Die weitläufige Auffassung, dass die Eurogruppe mit Griechenland vor drei Wochen über ein weiteres Rettungspaket „verhandelt“ habe, führt in die Irre. Denn Verhandlungen zu führen bedeutet die auf Freiwilligkeit basierende Erörterung eines Sachverhaltes mit dem Ziel der Herbeiführung eines Interessensausgleichs zwischen den Verhandlungspartnern. Tatsächlich aber handelte es sich bei dieser Interaktion im Kern um einen durch politische Drohungen erzeugten Druck, der Griechenland dazu bewegte, etwas gegen seinen eigenen Willen zu tun – kurz: es handelte sich um „Zwang“. Insbesondere die deutsche Bundesregierung hat dabei bewusst ihre Macht eingesetzt, um Griechenland ihren Vorstellungen zu unterwerfen. Diese Einsicht ist zentral, da sie in moralischer wie politischer Hinsicht folgenreich für das Nachdenken über eine bessere Europäische Union ist.
In seinem Aufsatz „Of Theories of Coercion, Two Axes, and the Importance of the Coercer“ unterteilt Scott A. Anderson die philosophische Literatur zu Zwang in jene, die den Fokus auf den Unterworfenen lenkt, und jene, welche den Unterdrücker in den Mittelpunkt stellt. Ein klassisches Beispiel für den ersten Ansatz ist laut Anderson in dem von Robert Nozick verfassten, bahnbrechenden Aufsatz „Coercion“ wiederzufinden. In diesem Aufsatz schlägt Nozick eine Reihe von Bedingungen vor, um die Wahrheit der Aussage „P zwingt Q“ zu beurteilen. Vereinfacht postuliert Nozick, dass P nur dann Zwang auf Q ausübt, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
1. P aims to keep Q from choosing to perform action A;
2. P communicates a claim to Q;
3. P’s claim indicates that if Q performs A, then P will bring about some consequence that would make Q’s A-ing less desirable to Q than Q’s not A-ing;
4. P’s claim is credible to Q;
5. Q does not do A;
6. Part of Q’s reason for not doing A is to lessen the likelihood that P will bring about the consequence announced in (3)
Typisch an dieser Konzeption ist, in einer Beziehung unter Zwangsverdacht eine ex ante Ausgangsposition des Unterdrückten Q zu definieren, mit der die ex post Situation verglichen wird. Nur bei einer Verschlechterung kann man von „Zwang“ reden. Wenn ich von einem Räuber überfallen werde, der mit „Geld oder Leben!“ droht, hat eine Verschlechterung im Verhältnis zu meiner ex ante Position stattgefunden. Wenn ich hingegen einer Winzerin ihren besten Wein abkaufen möchte und diese den Preis so hoch ansetzt, dass ich ihn mir partout nicht leisten kann, hat sich meine Ausgangssituation nicht verschlechtert. Es läge kein Zwang vor – ganz gleich, wie sehr ich den Wein begehre.
Die Konstruktion einer Ausgangsposition hilft Konzeptionen mit Fokus auf die Unterworfenen demnach dabei, Zwangsausübung von anderen Interaktionsformen zu unterscheiden. Wir sehen die Welt mit den Augen derjenigen, deren Kosten-Nutzen-Kalkül einer Handlung durch eine Drohung durcheinander gebracht wurde. Die Folge: Die Person tut nun etwas, was sie ohne diese Drohung nicht getan hätte. Auf die jüngste Griechenlandkrise angewandt: In der Interaktion mit der Eurogruppe (P) wurde Griechenland (Q) durch Androhung eines „Grexit“ dazu gebracht, Maßnahmen durchzusetzen, welche der griechischen Regierung und der Bevölkerung zutiefst missfielen (das Ergebnis des Referendums spricht hier eine eindeutige Sprache).
