besser erkannt werden kann als durch ein simples Markt-vs.-Staat-Modell.

    @ Leon:
    Ich bin froh, dass wir in der grundsätzlichen Einschätzung einig sind und die Differenzen nur im Detail liegen oder vielleicht sogar nur auf Missverständnissen beruhen.
    Ich wollte mit meiner Replik und den dort entfalteten Argumenten nur darauf aufmerksam machen, dass eine bestimmte Ausprägung des handlungstheoretischen Zwangsbegriffs geeignet ist, das Vorliegen von Zwang in der Griechenland-Krise überhaupt zu leugnen. Dann gäbe es auch nichts zu rechtfertigen. Für diese Argumentationsweise habe ich zwei Argumente vorgestellt. Auffällig ist, dass sie in der öffentlichen Diskussion immer wieder von der Gläubigerseite oder Vertretern der Austeritäts-Politik bemüht oder wenigstens verbal bedient wurden. Man ‚schliddert‘ in den Grexit hinein statt ihn herbeizuführen. Griechenland stehe es frei, die Verhandlungen jederzeit abzubrechen und das Angebot auszuschlagen etc. Rhetorisch ging es der Gläubigerseite darum, die Verantwortung für das eigene Handeln auf Griechenland und den ‚natürlichen Lauf der Dinge‘ abzuwälzen. Der handlungstheoretische Zwangsbegriff, wie ich ihn geschildert habe, half bei dieser rhetorischen Strategie. Einig sind wir uns darin, dass man sie mit dieser Strategie nicht durchkommen lassen sollte. Ich bin völlig einer Meinung mit Dir, dass die Konstruktion eines ‚natürlichen‘ (oder: versehentlichen) Grexit nur Teil dieser Strategie war und dass er ganz bewusst und gezielt von den Akteuren hätte herbeigeführt werden können. Insofern stand tatsächlich eine Drohung im Raum.
    Bei den Institutionen und dem strukturellen Zwang sind wir uns ja auch weitgehend einig: Natürlich fallen die Strukturen nicht vom Himmel oder sind naturgegeben, und natürlich erlegen sie den Akteuren keine absoluten Handlungsimperative auf. Schon im Rahmen der gegebenen Strukturen sind Alternativen möglich. Aber die Strukturen können fest und weniger fest sein, und in Anbetracht der juridischen Fixierung der europäischen Institutionen und Verfahren gewinnt man den Eindruck einer zunehmenden Verfestigung und Schließung von Möglichkeitsräumen. Und diese Schließung wird teilweise von den politischen Akteuren vollzogen, nicht zuletzt um ökonomische Doktrinen in Recht zu verfestigen. Ein schönes Beispiel sind die Schuldenbremsen, die in Europa überall in den Rang von Verfassungsrecht gegossen wurden oder werden sollen. Oder die juridischen Barrieren einer Rekommunalisierung der Daseinsvorsorge. Oder der Versuch, durch juridische Fixierung Eurobonds und eine solidarische Staatsfinanzierung zu verunmöglichen. Usw. usf. Die politisch Handelnden schlagen sich selbst Optionen aus der Hand und verstecken sich hinter diesen Fixierungen, so als seien sie in Stein gemeißeltes ewiges Gesetz. Wirksam werden sie dann aber eben als struktureller Zwang, der Möglichkeitsräume geschlossen hat und im Sinne einer bestimmten Doktrin wirksam wird.

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