Zwei Stimmen zu Griechenland

Die Situation in Griechenland spitzt sich zu. Nachdem die Verhandlungen zwischen der griechischen Regierung und den “Institutionen” am Wochenende zu keinem Ergebnis geführt haben, rückt der griechische Staat an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Immer öfter und immer lauter wird über die Möglichkeit eines “Grexit” gesprochen, eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone. Für den kommenden Sonntag hat die griechische Regierung ein Referendum über das jüngste Angebot der “Institutionen” angekündigt, verbunden mit der klaren Empfehlung, dieses Angebot abzulehnen. –– Wir wollen mit euch darüber diskutieren, wie diese Entwicklungen einzuschätzen und zu bewerten sind, was sie für die Zukunft Griechenlands und Europas bedeuten. Den Auftakt hierfür bilden zwei Kommentare von Bernd Ladwig (Berlin) und Christian Volk (Trier), die wir für euch im Folgenden zusammengestellt haben.

Bernd Ladwig: Warum Syriza gescheitert ist – eine Hypothese

Warum gingen die Verhandlungen mit der neuen griechischen Regierung so furchtbar schief? Manche mögen sagen: weil sich die Spieltheoretiker um Varoufakis verzockt haben. Aber das hätten gewiefte Spieler schneller merken müssen: Es zeichnete sich schon ab, als der frühe Versuch der Syriza-geführten Regierung, Deutschland im Euroraum zu isolieren, stattdessen mit einer Selbstisolierung Griechenlands endete. Wer danach genau so weiterspielte, war entweder Dilettant – oder hatte eine andere Agenda.

Eine zweite Antwort lautet: weil Merkel und die anderen neoliberalen Bösewichter die griechischen Streiter für ein solidarisches Europa unbedingt kleinkriegen wollten und diesen deshalb keinen Verhandlungserfolg gönnten. Nun mag das mit Blick auf Schäuble oder auch den IWF noch eine Spur von Glaubwürdigkeit besitzen. Aber zu den von der griechischen Verhandlungsführung Genervten gehören noch ganz andere; die Reihe wurde täglich länger. Gabriel, Steinmeier, Martin Schulz, Juncker, Dijsselbloem: alles neoliberale Merkel-Knechte? Oder eher Leute, die nichts mehr fürchteten als ein Platzen der Illusionsblase „Einmal im Euro, immer im Euro“? Leute, die Europapolitik als ein zähes Ringen um Kompromisse und Konsense kannten, als eine Veranstaltung, deren Drögheit garantierte, dass keiner von der Stange ging? Leute, die sich nun konfrontiert fanden mit der Sprunghaftigkeit und dem polternden Ton einer Truppe, die es fertigbrachte, die eigenen Verhandlungsangebote anderntags als unverschämtes Fremddiktat zu verdammen?

Diesem letzten Eindruck folgend, möchte ich eine andere Hypothese zur Diskussion stellen: Mit der griechischen Regierung ist das Politikverständnis einer postmodernistischen Linken (kurz: Pomo-Linken). an praktische Grenzen gestoßen. Wen ich damit meine? Jeder kennt die Pomo-Linke, der, wie ich, das zweifelhafte Vergnügen hat, in Gremien der Freien Universität Berlin zu sitzen. Das Studentische ist überhaupt ihr Lebenselixier. Nun aber durften auch die Europa-Profis mit ihr Bekanntschaft machen – und sie waren „not amused“. Sie erlebten eine Truppe, die den redelastigen, forderungsfreudigen und verabredungsscheuen Politikstil eines Allgemeinen Studierendenausschusses in die europäischen Institutionen trug.

Die Pomo-Linke geht aus von einer vernünftigen Grundeinsicht, die sie aber durch Übertreibung ruiniert. Die Einsicht lautet, dass das Soziale eine Konstruktion sei und also grundsätzlich auch anders sein könnte. So weit, so richtig, ja trivial. Also wiederholt die Pomo-Linke bis zum Überdruss: Alles könnte ganz anders sein, wenn wir es nur wollten. Alles ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Alles hängt davon ab, wie wir es betrachten und bezeichnen.
Nun ist richtig, dass soziale Tatsachen nicht unabhängig sind von den Einstellungen, die Menschen zu ihnen einnehmen. Ohne diese Einstellungen gäbe es keine Kanzlerinnen, keinen Wechselkurse und keinen Währungsfonds. Es gäbe nicht einmal Deutschland oder Griechenland. Trotzdem führt der Spruch „Alles könnte anders sein, wenn…“ leicht in die Irre. Soziale Tatsachen sind nämlich nicht nur sozial, also durch uns entstanden, sondern auch Tatsachen, also mitnichten beliebig und auf einen Schlag änderbar. Zu den sozialen Tatsachen gehört zum Beispiel, dass Geld nicht auf den Bäumen wächst und man es auch nicht nach Belieben nachdrucken kann, ohne dass Menschen irgendwann am Wert der Währung zweifeln.

Zu den sozialen Tatsachen im Euroraum gehören auch Rechtsregeln, Vereinbarungen, Verfahrensvorschriften, eingespielte Erwartungen und Vetopositionen. Ein formeller Schuldenschnitt, dem erst noch neunzehn nationale Parlamente ihren Segen geben müssten, kann nicht mal eben auf Chefebene von Merkel und Tsipras für alle verbindlich verkündet werden. Sicher sind europäisches Regelwerk und Routinen auch nicht in Granit gehauen. Aber wer sie ändern wollte, müsste sich eben auf das mühselige Geschäft des Änderns sozialer Tatsachen einlassen. Dafür aber genügen keine metatheoretischen Pirouetten auf der Eisfläche „Kontingenz“, dafür reicht nicht das Abnudeln der Langspielplatte „Alles könnte auch anders sein“.

Damit kein Missverständnis entsteht: Die Pomo-Linke ist zum Glück nicht die einzige Linke, die es gibt. Es gibt auch Linke, die um die soziale Gemachtheit der sozialen Welt wissen und sich dennoch nicht im Wunschdenken verlieren. Einer solchen Linken fühle ich mich verbunden. Sie denkt, dass mit der Entscheidung für eine Währungsunion funktional wie normativ der Weg vorgezeichnet war zu einer Fiskalunion, zu einer Art europäischem Länderfinanzausgleich und letztlich zu einer politischen Union. Und sie hält in der Krise eher eine keynesianische Politik für angebracht als eine prozyklische Politik des forcierten Sparens. Aber die Syriza-Regierung hat nichts dazu beigetragen, die Basis für eine solche Politik in Europa zu verbreitern. Und sie hat zusätzliche Zweifel daran gesät, dass eine weitere Vertiefung der europäischen Integration mit diesem Griechenland und seinen extraktiven Institutionen möglich wäre.

Auch wollte ich nicht gesagt haben, dass die Pomo-Linke immer und überall nur Verwirrung stiften und Schaden anrichten kann. Sie hat ihr relatives Recht und ihren sozialen Ort. Sie spielt eine wichtige, vielleicht unverzichtbare Rolle in sozialen Bewegungen wie Blockupy, die außerinstitutionell Druck machen, (auch) damit sich innerinstitutionell etwas ändern kann. Das Elend mit der Tsipras-Regierung ist nur, dass sich hier die Pomo-Linke ins europäische Verhandlungssystem verirrt hat. Das erklärt teilweise die Verwirrung und Verärgerung der anderen und ihr eigenes Scheitern. Und es wird wohl leider schlimme Folgen vor allem für Millionen Griechen haben – Folgen, die wir zu den sozialen Tatsachen über unser Europa werden addieren müssen, an denen sich nichts ändert, nur weil manche sie nicht wahrhaben wollen.

Christian Volk: Die Entdemokratisierung Europas geht in eine neue Runde

Die Konfliktparteien in der griechischen Schuldenkrise scheinen buchstäblich „die Sache gegen die Wand gefahren zu haben“ – und mit „der Sache“ ist hier nicht nur der Staatsbankrot Griechenlands gemeint, sondern mittelfristig auch die Europäische Union gleich selbst. Denn was sich hier als die Eurogruppe plus (ehemalig) Troika etabliert, ist ein supranationales Monstrum aus Technokratie und Exekutivföderalismus, das nicht nur alle zaghaften institutionellen und vertraglich festgehaltenen (!!!) Bemühungen um Demokratisierung der EU seit Monaten vollständig ad absurdum führt, sondern auch vielen anderen Gesellschaften innerhalb der EU vor Augen führt, was ihnen droht, wenn sie sich gegen die mit „neu-deutscher Robustheit“ (Habermas) diktierte, gegenwärtig Staats- und Regierungschefs übergreifende Version vom richtigen Wirtschaften stellen. Sowohl als spanische oder portugiesische BürgerIn als auch als AnhängerIn einer demokratischen EU kann einem hier nur Angst und Bange werden. Ein solches Regieren in Europa ist extrem gefährlich. Sollte die griechische Regierung wirklich die vorgesehenen Reformauflagen (siehe ‚list of prior actions‚) akzeptieren, könnten sie das griechische Parlament für die nächsten Jahre schließen. Der Gestaltungsspielraum in zentralen Politikfelder wäre dann nämlich gleich null – von der Mehrwertsteuer über die finanz- und strukturpolitischen Maßnahmen, die Rentenreform, die Neustrukturierung der öffentlichen Verwaltung ist sprichwörtlich bis auf den Prozentpunkt alles vorgegeben. Und, das sei hier angemerkt, lediglich um dieses Hilfspaket zu verlängern. Weitere werden folgen müssen, die sicher nicht weniger detailliert den politischen Gestaltungsspielraum von Parlament und Regierung einschränken würden.

Die paternalistischen Analogien vom „Hausaufgaben-Machen“, vom „Einsehen, dass man über die eigenen Verhältnisse gelebt habe“ sind ebenfalls Teil einer Entmündigungsstrategie. Neben der Tatsache, dass solche Analogien den politischen Gegner infantilisieren, verweisen sie auf einen Mangel an politischer Urteilskraft. Die griechische Regierung vertritt eine Position, für die sie von den griechischen WählerInnen legitimiert worden ist – und für die sie, wenn am Samstag Referendum ist, eine gnadenlose Mehrheit bekommen wird. Diese Position mag den deutschen und restlichen VerhandlungsführerInnen nicht passen – und das teils sogar mit guten Gründen. Auch ist das Auftreten der Regierung um Tsipras grenzwertig bis naiv – das von manchem Verhandlungsführer auf der Gegenseite ist jedoch nicht weniger fragwürdig. Aber darum darf es im Kern in einer so brisanten Lage nicht gehen − und es geht auch nicht darum. Was hier auf der europäischen Bühne exerziert werden soll, ist ein ökonomischer Weltanschauungsstreit. Statt die Frage im Blick zu halten, wie die Schuldenkrise Griechenlands so gelöst werden könne, dass sie dort nicht zu weiteren sozialen Verwüstungen (60% Jugendarbeitslosigkeit etc.) führt, dass sie Griechenland ein Zukunftsperspektive bietet und dass sie die politisch-institutionelle Krise der EU nicht noch weiter verschärft, wird hier ein Exempel statuiert: Marktkonformität im Konsolidierungsstaat oder raus! Wer so agiert, wird in der Tat „in der Mülltonne der Geschichte enden“ (Piketty), denn er opfert nicht nur alle Bemühungen einer nachhaltigen Demokratisierung der supranationalen Ebene dem Dogma der Marktkonformität, sondern in eklatanter Weise auch die parlamentarische Demokratie Griechenlands. Dabei ist es doch völlig offensichtlich, dass man den griechischen Staat weder zur Rückzahlung der Schulden verdonnern noch ihm weitere Sparmaßnahmen abverlangen kann. Beides ist nicht möglich und wird auch nicht passieren. Rentenkürzungen vor dem Hintergrund des griechischen „Sozialsystems“ (ein System ohne Arbeitslosenversicherung) ist ein staatlich verordnetes Pauperismus-Programm. Keine griechische Regierung – heute oder in Zukunft – kann ein solches Programm umsetzen, ohne dass sie aus dem Land gejagt wird. Politik hat immer auch etwas mit dem Anerkennen von Realitäten zu tun – und in gleicher Weise wie etliche Forderungen und Bestrebungen von Syriza unrealistisch sind und waren, so sind auch diese Forderungen schlicht unrealistisch – mögliches Investitionsprogramm hin oder her.

Was als Beobachter des ganzen Schauspiels schließlich in besonderer Weise frustriert, ist die geringe Anteilnahme, die Gleichgültigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gegenüber den Konsequenzen einer von Deutschland maßgeblich dominierten Politik in Griechenland – gepaart mit dem Mangel an Verständnis für die Folgen, die diese Geschichte für die Zukunft Europas haben wird. Wie bestimmte Zeitungen und Medien die „Jetzt reicht es“-Rhetorik zelebrieren und die Tatsache abfeiern, dass jetzt sogar Sigmar Gabriel „entsetzt“ sei, hat mit ernsthaften und kritischem Journalismus überhaupt nichts mehr tun. Getoppt wird das Ganze nur noch vom geschichtsvergessenen Chauvinismus des deutschsprachigen Boulevard in dieser Angelegenheit. Er suggeriert, dass sich hierzulande jeder und jede den „faulen Griechen“ überlegen fühlen darf – als ob die Tatsache, dass er, sie oder ich einen Arbeitsplatz haben, in erster Linie von unseren individuellen Qualitäten abhinge. Wir könnten unser Glück ja mal in Griechenland versuchen!

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie an der Freien Universtität Berlin. Christian Volk ist Juniorprofessur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier und war viele Jahre Mitglied des Theorieblog-Redaktionsteams.

21 Kommentare zu “Zwei Stimmen zu Griechenland

  1. Ein klarer, zupackender Kommentar, lieber Kris Trotzdem fehlt mir etwas Entscheidendes: Du sagst nicht, warum die nationalen Parlamente der anderen Eurostaaten weiteren Griechenlandhilfen zustimmen sollten, ohne jedwede Garantien, dass das Geld ihrer Steuerzahler nicht verschwendet ist. Und dass Griechenland tiefgreifende institutionelle und auch politisch-kulturelle Veränderungen nötig hat, hin zu einer einheitlichen Grundsicherung anstelle des Durcheinanders wild wuchernder Privilegien, mit einer effektiven Steuerverwaltung und -fahndung etc., scheint mir unbestreitbar. Ich finde, „No taxation without representation“ ist ein gültiger Grundsatz demokratischer Legitimität. Natürlich könnte sich Griechenland all die detaillierten Auflagen ersparen, indem es den Euroraum verließe. Gerade aber wer, wie jüngst wieder Habermas, für eine fiskalische, soziale und politische Union eintritt, müsste eigentlich noch ein viel höheres Maß an wirtschafts- und geldpolitischer Vereinheitlichung ins Auge fassen. Er müsste bereit sein, die Haushaltshoheit der nationalen Parlamente noch viel weiter gehend zu beschränken – Habermas, der Lordsiegelbewahrer demokratischer Legitimität sagt erstaunlicherweise nicht, warum er glaubt, dies sei es, was die real existierenden Bürger in Europa heute mehrheitlich wollen. Jedenfalls aber könnte ein solidarisches Europa sicher nicht auf den Grundsatz gebaut sein: „Wir entscheiden national über die Schulden, alle anderen hauen uns notfalls wieder raus“. Also sehe ich eigentlich nur zwei stimmige Möglichkeiten: entweder eine Vertiefung der europäischen Integration, mit mehr gemeinsamen Regeln, die dann m.E. gern auch keynesianischer sein dürften, oder ein Ausscheiden von Staaten, die dazu nicht bereit oder in der Lage sind, aus der gemeinsamen Währung. Griechenland hätte dann menschenrechtliche Ansprüche z.B. auf Subventionierung der Einfuhr von Energie und Medikamenten, um humanitäre Notlagen zu vermeiden; aber es könnte eben nicht mehr von den Steuerzahlern anderer Staaten eine milliardenschwere Mithaftung für seine ureigenen politischen Entscheidungen verlangen.

  2. Ein kleiner Nachtrag: Die zwei Möglichkeiten sind natürlich eigentlich nur eine: Vertiefung der Integration und Austritt der Staaten, die dies nicht mitmachen wollen oder können.

  3. „Wenn konstruktive Opposition unmöglich ist, bleibt für diejenigen, die sich nicht damit begnügen wollen, auf Lebenszeit Schulden abzuzahlen, die andere für sie aufgenommen haben, nur destruktive Opposition. Sie ist nötig, um die retardierende Wirkung der Restdemokratie in Nationalstaaten zu verstärken. Wenn demokratisch organisierte Staatsvölker sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern zu sichern, könnte es verantwortlicher sein, es auch einmal mit unverantwortlichem Verhalten zu versuchen.“ (Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin (Ja, Berlin!): Suhrkamp 2013, S. 218).

  4. Kurz zu Text No.1 von Prof. Ladwig

    Ich bin nicht in einem Gremium der FUB. Habe aber einiges über die Postmoderne gelesen und mich durch die Primärtexte durchgeackert und ärgere mich immer wieder über Verkürzungen. Warum hier der Kurzschluss Pomo-Linke und Griechenlandkrise versucht wird, ist mir schleierhaft. Schließlich kann es viele Gründe geben, die diese Krisensituation so derart zugespitzt haben. U.a. auch, dass eine frisch gewählte linke griechische Regierung faktisch in einer fast aussichtlosen Situation vernünftig, rational, erwartbar, kalkulierbar usw. mit einer komplexen strategischen Regierungssitation umgehen können soll. Es war fast erwartbar, dass sie es nicht in einer erwartbaren Weise zugehen wird in einer Situation, die für alle – zumindest viele – Akteure Neues birgt, wie auch immer, vermeintlich, Kontingenz behaftet ist.

    Regieren muss man lernen und nicht gleich, wenn es darauf ankommt. Zugleich ist dieses Erlernen ein Verlernen – nicht umsonst regiert Merkel eine gefühlte Ewigkeit in einem wabberden Exzess des gefühlt gleichen Hergangs der Dinge und spickt dieses Regieren mit kurios „postmodernistischen Wendungen“, die wie entscheidungstechnische Stepptänze erscheinen. Postmodern doppeldeutig? Ja, nein, vielleicht?

    An die Macht gekommen ist die gr. Linke in einer Notsituation. Möglicherweise ist sie viel zu verspielt und unbedarft, um dieser Situation adäquat zu begegnen. Das mag sein. Sollte aber auch nur so benannt werden. Die Postmoderne selbst, wenn es sie überhaupt gibt, ist eine ernsthafte Angelegenheit, manchmal hochgradig konservativ und überhaupt nicht angelegt die Realitäten in Kontingenzschnippsel zerfallen zu lassen.

  5. Lieber Bernd,
    lass mich mit deinem ersten Punkt beginnen: Warum die nationalen Parlamente der anderen Eurostaaten weiteren Griechenlandhilfen zustimmen sollten, ohne jedwede Garantien, dass das Geld ihrer Steuerzahler nicht verschwendet ist?
    Garantien gibt es im Bereich des Politischen bekanntlich selten, aber du hast von der Tendenz her recht. Mein Argument wäre, dass der Schuldenschnitt her muss. Zum einen verlangt das die politische Weitsicht. A) Griechenland kommt aus dieser Schuldenkrise nicht raus – auch nicht mit einem Austritt aus der Währungsunion. Auch in diesem Fall müssten massive Hilfszahlungen erfolgen, um den Staatszerfall zu verhindern. B) Sollte Griechenland die Währungsunion verlassen – was meines Wissens nach nur über den Austritt aus der EU funktioniert, in die es dann wieder eintreten könnte ohne den Euro anzunehmen. (Alternativ könnte es ein Verfahren wegen Vertragsbruchs geben auf der Grundlage des Wiener Abkommens für den Fall, dass Griechenland demnächst Drachmen auszahlt. Aber das ist unklar wegen des Verhältnisses von Europarecht zu Völkerrecht.) Also: sollte Griechenland wirklich die EU verlassen, dann ist das in meinen Augen ein Desaster für das Projekt eines demokratischen Europas. Nicht nur führt es vor Augen, was mit jenen passiert, die von einem Weg des marktkonformen Wirtschaftens abkommen (bin dann gespannt, was in Spanien nach den Wahlen los ist), sondern es zeigt zudem, dass eine spezifische Form ökonomischer Rationalität die politische Rationalität übertrumpft. Mit politischer Rationalität meine ich die Einsicht, dass ein Land der EU über seinen fiskal- und wirtschaftspolitischen Kurs und die Gestaltung seiner politische Zukunft zumindest in dem Maße selbst bestimmen können muss, wie dieser Kurs mit dem demokratischen Geist der EU und einer irgendwie gearteten ökonomischen Vernunft – über die gerade zu diskutieren wäre – im Einklang ist. Was hier aber passiert, ist, dass eine ganz spezifische Version vom richtigen Wirtschaften absolut gesetzt wird und Griechenland im Kern jeden politischen Gestaltungsspielraum auf Jahre hinweg raubt. Diese Absolutsetzung einer ganz spezifischen Version vom richtigen Wirtschaften kommt überdies ohne eine politische Debatte zustande und bar jeder ökonomischen Vernunft (zumindest nachdem was führende Wirtschaftswissenschaftler hierzu sagen), ja noch nicht einmal das politisch-institutionelle Setting ist geschaffen worden, in dem eine solche Debatte ernsthaft stattfinden kann. Damit meine ich – und diese Überlegungen zielen auf deinen Punkt mit den Möglichkeiten – ein politisch-institutionelles setting, dass es möglich macht, dass in ihm eine Interessenverallgemeinerung und ein Repräsentation politischer Positionen stattfindet, die die nationalen Grenzen durchkreuzt. Das EU-Parlament kann dies vor dem Hintergrund der Vertragslage nur dem Namen nach leisten. Wenn man es auf EU-Ebene nicht schafft, durch institutionelle Reformen eine politische Repräsentation von Konflikten zu gewährleisten, die nicht deckungsgleich sind mit nationalstaatlicher Präferenzbildung, ist das ganze Projekt über kurz oder lang gescheitert. Was es bedeutet, wenn die europäische Vergemeinschaftung von Politik aufhört und an die Nationalstaaten zurückgeht… – naja, vor dem Hintergrund der weltpolitischen Konflikte (Ukraine, IS etc.) und Probleme (Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge) brauche ich das wohl nicht ausführen. Ich mache mir da langsam ernsthaftere Sorgen. Hinzu kommen muss, und in diesem Punkt gebe ich dir der Sache nach recht, eine politische Institution auf EU-Ebene die Schuldenhöchstgrenzen festlegt und überwacht – Piketty schlägt eine europäische Parlamentskammer vor, die aus den nationalen Parlamenten hervorgeht.
    Ich könnte ewig so weitermachen: du hast vollkommen recht, dass Griechenland erhebliche Struktur- und vielleicht auch Mentalitätsprobleme hat. Aber du kriegst sie doch nicht gelöst, indem ein supranationales Bürokratie-Exekutiv-Gremium diktiert, wie die Politik in den kommenden Jahren auszusehen hat. Ungeachtet der Tatsache, dass das die Griechen und Griechinnen nicht mitmachen, demontiert es vor aller Augen den politisch-demokratischen Geist Europas!

  6. Lieber Kris, herzlichen Dank für die Replik. Vorweg, ich weiß nicht genau, was ich denken soll, ich probiere nur mal ein paar Positionen aus, die mir im linken Diskurs gerade zu kurz zu kommen scheinen. Ich habe z.B. nach Lektüre der Grausamkeitenliste, die Du mit Deinem ersten Beitrag verlinkt hast, auch erstmal den Eindruck eines unverschämten Diktats gewonnen. So scheinen etwa die angeblich für ein Investitionsprogramm vorgesehenen Mittel in Wahrheit einfach Gelder aus dem europäischen Strukturfonds zu sein, die Griechenland derzeit eh nicht kofinanzieren könnte. Nur, was diesem Papier an internen Verhandlungen, also auch an griechischen Vorschlägen, vorangegangen ist, das geht aus dem Text eben nicht hervor. Und die partei- und staatenübergreifende Frustration aller Beteiligten abzüglich der Griechen über eben deren Verhandlungsgebaren beeindruckt mich, als Außenstehenden, durchaus. Und dies lässt mich an der Geschichte zweifeln, hier habe einfach nur eine Seite der anderen etwas vorschreiben wollen.
    Was die wirtschaftliche Unvernunft angeht, erlaube ich mir nur folgende laienhafte Vermutung: Wir sollten genauer unterscheiden zwischen Forderungen, die wirklich einer Austeritätsideologie des Gesundschrumpfens folgen, und solchen die auf Strukturreformen zielen. An der ökonomischen Rationalität erster zweifle ich stark. Die ökonomische Rationalität letzterer leuchtet mir dagegen ein. Hier bezweifle ich nur, dass Auflagen seitens „der Institutionen“ ein geeignetes Mittel sind, in Griechenland den erforderlichen (!) institutionellen Wandel zu bewirken. Das ist wahrscheinlich politisch naiv.
    Wenn Du nun schreibst, ein Land müsse innerhalb der EU die Freiheit behalten, seinen wirtschafts- und geldpolitischen Kurs in Einklang mit europäischen Prinzipien selbst zu bestimmen, scheinst Du mir der Sache nach zu sagen, dass es eine weitere Vertiefung in Europa, hin zu einer Fiskal- und Sozialunion mit gemeinsamer Schuldenhaftung, nicht geben dürfte, solange nicht ein viel höheres Maß an wirtschafts- und geldpolitischer Konvergenz erreicht ist. Aber wir reden eben über die Frage, unter welchen Bedingungen die Steuerzahler europäischer Staaten (mit zum Teil niedrigeren Renten, Militärausgaben etc.) Griechenland weiterhin Kredit geben sollten.
    Sehr diskutabel finde ich die Idee eines Schuldenschnitts – schließlich sollen die Hilfsgelder, um die es jetzt geht, letztlich vor allem für Schuldenrückzahlung, und also für die weitere Kreditwürdigkeit des hochverschuldeten Staates draufgehen. Aber dann bitte konsequent: Schuldenschnitt ja, aber keinerlei weitere Hilfen mehr, die über ein humanitäres Minimum hinausgingen. Das würde mit oder ohne Grexit gelten, wobei der Grexit der ökonomisch folgerichtige, politisch aber womöglich (!) verkehrte Schritt wäre. Noch zu klären bliebe dann, wie sich dauerhaft die griechischen Banken refinanzieren sollen, wenn ihr Staat im Grunde als nicht kreditwürdig gilt. Der Kommentator Münchau schlägt dazu auf Spiegel Online vor, die Banken direkt unter europäische Kontrolle zu bringen, aber das schiene selbst mir ein inakzeptabel drastischer Eingriff in die griechische Souveränität zu sein.

  7. Und zu Huhnholz: Worauf anderes läuft Streecks destruktive Opposition hinaus als auf das Programm einer Renationalisierung von links?

  8. @Chris,

    vielen Dank für deinen Beitrag.

    Vieles von dem, was du ansprichst erinnert mich an Probleme, die die deutsche Einheit auch schon aufgeworfen hat und immer noch aufwirft. Nur wird das nicht so benannt und mit anderen Vorzeichen versehen und hat sich mit der Zeit auch verschleiert oder vergessen gemacht. Das Setting der neubundesrepublikanischen politischen Institutionen steht wie eine Eins, nur die wesentlichen (eigentlichen) strukturellen Probleme sind nach wie vor nicht gelöst. Das ostdeutsche Produktivitätsniveau ist gering, das Konsumtionsniveau ist hoch. Keine Dax-Unternehmen. Dafür eine harte Währung, die nicht dem Produktivitätsniveau entspricht. Eine unternehmerische Mitte gibt es nicht wirklich, aber einige Logistikcenter mittlerweile. Vieles was die Ostdeutschen im statistischen Mittel können, wird gekonnt aufgrund von Großzügigkeit und Kredit, auch Schuldenschnitt oder aber -die andere schattenhafte Seite- aufgrund von knallharter neo(?)kapitalistischer Realitätsdurchsetzung, die auch die alte (vor allem) randständische Mitte (sprich: die Kleinbürger) der westdeutschen Bundesrepublik mit ihren Renten und sozialen Ansprüchen und Rechten betrifft. Die Einheitsgeschichte kann man auch in den aktuellen Sozialgesetzbüchern genealogisch aufarbeiten, wenn man so will.

    Motive und Stichwörter dieser Art tauchen auch jetzt in der „Griechenland-Krise“ wieder auf. Man sagt, sie prägen den Diskurs. Hantologie nannte Jacques Derrida das. Politik muss auch mit Wiedergängern und Gespenstern umgehen können. Es gibt Untotes und unbewältigte Probleme, aber auch unbewältigte Lösungen (!!!) tauchen an anderen Stellen wieder auf. Ganz einfach.

    Dieses Untote bestimmt auch den politisch gesellschaftlichen Prozess sowohl auf nationalen als auch auf zwischen-, über-, undsoweiternationalen Ebenen der letzten Jahrzehnte und dieser Prozess hat viel mehr abstrakte und konkrete Parallelen mit der aktuellen politischen Situation in „Europa“ als es einem lieb ist. Da muss man auch mal einfach demütig sein und nicht immer gleich von globalen Problemen reden für die es ein geeintes „Europa“ braucht. Das ist de facto Hegelianismus im klassischen Sinne. Der Weltgeist macht die Runde. So a la: Wir brauchen dieses große Etwas da, aus der linken Hälfte unseres Gehirns.

    Vielleicht wollen hier auch alle gleich zu viel und zu schnell. Das ist mir bei vielen Politologen, der ich selbst einer bin, auch immer ein Graus. Nichts scheitert, nichts demontiert sich (der politisch-demokratische Geist), alles geht seinen Gang, nur eben nicht dahin, wohin man sich es vorstellte, sondern eher mittelmäßig und durchschnittlich, mit Abstrichen und manchmal auch mit Unerwartbarem.

    Deutsche Einheit und EU klingen für mich deshalb (retrospektiv) ähnlich diffus überstülpt von Erwartungen, die eine politische Realität nicht erfüllen wird können und das nicht nur weil die ökonomische Rationalität in ihrer „hegemoniellen Ausprägung“ immer schon mächtiger war als so mancher politischer Wille. Heute faselt man endlos von Strukturreformen. Die sind aber i.d.R. lokal und begrenzt.

    Letztens musste ich lesen, dass 2/3 der ostdeutschen Liegenschaften nicht in ostdeutscher Eigentümerschaft sind. Das wundert mich doch sehr. Hat da ein Vermögenstransfer stattgefunden, der den Ostdeutschen egal ist? Darf man das überhaupt thematisieren? So in etwa gestalten sich doch auch die Vorschläge für Griechenland. Nur das die Schuldenabzahlung eben ins Unendliche gestreckt werden soll. Absurd. Ein Menschenleben ist kurz. Entschuldung sollte zu Lebzeiten erlaubt sein.

    Deutsche Einheit? – Ja, wir sind geeint, aber auf ganz unterschiedliche positive und negative Weisen. Manchmal indifferent, manchmal desinteressiert, aber funktional und mittlerweile auch etabliert.

    Europa? Ja, wir sind Europa und können mit unseren Problemen die ganze Welt unterhalten und beängstigen. Doch ist Europa ein positives Projekt, wenn es seine politisch europäisch-demokratische Rationalität auch über den „Umweg“ von Kolonialismus und diverser Weltkriege kultiviert hat? Ist sozusagen der demokratische Geist in vielem, bleiben wir auf dem Teppisch, ein Reflex und gar keine tiefgründige Überzeugung?

    So, der Assoziationssprünge nun genug.

  9. Lieber Bernd,

    hier nun die Replik zur Replik – und herzlichen Dank fürs Diskutieren. Ich schätze mal, dass ein Teil dieser Reformrichtlinien sich im Zuge vieler Auseinandersetzungen mit den griechischen Verhandlungspartnern ausgebildet haben – also auch schon unter der Regierung Samaras. Manche Vorschläge sollen Tsipras & Co selbst gemacht haben, dann aber wieder argumentiert haben, dass man es nicht umsetzen könne. Klar, ein Teil dieses Zick-Zack-Kurses innerhalb der griechischen Regierung könnte einem Politikstil geschuldet sein, den du in deinem ersten Beitrag skizziert hast. Man kann es aber auch mit einer gewissen Unerfahrenheit erklären; diese Regierung ist keine 200 Tage im Amt. Aber der Politikstil von Tsipras und Co. taugt meiner Ansicht nach nicht dazu, dieses Debakel zu erklären. Schon unter Samaras konnten aufgrund der festgefahrenen Verhandlungen die im Rettungsprogramm bereitgestellten knapp 2 Milliarden Euro 2014 nicht mehr ausgezahlt werden. Damals konnte man noch schön auf Samaras Reformunwilligkeit gepaart mit Klientelpolitik verweisen (http://www.faz.net/…/samaras-im-dilemma-zwischen-troika…). Zu der Tatsache, dass der Einbruch der Wirtschaft und die sozialen Verwüstungen damals schon eklatant waren und den Unsinn dieser Sparpolitik demonstrierten, tritt heute noch hinzu, dass sich das Land und die Menschen schlicht nicht von einem supranationalen Technokratie-Exekutiv-Gremium regieren lassen wollen. Chaotischer Stil hin, provokative Rhetorik her. Es zeigt sich, dass nicht nur die Inhalte, sondern auch die von Eurogruppe und Troika (die Institutionen) praktizierte Form des Regierens jedes noch so geringe Maß an Zustimmungsfähigkeit verspielt hat. Ja, mehr noch: ich schätze, dass das derzeitige Schauspiel von den anderen Ländern des europäischen Südens sehr genau verfolgt wird und gerade in einem eher linken WählerInnen-Milieu zu erheblichen Verhärtungen führen wird.
    Ich stimme dir zu – auch mich beeindruckt in gewisser Weise die partei- und staatenübergreifende Frustration der Beteiligten (die griechischen Politiker ausgenommen) über das Verhandlungsgebaren der griechischen Regierung. Ich erkläre mir das nicht damit, dass hier nur lauter neoliberale Ideologen am Werk sind – wenngleich es solche zweifellos gibt. Habermas vertritt die Meinung, dass das mit einer neuen Staatsräson zusammenhänge – der Auflösung von Politik in Marktkonformität, der sich die Vertreter der Regierungen verschrieben haben, „ausnahmslos hochmoralische Menschen“, wie er süffisant anmerkt, die „ihre politische Mitverantwortung für die verheerenden sozialen Folgen leugnen, die sie als Meinungsführer im Europäischen Rat mit der Durchsetzung der neoliberalen Sparprogramme doch in Kauf genommen haben.“ Ich denke, dass da was dran ist. Mir scheint, dass hier so ein Dammbruch-Argument in der Luft hängt: wir müssen hier hart bleiben, denn sonst werden die Grundlagen marktkonformen staatlichen und supranationalen Regierens in Frage gestellt. Denn die nächste linke Regierung wird kommen (Spanien wählt im Dezember!). Dass ich von den Konservativen nichts anderes erwartet habe, ist klar. Aber auch die Sozialdemokratie scheint mir hir inhaltlich so ausgehöhlt, programmatisch so weichgespült und einzig auf die deutsche Wählerschaft fokussiert zu sein, dass da nicht einmal in Ansätzen eine alternative Sichtweise skizziert wird. (Medienberichten zufolge hatte Steinbrück am Montagabend bei der Sondersitzung der SPD-Fraktion mit Merkel die Griechenland-Politik heftig kritisiert und einen Schuldenschnitt gefordert.(http://www.deutschlandfunk.de/fraktionssondersitzungen…) Das zeigt, was innerhalb der SPD geht, wenn einer keine Wahl mehr gewinnen braucht.)

    Ich bin von der Notwendigkeit einer weiteren politisch-institutionellen sowie wirtschafts-, fiskal- und sozialpolitischen Vertiefung der europäischen Integration überzeugt. Die Gründe hierfür anzugeben, dürfte jetzt viel zu weit und in eine neue Debatte führen. Um es kurz zu machen: erstens hat nur eine europäische Integration die zentrifugalen Kräfte nationaler Egoismen im Zaum gehalten; zweitens – und das ist ja oben schon angeklungen – bin ich überzeugt, dass wir den weltpolitischen Konflikten (Ukraine, IS etc.) und Problemen (Flüchtlinge, Klima, Kapitalismus) nur im europäischen Rahmen einigermaßen Herr werden können. So, und wenn man vor diesem Hintergrund die Frage stellt, warum Transferleistungen bspw. in Form von Krediten oder in Form eines Schuldenschnittes gerechtfertigt sind, dann liegt das daran, dass wir diese europäische Gemeinschaft zusammenhalten müssen – und dazu gehört, dass wir einem Land seinen politisch-demokratischen Gestaltungsspielraum garantieren müssen (weil sonst die ganze Idee eines demokratischen Europas den Bach runter geht). Du fragst nun nach den Bedingungen. Nun, diese Bedingungen gehören jetzt ausgehandelt. (Für die zukünftige Gestaltung habe ich ja auf einen Vorschlag von Piketty verwiesen; keine Ahnung, ob das was taugt. Müsste man drüber nachdenken.) Wichtig aber ist, dass sie auf eine Art ausgehandelt werden und zu einem Ergebnis kommen, die bzw. das a) nicht schon per se den grundlegenden demokratischen Prinzipien widerspricht und b) vor dem Hintergrund der sozialen Lage guten Gewissens vertretbar und realisierbar ist. Und Bernd, einmal gänzlich antipolitisch formuliert: der Schuldenschnitt für Griechenland ist alternativlos.

  10. Lieber Kris, auf den letzten Satz können wir zwei uns wohl verständigen.
    Aber noch eine beckmesserische Bemerkung. Mir kommt es unstimmig vor, die Erwartungen der „Institutionen“ einerseits als ökonomisch irrational anzusehen und andererseits eine Auflösung der Politik in Marktkonformität zu vermuten. Marktkonform scheinen mir die ganzen verhandelten Finanzspritzen für Griechenland allesamt nicht zu sein, jedenfalls nicht direkt. Vielmehr glaube ich, dass sie primär politisch motiviert sind: Der Eindruck einer bloßen Vorläufigkeit des erreichten Standes europäischer „Einigung“ soll um fast jeden Preis vermieden werden. Das ist eine Art Primat der Politik – nur leider keiner guten. Das hat schon für die ursprüngliche Entscheidung gegolten, eine Währungsunion ohne politisch-institutionellen Unterbau zu bilden und Griechenland in sie einzubeziehen. Also, würde wirklich die reine Marktrationalität regieren, hätte man Griechenland längst unter Druck gesetzt, den Euro wieder abzugeben.

  11. Lieber Bernd,

    dass die Syriza-Regierung ihr Blatt, sich selbst und die Beeinflussbarkeit europäischer Entscheidungfindungsprozesse überschätzt hat, leuchtet mir ein – ist es doch auch angesichts der Rhetorik, mit der das Ganze garniert ist („Erpressung“, „Merkel hat den Schlüssel in der Hand“), schwer von der Hand zu weisen. Die Gegenüberstellung eines postmodernen Voluntarismus auf der einen Seite und der harten Realität des europäischen Verhandlungssystems auf der anderen Seite erscheint mir aber als Erklärung für die Eskalation des Konflikts zu dürftig.

    Dabei geht es mir weniger um den theoretischen Punkt, dass jeder, studentisch oder sonstwie organisierte Voluntarismus (dessen Existenz ich nicht bezweifle) die Pointe postmoderner Literatur gnadenlos verpasst, jedenfalls wo sie theoretische Substanz hat – und dass zumal im Kontext dieses Forums eine genauere Unterscheidung zwischen theoretischen Stichwortgebern und aktivistischen Interpreten daher wertvoll sein könnte. (Schließlich ist die aktuelle Krise doch eine ziemlich überzeugende Illustration des poststrukturalistischen, aber ebenso adornitischen Punkt, dass sich das Reale stets nur als Negatives zeigt.)

    Vielmehr finde ich es viel naheliegender, die Krise als Aufeinanderprallen zweier sozialer Tatsachen zu verstehen, nämlich einerseits der Überzeugung der europäischen Eliten, dass nur kompromisslose Austeritätsprogramme aus der Krise führen (weil nur sie das Problem an seiner vermeintlichen Wurzel packen), und andererseits dem Scheitern dieser Programmatik in Griechenland. Deshalb besteht für mich das Problem im Kern darin, dass die griechische Regierung die Einsicht in das Scheitern der bisherigen Rettungspolitik vertritt ohne zu erkennen, dass deren Prämissen bei den Geldgebern immer noch wirksam sind; während die Gläubiger umgekehrt bis heute nicht bereit sind einzugestehen, dass sie jedenfalls im Falle Griechenlands nicht mehr so weiter machen können wie bisher. Aus meiner Sicht ist die Realitätsverleugnung daher ganz und gar beidseitig – ebenso, wie es die „Frustration aller Beteiligten“ mit der jeweils anderen Seite ist.

    Eine Anerkennung der Realität(en) dagegen hätte praktisch wohl mindestens verlangt: dass auf der einen Seite die Gläubiger die Unvermeidlichkeit eines Schuldenschnittes einräumen, ein echtes Investitionspaket schnüren (dass die Totengräberei des prozyklischen Wahnsinns beendet und nötigen Strukturreformen überhaupt erst einen Sinn gibt) sowie auf gänzlich diskreditierte Forderungen wie Privatisierungen und Rentenkürzungen verzichten. Auf der anderen Seite hätte die griechische Regierung zuallererst die Verhandlungspartner als Andersdenkende akzeptieren müssen – durch rhetorische Abrüstung und die proaktive Reform des griechischen Staatswesens, wo sie diese im Sinne der Gläubigerziele mittragen kann.

    Dass beides ausgeblieben ist – das Entgegenkommen der Gläubiger ebenso wie die Vertrauensbildung durch die Syrizaregierung – enthebt keine der beiden Seiten ihrer Verantwortung, zeigt m.E. aber auch, dass es zu kurz greift, das Problem in erster Linie auf das Versagen einzelner Akteure zurückzuführen (auch hier lauert ja eine Art voluntaristische Falle). Vielmehr handelt es sich doch insofern um ein strukturelles Problem, als dass sich zeigt, dass der EU die Bedingungen fehlen, um noch zu einer geteilten Problemsicht zu gelangen. Oder anders gesagt: der Entscheidungsbedarf der vertieften, erweiterten Union ist ihrer Entscheidungsfähigkeit davon gelaufen. Daraus ergeben sich dann in der Tat nur zwei mögliche Konsequenzen: entweder Europa europäisiert seine Entscheidungsstrukturen – oder wir beobachten den Anfang vom Ende des europäischen Projekts.

  12. Die „Porno-Linke“, lieber Sebastian Huhnholz, finde ich selbst als Wortspiel daneben. Ebenso die Nennung von Edathy und Cohn-Bendit in einem Atemzug (aber ich sehe schon, im Schriftbild sind die von mir vermutete Pomo-Linke und die Porno-Linke schwer zu unterscheiden; in der Sache haben sie nchts miteinander zu tun).

  13. Lieber Ben, Du hast natürlich recht, Realitätsverweigerung gibt es auf beiden Seiten, auch wenn ich die Anteile etwas anders verteilen würde als Du. Ein Investitionspaket? Ja! Schuldenschnitt? Wohl auch. Aber realitätsfremd kommt mir auch der Glaube vor, dies würde reichen, um die griechische Malaise zum Guten zu wenden. Denn das griechische Elend ist wirklich speziell, keiner der anderen Euro-Staaten, auch nicht Spanien oder Portugal hat offenbar vergleichbare Probleme, Austerität hin oder her.

    So ist es keine Erfindung „der Institutionen“, sondern Realität, dass Griechenland einen aufgeblähten Staatsapparat hat, der in keinem Verhältnis zur Tragfähigkeit der Wirtschaft steht. Es ist auch nicht links, sondern für sich genommen das Gegenteil, die Privilegien der staatsnah Beschäftigten auf Kosten des Rests der Gesellschaft zu verteidigten. Insofern Syriza auch Klientelpolitik macht – klar, es muss seine Wählerbasis berücksichtigen, darin ist nichts ist nichts Pomo -, erzählt es darum schlicht Märchen, wenn es sich als Verteidigerin der Ärmsten der Armen ausgibt (dass es für die auch etwas tun will, stelle ich damit nicht in Abrede).

    Realitätsfremd finde ich hingegen die Hoffnung der Gläubigerseite, durch detaillierte Auflagen den griechischen Staat dazu zu bringen, seine extraktiven Institutionen in inklusive, gemeinwohlförderliche zu verwandeln. Das ginge wohl nur auf dem Wege langwieriger interner Auseinandersetzungen, und ob dafür gerade die jetzige Krise die geeignete Gelegenheit bietet, wage ich zu bezweifeln.

    Dehalb erkläre ich mir die Verhalten der „Institutionen“ oder jedenfalls ihres europäischen Teils nicht zuletzt mit der verzweifelten Hoffnung, man könne irgendwie durch ausgehandelte Konditionalitäten um den Schluss herumkommen, dass ein gemeinsamer, kohärenter Währungsraum mit diesem Griechenland erstmal nicht zu machen ist. Das ist Realitätsverweigerung – aber die teilt die Troika mit vielen ihrer Kritiker von links, die ebenfalls zu glauben scheinen, wenn man nur an den richtigen politischen Stellschrauben drehe, werde Europa als ein einheitlicher demokratischer Handlungsraum kenntlich.

    Ich sehe dagegen nur zwei schlechte Alternativen: Griechenland als Dauersubventionsempfänger im Euroraum belassen, um den Preis permanenter Biegung und Beugung europäischen Rechts sowie der Dehnung der Nerven aller anderen – oder ihm den Grexit anheimstellen, mit allen Unwägbarkeiten, die das hätte. Ich tendiere zu ersterem, aber nicht, weil ich mir davon einen Gewinn für ein demokratiches und solidarisches Europa verspreche.

  14. Noch ein paar Gedanken zu den zwei Möglichkeiten: den zwei Stimmen zu Griechenland.

    „Vertiefung der europäischen Integration und Austritt der Staaten“, die sich vertraglich dazu bekannt und verpflichtet haben, auch als ein Teil einer Union sein zu wollen und zu wirken, sich in diese Vertragsunion als souveräne Staaten zu integrieren, das sind die zwei vertragsrechtlichen Möglichkeiten.

    Das BVerfG hat insbesondere in seinen Urteilen zum Vertrag von Maastricht und zum Lissabon-Vertrag die grundgesetzlichen Möglichkeiten der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland bei der weiteren Entwicklung der Europäischen Union und damit auch die grundgesetzlichen Grenzen einer der mit dieser Entwicklung verbundene, zur Folge habende tiefere europäische Integration, aufgezeigt.

    Die Europäische Union ist politisch begründet, war und ist weiterhin politisch gewollt. Politisch gewollt war und ist die Verwirklichung einer europäischen Vision, einer „großen Erzählung“ davon, für die und in der nationale Interessen, nationale wirtschaftliche Sachverhalte scheinbar keine Bedeutung haben.
    Doch diese nationalen wirtschaftlichen Sachverhalte bedingten (zuerst) Wirtschaftsintegration und begründeten den Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und diesen als erforderlichen Umweg zu einer politischen europäischen Integration.

    Doch der gegenwärtige Stand der Wirtschaftsintegration (besser: Wirtschaftsverflechtungen) bedingt nicht eine weitere Vertiefung politischer europäischer Integration. