theorieblog.de | Austerität oder ‚Grexit‘! Andersons Konzeption von Zwang und die Griechenlandkrise

31. August 2015, Schettler

Die weitläufige Auffassung, dass die Eurogruppe mit Griechenland vor drei Wochen über ein weiteres Rettungspaket „verhandelt“ habe, führt in die Irre. Denn Verhandlungen zu führen bedeutet die auf Freiwilligkeit basierende Erörterung eines Sachverhaltes mit dem Ziel der Herbeiführung eines Interessensausgleichs zwischen den Verhandlungspartnern. Tatsächlich aber handelte es sich bei dieser Interaktion im Kern um einen durch politische Drohungen erzeugten Druck, der Griechenland dazu bewegte, etwas gegen seinen eigenen Willen zu tun – kurz: es handelte sich um „Zwang“. Insbesondere die deutsche Bundesregierung hat dabei bewusst ihre Macht eingesetzt, um Griechenland ihren Vorstellungen zu unterwerfen. Diese Einsicht ist zentral, da sie in moralischer wie politischer Hinsicht folgenreich für das Nachdenken über eine bessere Europäische Union ist.

In seinem Aufsatz „Of Theories of Coercion, Two Axes, and the Importance of the Coercer“ unterteilt Scott A. Anderson die philosophische Literatur zu Zwang in jene, die den Fokus auf den Unterworfenen lenkt, und jene, welche den Unterdrücker in den Mittelpunkt stellt. Ein klassisches Beispiel für den ersten Ansatz ist laut Anderson in dem von Robert Nozick verfassten, bahnbrechenden Aufsatz „Coercion“ wiederzufinden. In diesem Aufsatz schlägt Nozick eine Reihe von Bedingungen vor, um die Wahrheit der Aussage „P zwingt Q“ zu beurteilen. Vereinfacht postuliert Nozick, dass P nur dann Zwang auf Q ausübt, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

1. P aims to keep Q from choosing to perform action A;
2. P communicates a claim to Q;
3. P’s claim indicates that if Q performs A, then P will bring about some consequence that would make Q’s A-ing less desirable to Q than Q’s not A-ing;
4. P’s claim is credible to Q;
5. Q does not do A;
6. Part of Q’s reason for not doing A is to lessen the likelihood that P will bring about the consequence announced in (3)

Typisch an dieser Konzeption ist, in einer Beziehung unter Zwangsverdacht eine ex ante Ausgangsposition des Unterdrückten Q zu definieren, mit der die ex post Situation verglichen wird. Nur bei einer Verschlechterung kann man von „Zwang“ reden. Wenn ich von einem Räuber überfallen werde, der mit „Geld oder Leben!“ droht, hat eine Verschlechterung im Verhältnis zu meiner ex ante Position stattgefunden. Wenn ich hingegen einer Winzerin ihren besten Wein abkaufen möchte und diese den Preis so hoch ansetzt, dass ich ihn mir partout nicht leisten kann, hat sich meine Ausgangssituation nicht verschlechtert. Es läge kein Zwang vor – ganz gleich, wie sehr ich den Wein begehre.

Die Konstruktion einer Ausgangsposition hilft Konzeptionen mit Fokus auf die Unterworfenen demnach dabei, Zwangsausübung von anderen Interaktionsformen zu unterscheiden. Wir sehen die Welt mit den Augen derjenigen, deren Kosten-Nutzen-Kalkül einer Handlung durch eine Drohung durcheinander gebracht wurde. Die Folge: Die Person tut nun etwas, was sie ohne diese Drohung nicht getan hätte. Auf die jüngste Griechenlandkrise angewandt: In der Interaktion mit der Eurogruppe (P) wurde Griechenland (Q) durch Androhung eines „Grexit“ dazu gebracht, Maßnahmen durchzusetzen, welche der griechischen Regierung und der Bevölkerung zutiefst missfielen (das Ergebnis des Referendums spricht hier eine eindeutige Sprache).

A  veure que diu ara la suposada Europa avançada i demòcrata...Foto: Jean Paul Pellisier (Reuters)#OXI #Grefenderum

So weit, so (un-)gut. Doch hier stehen zu bleiben, würde bedeuten, die Kerndynamik einer Zwangsbeziehung aus den Augen zu verlieren. Anderson ist darin zuzustimmen, dass es letztendlich doch der Unterdrücker ist, der den Löwenanteil der Verantwortung für den Charakter dieser Beziehung trägt. Eine Theorie des Zwangs muss daher eindeutig beschreiben können, wie Zwang möglich und effektiv wird. Hierfür hilft uns nur der Blick auf den Urheber der Zwangsbeziehung – die Unterdrückerin. Sie entscheidet nach Anderson, wen sie zwingt, was sie fordert, welche Konsequenzen angedroht werden und ob die Drohung im Zweifel in die Tat umgesetzt wird. 1) Machtasymmetrien, 2) eine Analyse der Verwundbarkeit des Gegenübers in einer strategischen Situation, 3) der Ausschluss von Alternativen und 4) die Durchsetzung des eigenen Willens im Falle konfligierender Interessen – all dies sind typische Merkmale einer auf Zwang basierenden Interaktion. Es sind ebenso jene Merkmale, welche 5) die verheerenden Konsequenzen ungerechtfertigter Zwangsausübung verständlich machen. Die Relevanz dieser Perspektive wurde im Zuge der Griechenlandkrise deutlich.

1) Machtasymmetrien
Zunächst ist klar: Wer Zwang ausüben möchte, braucht Macht. Je größer die Machtasymmetrie, desto günstiger ist die Anwendung von Zwang für den Unterdrücker. Griechenland ist ein Staat, der in Europa politisch wie ökonomisch eher bescheiden ins Gewicht fällt. Hätte die Schuldenkrise Italien (oder gar Frankreich) zuerst erwischt, wären die Verhandlungen wohl anders verlaufen. Insbesondere die deutsche Bundesregierung verfügte gegenüber Griechenland als mit Abstand größter Kreditgeber unter den Euroländern und als „economic powerhouse“ ganz Europas über sehr viel Macht. Auch wenn Griechenland sich bei den letzten Krisengipfeln 18 Finanzministerinnen und Staatsoberhäuptern gegenüber sah – Deutschland war der zentrale, der richtungsweisende Akteur innerhalb der Eurogruppe. Entsprechend ernst wurde von den Verhandlungspartnern Schäubles Vorschlag/Drohung eines „Grexit auf Zeit“ genommen, der de facto einen vollständigen „Grexit“ bedeutet hätte.

2) Die Verwundbarkeit des Gegenübers
Noch verheerender als die nun verabschiedeten Reformen wäre voraussichtlich der Austritt Griechenlands aus dem Euroverbund gewesen. In den fünf Fällen, in denen in der Vergangenheit im Zuge einer Krise die Währung umgestellt werden musste, kam es stets zu einschneidenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen. Der Import zentraler Wirtschaftsgüter wie Energie, Nahrungsmittel und Medikamente wäre aufgrund der stark abgewerteten Drachme nicht mehr möglich gewesen; Land und Immobilien hätten voraussichtlich zu äußerst niedrigen Preisen zum Verkauf gestanden. Konfrontiert mit einer „Wahl“ zwischen Pest und Cholera, wählte Tsipras das geringere und doch sehr beachtliche Übel Austerität.

3) Der Ausschluss von alternativen Handlungsoptionen des Gegenüber
Im Falle Griechenlands hätte es zu den verabschiedeten Maßnahmen freilich Alternativen gegeben, welche – im Einklang mit den Interessen der griechischen Regierung – den Haushalt konsolidiert und umfassende wirtschaftliche Aktivität ermöglicht hätten. Die Kopplung der Rückzahlung von Schulden an die wirtschaftliche Entwicklung, progressive Steuererhöhungen (s. Vorschlag der griechischen Regierung vom 22. Juni) und ein anti-zyklisches Investitionsprogramm sind nur einige prominente Beispiele.

4) Die Durchsetzung eigener Interessen
Statt auf einseitige Deflation in Griechenland zu setzen, hätte Deutschland, dessen Exportwirtschaft seit langem enorm von dem schwachen Eurokurs profitiert, höhere Investitionen tätigen und einen Anstieg der Löhne akzeptieren können. Doch Merkel und Schäuble nutzten ihre Macht gezielt, um einseitige Sparmaßnahmen, die Kürzung des letzten Strohhalms sozialer Sicherung, insbesondere der Renten, sowie die Umverteilung der Schuldenlast auf die unteren Schichten durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gegenüber Griechenland durchzusetzen. Wie Christian Volk in seinem Theorie-Blogbeitrag „Die Entdemokratisierung Europas geht in eine neue Runde“ treffend antizipierte, wurden die Griechen zudem zur Aufgabe ihres Anspruchs auf kollektive Selbstbestimmung gezwungen. Immerhin müssen nun alle Gesetzesvorlagen, welche in das griechische Parlament eingebracht werden, vorab von der Kommission abgenickt werden. Zum allgemeinen Verdruss trugen schließlich Vorschriften bei, die in einer fragwürdigen Detailliertheit u.a. die Deregulierung griechischer Bäckereien sowie die Öffnung von Geschäften am Sonntag vorsahen.

5) Die verheerenden Konsequenzen ungerechtfertigter Zwangsausübung
Andersons Fokus auf den Unterdrücker erlaubt uns – im Gegensatz zu ex ante-/ex post Vergleichen – klar zu sehen, dass das Ergebnis einer Zwangsinteraktion nicht auf höhere Mächte (etwa eine Naturkatastrophe) zurückzuführen ist, sondern auf das intentionale Handeln von P. Dies ist eine Einsicht, die so banal wie wichtig ist. Denn Griechenland ein so umfassendes Sparprogramm aufzuzwingen, hat Kosten verursacht, die weit über die finanziellen Aspekte hinausgehen. Anders als bei wütenden Wirbelstürmen führt die Anwendung von Zwang zum Gefühl der Demütigung bei jenen, die der Macht hilflos ausgeliefert sind. Wer sich gedemütigt fühlt, ist zutiefst verunsichert. Das Bedürfnis, die damit einhergehende Scham loszuwerden, übertrumpft meist alle anderen Bedürfnisse. Ein möglicher Kanal ist die eigene Aufwertung um jeden Preis. Konkret erwächst daraus die Gefahr, dass rechtsextreme Kräfte wie die „Goldene Morgenröte“ in Griechenland ungemein gestärkt werden. Für Europa wächst die Gefahr, von einem ihrer Mitglieder langfristig als Aggressor wahrgenommen zu werden. Widerstand gegen die Umsetzung der erzwungenen Sparmaßnahmen, europäische Integration und eine außenpolitische Neuausrichtung Griechenlands sind denkbare Folgen. Dieses aus einer Demütigung entstehende Gefahrenpotential hat die deutsche Regierung offensichtlich nicht mit im Blick gehabt.

Gerade weil Zwang mit massiven Eingriffen in die Freiheit verbunden ist, sind Autoren wie John Rawls, Jonathan Quong, Gerald Gaus und Jürgen Habermas – bei allen Differenzen – darin einig, dass die rechtmäßige Ausübung von Zwang auf ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung angewiesen ist. Dieses Prinzip wurde im Zuge von Krisengipfeln hinter verschlossenen Türen jedoch außer Acht gelassen.

Fazit
Die Lehren, die aus dem letzten Höhepunkt der nun schon lang anhaltenden Griechenland-Krise zu ziehen sind, sollten daher klar sein: Zwischen europäischen Mitgliedstaaten darf es künftig nie wieder zu einer solchen Zwangsausübung kommen. Auch wenn alle Euromitglieder sich ursprünglich einmal aus freien Stücken für die Währungsunion entschieden haben, ist klar, dass große ökonomische Ungleichgewichte immer wieder zu Machtasymmetrien führen werden. Damit diese nicht zur Ausübung von ungerechtfertigtem Zwang ausgenutzt werden können, brauchen wir gemeinschaftliche Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren, in denen Parlamente eine gewichtigere Rolle einnehmen als ein deutscher Finanzminister. Auch der Aufbau einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik können dazu beitragen, Machtasymmetrien und die negativen Effekte der Währungsunion auszugleichen. Deutschland ist politisch wie moralisch besonders in die Verantwortung zu nehmen – wegen seiner Geschichte, kraft seiner derzeitigen Vormachtstellung im Euroraum und aufgrund der umfassenden Euro-Dividende, die es seit seiner Einführung einfährt.
Statt der Demütigung anderer Länder ist nun Demut vor der Idee einer europäischen Gemeinschaft angesagt.

Leon Schettler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich (SFB) 700 „Governance in Räumen begrentzter Staatlichkeit“. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Diskursmacht zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Etablierung und Anfechtung globaler Normen.


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