So weit, so (un-)gut. Doch hier stehen zu bleiben, würde bedeuten, die Kerndynamik einer Zwangsbeziehung aus den Augen zu verlieren. Anderson ist darin zuzustimmen, dass es letztendlich doch der Unterdrücker ist, der den Löwenanteil der Verantwortung für den Charakter dieser Beziehung trägt. Eine Theorie des Zwangs muss daher eindeutig beschreiben können, wie Zwang möglich und effektiv wird. Hierfür hilft uns nur der Blick auf den Urheber der Zwangsbeziehung – die Unterdrückerin. Sie entscheidet nach Anderson, wen sie zwingt, was sie fordert, welche Konsequenzen angedroht werden und ob die Drohung im Zweifel in die Tat umgesetzt wird. 1) Machtasymmetrien, 2) eine Analyse der Verwundbarkeit des Gegenübers in einer strategischen Situation, 3) der Ausschluss von Alternativen und 4) die Durchsetzung des eigenen Willens im Falle konfligierender Interessen – all dies sind typische Merkmale einer auf Zwang basierenden Interaktion. Es sind ebenso jene Merkmale, welche 5) die verheerenden Konsequenzen ungerechtfertigter Zwangsausübung verständlich machen. Die Relevanz dieser Perspektive wurde im Zuge der Griechenlandkrise deutlich.
1) Machtasymmetrien
Zunächst ist klar: Wer Zwang ausüben möchte, braucht Macht. Je größer die Machtasymmetrie, desto günstiger ist die Anwendung von Zwang für den Unterdrücker. Griechenland ist ein Staat, der in Europa politisch wie ökonomisch eher bescheiden ins Gewicht fällt. Hätte die Schuldenkrise Italien (oder gar Frankreich) zuerst erwischt, wären die Verhandlungen wohl anders verlaufen. Insbesondere die deutsche Bundesregierung verfügte gegenüber Griechenland als mit Abstand größter Kreditgeber unter den Euroländern und als „economic powerhouse“ ganz Europas über sehr viel Macht. Auch wenn Griechenland sich bei den letzten Krisengipfeln 18 Finanzministerinnen und Staatsoberhäuptern gegenüber sah – Deutschland war der zentrale, der richtungsweisende Akteur innerhalb der Eurogruppe. Entsprechend ernst wurde von den Verhandlungspartnern Schäubles Vorschlag/Drohung eines „Grexit auf Zeit“ genommen, der de facto einen vollständigen „Grexit“ bedeutet hätte.
2) Die Verwundbarkeit des Gegenübers
Noch verheerender als die nun verabschiedeten Reformen wäre voraussichtlich der Austritt Griechenlands aus dem Euroverbund gewesen. In den fünf Fällen, in denen in der Vergangenheit im Zuge einer Krise die Währung umgestellt werden musste, kam es stets zu einschneidenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen. Der Import zentraler Wirtschaftsgüter wie Energie, Nahrungsmittel und Medikamente wäre aufgrund der stark abgewerteten Drachme nicht mehr möglich gewesen; Land und Immobilien hätten voraussichtlich zu äußerst niedrigen Preisen zum Verkauf gestanden. Konfrontiert mit einer „Wahl“ zwischen Pest und Cholera, wählte Tsipras das geringere und doch sehr beachtliche Übel Austerität.
3) Der Ausschluss von alternativen Handlungsoptionen des Gegenüber
Im Falle Griechenlands hätte es zu den verabschiedeten Maßnahmen freilich Alternativen gegeben, welche – im Einklang mit den Interessen der griechischen Regierung – den Haushalt konsolidiert und umfassende wirtschaftliche Aktivität ermöglicht hätten. Die Kopplung der Rückzahlung von Schulden an die wirtschaftliche Entwicklung, progressive Steuererhöhungen (s. Vorschlag der griechischen Regierung vom 22. Juni) und ein anti-zyklisches Investitionsprogramm sind nur einige prominente Beispiele.
4) Die Durchsetzung eigener Interessen
Statt auf einseitige Deflation in Griechenland zu setzen, hätte Deutschland, dessen Exportwirtschaft seit langem enorm von dem schwachen Eurokurs profitiert, höhere Investitionen tätigen und einen Anstieg der Löhne akzeptieren können. Doch Merkel und Schäuble nutzten ihre Macht gezielt, um einseitige Sparmaßnahmen, die Kürzung des letzten Strohhalms sozialer Sicherung, insbesondere der Renten, sowie die Umverteilung der Schuldenlast auf die unteren Schichten durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gegenüber Griechenland durchzusetzen. Wie Christian Volk in seinem Theorie-Blogbeitrag „Die Entdemokratisierung Europas geht in eine neue Runde“ treffend antizipierte, wurden die Griechen zudem zur Aufgabe ihres Anspruchs auf kollektive Selbstbestimmung gezwungen. Immerhin müssen nun alle Gesetzesvorlagen, welche in das griechische Parlament eingebracht werden, vorab von der Kommission abgenickt werden. Zum allgemeinen Verdruss trugen schließlich Vorschriften bei, die in einer fragwürdigen Detailliertheit u.a. die Deregulierung griechischer Bäckereien sowie die Öffnung von Geschäften am Sonntag vorsahen.
5) Die verheerenden Konsequenzen ungerechtfertigter Zwangsausübung
Andersons Fokus auf den Unterdrücker erlaubt uns – im Gegensatz zu ex ante-/ex post Vergleichen – klar zu sehen, dass das Ergebnis einer Zwangsinteraktion nicht auf höhere Mächte (etwa eine Naturkatastrophe) zurückzuführen ist, sondern auf das intentionale Handeln von P. Dies ist eine Einsicht, die so banal wie wichtig ist. Denn Griechenland ein so umfassendes Sparprogramm aufzuzwingen, hat Kosten verursacht, die weit über die finanziellen Aspekte hinausgehen. Anders als bei wütenden Wirbelstürmen führt die Anwendung von Zwang zum Gefühl der Demütigung bei jenen, die der Macht hilflos ausgeliefert sind. Wer sich gedemütigt fühlt, ist zutiefst verunsichert. Das Bedürfnis, die damit einhergehende Scham loszuwerden, übertrumpft meist alle anderen Bedürfnisse. Ein möglicher Kanal ist die eigene Aufwertung um jeden Preis. Konkret erwächst daraus die Gefahr, dass rechtsextreme Kräfte wie die „Goldene Morgenröte“ in Griechenland ungemein gestärkt werden. Für Europa wächst die Gefahr, von einem ihrer Mitglieder langfristig als Aggressor wahrgenommen zu werden. Widerstand gegen die Umsetzung der erzwungenen Sparmaßnahmen, europäische Integration und eine außenpolitische Neuausrichtung Griechenlands sind denkbare Folgen. Dieses aus einer Demütigung entstehende Gefahrenpotential hat die deutsche Regierung offensichtlich nicht mit im Blick gehabt.
Gerade weil Zwang mit massiven Eingriffen in die Freiheit verbunden ist, sind Autoren wie John Rawls, Jonathan Quong, Gerald Gaus und Jürgen Habermas – bei allen Differenzen – darin einig, dass die rechtmäßige Ausübung von Zwang auf ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung angewiesen ist. Dieses Prinzip wurde im Zuge von Krisengipfeln hinter verschlossenen Türen jedoch außer Acht gelassen.
Fazit
Die Lehren, die aus dem letzten Höhepunkt der nun schon lang anhaltenden Griechenland-Krise zu ziehen sind, sollten daher klar sein: Zwischen europäischen Mitgliedstaaten darf es künftig nie wieder zu einer solchen Zwangsausübung kommen. Auch wenn alle Euromitglieder sich ursprünglich einmal aus freien Stücken für die Währungsunion entschieden haben, ist klar, dass große ökonomische Ungleichgewichte immer wieder zu Machtasymmetrien führen werden. Damit diese nicht zur Ausübung von ungerechtfertigtem Zwang ausgenutzt werden können, brauchen wir gemeinschaftliche Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren, in denen Parlamente eine gewichtigere Rolle einnehmen als ein deutscher Finanzminister. Auch der Aufbau einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik können dazu beitragen, Machtasymmetrien und die negativen Effekte der Währungsunion auszugleichen. Deutschland ist politisch wie moralisch besonders in die Verantwortung zu nehmen – wegen seiner Geschichte, kraft seiner derzeitigen Vormachtstellung im Euroraum und aufgrund der umfassenden Euro-Dividende, die es seit seiner Einführung einfährt.
Statt der Demütigung anderer Länder ist nun Demut vor der Idee einer europäischen Gemeinschaft angesagt.
Leon Schettler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich (SFB) 700 „Governance in Räumen begrentzter Staatlichkeit“. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Diskursmacht zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Etablierung und Anfechtung globaler Normen.
Hallo Leon,
es ist absolut zu begrüßen, dass Philosophen ihr analytisches Instrumentarium ansetzen, um aktuelle Probleme besser in den Griff zu bekommen. Ich habe zwei Verständnisfragen:
a) Du schreibst, dass eine notwendige Bedingung für Zwang ist, dass es zu einer Verschlechterung gegenüber dem Ausgangspunkt kommt. Der Ausgangspunkte für Griechenland war offenkundig der Staatsbankrott (SB). Die griechische Regierung hat schlichtweg keine Kreditgeber mehr gefunden, weder staatliche noch private. Die griechische Regierung präferiert offenkundig Austeritätspolitik + neue Kredite (AK) gegenüber dem Staatsbankrott. AK>SB. Insofern hat sie durch die Verhandlungen besser gestellt. Wenn diese Rekonstruktion stimmig ist, scheint gar kein Zwang im Spiel gewesen zu sein.
b) Wenn wir (a) einmal beiseite lassen, stellt sich eine weitere Frage. Manchmal ist Zwang geboten. Die Frage ist insofern, ob die Zwangsäusübung der Bundesregierung, des IWFs und der Europäischen Union nicht gerechtfertigt war. Soweit ich es sehe, gehst du im Text nicht auf diese Frage ein. Mir scheint jedoch, dass die Troika gute Gründe für Ihr Vorgehen hatte. Griechenland hat mehrfach Bilanzen geschönigt, bzw. gefälscht und sich an Vereinbarungen nicht gehalten. Man könnte insofern sogar argumentieren, dass es moralisch geboten ist, die griechische Regierung für Ihren Wortbruch zu bestrafen. Man könnte weiter argumentieren, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für die Stabilisierung der Euro-Zone hat und gerade deswegen hart gegen Trittbrettfahrer, die die gesamte Union gefährden, vorgehen muss.
beste Grüße + Dank,
Julian
Lieber Julian,
ich danke Dir für Dein Interesse an dem Beitrag + für Deine Rückfragen. Gerne möchte ich darauf eingehen.
Zu a)
Es ist sicher richtig, dass Tsipras eine Austeritätspolitik + neue Kredite (AK) dem Staatsbankrott (SB) vorgezogen hat. Allerdings sehe ich den Ausgangspunkt anders.
Vorab: Die griechische Regierung hat keine Kredite mehr gefunden. Korrekt. Doch der Euro ist ein gemeinschaftliches Unterfangen. Gewinne und Risiken, welche aus diesem Verbund hervorgehen, sollten daher gerecht verteilt werden – in guten wie in schlechten Zeiten. Dies ist für mich der `Ausgangspunkt 1´ vor dem `Ausgangspunkt 2´ der Verhandlungen.
Zu letzterem: Ich denke, dass zu Beginn der Verhandlungen zwischen der Eurogruppe und der griechischen Regierung alle realistisch denkbaren Handlungsoptionen den Ausgangspunkt definieren. SB war ein Szenario und AK ein zweites. Doch es gab eben auch Alternativen.
Ein weiteres Szenario war, zumindest einen Teil der Schulden zu erlassen. Weitet man die Perspektive, gerät sofort die Möglichkeit einer von mehreren Schultern getragenen Anpassung der großen Ungleichgewichte im Euroraum in den Blick, beispielsweise durch mehr Investitionen und höhere Löhne in Deutschland. Dies war ggf. das Wunsch-Szenario der griechischen Regierung – WSGr.
Statt Mehrwertsteuererhöhung und Rentenkürzungen hätte man u.a. durch eine Modernisierung der Verwaltung, Privatisierungen, eine Erhöhung der Einkommens- und Vermögenssteuer sowie eine Kopplung der Schuldenrückzahlungen an das Wirtschaftswachstum den Haushalt sanieren UND wirtschaftliche Aktivität ermöglichen können – also wirtschaftliche Genese + Kredite (WGK) statt AK.
Kurz: es gab eine Vielzahl von Optionen. Mathematisch sah es am Ausgangspunkt für Griechenland also eher so aus:
WSGr > WGK > ………..………. > AK > SB.
Der Punkt ist nun, dass aus der Sicht Griechenlands AK und SB wahrhaftig große Übel darstellen. AK beinhaltet neben Austerität ja auch noch eine weitgehende Aufgabe des Anspruchs auf kollektive Selbstbestimmung (s. Artikel). Hier noch von einer „Wahl“ („präferierte“) zu sprechen halte ich in der Tat für problematisch. Das SB noch schlimmer war als AK, ist kein Argument gegen, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Zwang.
Zu b)
Ich gebe Dir völlig Recht: Manchmal ist Zwang geboten.
Wenn ein Räuber mir mit „Geld oder Leben“ droht und zufällig eine Gruppe gut trainierter Kickboxer*innen vorbei kommt, die den Räuber zur Aufgabe seines Vorhabens zwingen zum Beispiel.
Grundsätzlich scheint mir Zwang als Mittel, um eine unmittelbar drohende Verletzung basaler Menschenrechte abzuwenden, geboten. Doch jenseits dieser wohl eher seltenen, eindeutigen Fälle, wird es schwieriger.
Ohne in dieser Antwort eine Theorie zur rechtmäßigen Ausübung von Zwang in der Eurogruppe formulieren zu wollen, möchte ich als Replik auf Deine Frage drei Überlegungen zur Diskussion stellen.
1) Vor dem Hintergrund einer egalitären Moralauffassung, ist die Ausübung von Macht zwischen Menschen mit gleichem moralischem Status zunächst problematisch. Ohne weitere Spezifizierung, gilt dasselbe für die Anwendung von Zwang zwischen politischen Gemeinschaften. Zwang ist eine besonders drastische Form, Macht auszuüben, da die Autonomie des Gegenübers in besonderem Maße eingeschränkt wird. An die Ausübung von Zwang sind daher sehr hohe Legitimitätsanforderungen geknüpft.
2) Im Hinblick auf staatliche Institutionen bilden demokratische Verfahren (verstanden als inklusive und faire Partizipation, Transparenz, Deliberation und Rechtschaffenheit) eine mögliche Quelle zur Legitimation von Zwang. Sie können Regierungen ein `Recht zu regieren´ verleihen, welches die zwangsbewehrte Durchsetzung kollektiv verbindlicher Regeln beinhaltet.
3) In dem Aufsatz streife ich das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung. Mit „öffentlich“ ist gemeint, dass die Rechtfertigung allgemein verständlich und transparent sein muss. Desweiteren muss eine Rechtfertigung aus der jeweiligen Perspektive von Personen mit ganz verschiedenen philosophischen, religiösen und moralischen Überzeugungen gelingen. Dabei können die Gründe für die Akzeptanz einer Rechtfertigung divergieren. Notwendig ist laut Rawls ein übergreifender Konsens, um eine Regel als „öffentlich gerechtfertigt“ anerkennen zu können.
Diese Prinzipien auf die Verhandlungen zwischen Griechenland und der Eurogruppe anzuwenden ist nicht ganz leicht. Klar scheint mir jedoch, dass es in der Interaktion nicht um die unmittelbare Durchsetzung von Menschenrechten ging. Darüber hinaus hat die hektische Abfolge von Krisengipfeln einen wahrhaft demokratischen Prozess und somit die Möglichkeit einer öffentlichen Rechtfertigung der Ergebnisse verhindert. Die Macht der EZB und des IWF im Zuge dieser Verhandlungen hat dieses Problem verschärft.
Hier schließt sich der Bogen zur ersten Antwort. Der Euro ist ein tiefreichendes Gemeinschaftsprojekt. Die relevante Öffentlichkeit ist die europäische. Es darf daher – ganz gleich, ob Griechenland Bilanzen fälscht oder nicht – nicht die Aufgabe einer (deutschen) Regierung sein, Zwang gegen eines der Mitglieder anzuwenden. Die EZB, der IWF oder die Regierungschefs der Eurogruppe erfüllen die hierfür notwendigen Legitimationsanforderungen ebenfalls nicht. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen wäre in vielerlei Hinsicht ein Rückschritt. Was bleibt ist für mich daher eine Stärkung des Europäischen Parlamentes und somit der europäischen Demokratie.
Einen schönen Abend wünsche ich,
Leon
Hi Leon,
selbstverständlich haben hier nicht Partner auf Augenhöhe verhandelt. Man kann der Ansicht sein, dass das fortlaufende Scheitern der Rettungspolitik in Griechenland, trotz großer sozialer Härten, der Beweis für eine ungerechte und falsche Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Eurozone ist. Danach hätte Griechenland nicht als Bittsteller, sondern als „das andere Europa“ gleichberechtigt auf der anderen Seite des Verhandlungstisches gesessen.
Das sind aber meines Erachtens politische Phantasien. De facto ging es und geht es um die Verhandlung eines Korridors innerhalb des verbredeten Regelwerks der Gemeinschaft, Versagen Einzelner sowie unvorhergesehene Schocks zu überstehen. In dem Rahmen kann sowieso kein Mitglied der Gemeinschaft für sich in Anspruch nehmen, autonom und souverän seine nationalen Interessen zu verhandeln. Da alle gemeinsam füreinander haften, sollte es eigentlich keine Verhandlungssituation a gegen b geben. Gab es ja auch nicht wirklich. Die Gläubiger waren in den letzten Wochen mindestens in 2 Gruppen gespalten.
Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass Griechenland TROTZ seiner jahrzehntelangen Fehler (Korruption, falsche Haushaltsführung, überbordende Ausgaben, schlechter Umgang mit EU Fördergeldern, etc) und isolierten Abhängigkeit noch ein ziemlich starker Verhandlungsakteur war. Tsipras hat das gewusst und genau diese Karte mit seinen „wir lassen uns nicht erpressen“ Auftritten im Wahlkampf gespielt. Er hatte ja Recht mit seiner Annahme, dass mindestens die Europäer so schnell keinen fallen lassen können. Schon aus ureigenen Interessen. Und es waren auch die Griechen selbst, die diesen starken Trumpf beinahe verspielt hätten, weil Varoufakis ihn überreizt hat und die anderen Mitglieder der Eurogruppe im Frühjahr den Eindruck gewinnen mussten, dass die Syriza Regierung schlicht nicht in der Lage wäre, selbst bei bestem Willen alle Europartner, Griechenland professionell aus der Krise zu steuern.
Schäuble hat wirklich viel Scheiße gebaut als es im Juli eng wurde. Aber seine Aussage (nach dem Wechsel von Varoufakis zu Tsakalotos), dass es scheinbar doch einen Unterschiedd macht welche Person Finanzminister ist, ist glaubwürdig.
Lieber David,
auch Dir vielen Dank für den Beitrag!!
Du schreibst, dass es gar keine Verhandlungskonstellation „A gegen B“ gegeben habe, sondern mehrere Verhandlungspartner an einem Tisch saßen. Ich gebe Dir Recht darin, die Positionen zu zwei Blöcken zugespitzt und die Realität damit etwas vereinfacht zu haben. Dennoch sehe ich hier durchaus 2 Parteien. Auf der einen Seite stand eindeutig Griechenland, denn hier werden die konkreten Reformen ja auch durchgeführt. Auf der anderen Seite ist die Gruppe der Gläubiger nicht homogen – einverstanden. Ich halte jedoch daran fest, dass Deutschland seine quasi-hegemonialen Stellung innerhalb der Eurozone dazu nutzte, die Forderungen auf Seiten der Gläubiger maßgeblich zu beeinflussen. Die letztlich beschlossenen Bedingungen für weitere Kredite spiegeln diesen Einfluss entsprechend gut wieder.
Des Weiteren siehst Du in Griechenland einen starken Verhandlungsakteur, da die anderen europäischen Staaten einen „Grexit“ nicht wollen konnten. Ich teile die Auffassung, dass ein „Grexit“ für ganz Europa mit sehr hohen Kosten verbunden gewesen wäre. Doch während die Eurozone einen „Grexit“ wohl verkraftet und einige Regierungen (z.B. die deutsche) angesichts entsprechender Umfragewerte sogar politisch Kapital daraus geschlagen hätten, hätte er für Griechenland selbst eine wirtschaftliche Katastrophe bedeutet. Tsipras hätte sonst die Sparauflagen, die Entmündigung des griechischen Parlamentes sowie die Spaltung seiner eigenen Partei wohl auch nicht in Kauf genommen.
Schließlich: Natürlich macht es einen Unterschied, wie gut oder schlecht ein Finanzministerium besetzt ist. Doch der Verweis auf das z.T. sicher ungeschickte Verhalten von Varoufakis geht am eigentlichen Problem vorbei. Unstrittig ist, dass Griechenland Zahlen beschönigt und wichtige Reformen versäumt hat. Doch ob Syriza, Nea Demokratia oder sonst wer – keine politische Kraft konnte und kann Griechenland angesichts der wiederholt aufgezwungenen Austerität aus der Krise befreien.
Noch stärker ging es mir in dem Beitrag aber darum, dass wir derzeit nicht über die Verfahren verfügen, welche zwangsbewährte Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen für die Bevölkerung einzelner Mitgliedstaaten legitimieren könnten.
Julian ging in seinem Kommentar oben von einem Modell aus, nach dem Griechenland auf freiwilliger Basis einem Vertrag beigetreten ist, den es jetzt bitteschön auch einzuhalten habe. Ich finde es ganz richtig, dass Du, David, hier die „unvorhergesehenen Schocks“ nennst. Das ist genau der Punkt. Anders, als bei anderen Verträgen, ist die Entwicklung des Euro von einer Reihe systemischer Faktoren (wie der Entwicklung der Weltwirtschaft), sowie dem Verhalten einer Vielzahl von Akteuren (Regierungen, privaten Unternehmen, Banken etc.) abhängig. Juri Viehoff argumentiert (u.a. in einem sehr guten Ethik-Podcast zu diesem Thema), dass uns aufgrund dieser Komplexität der Ursachen für eine Finanz- und Schuldenkrise 1) ein voluntaristisches Vertragsmodell in die Irre führt und das wir 2) statt einer akteurzentrierten eine institutionelle Perspektive einnehmen müssen. Ich stimme uneingeschränkt zu.
Die Frage wäre dann nicht mehr „Wer hat Schuld?“, sondern „Wie können wir unsere Institutionen so reformieren, dass wir die Kosten und Nutzen einer gemeinsamen Währungsunion gerecht verteilen und dabei die Grundprinzipien demokratischer Selbstbestimmung wahren?“.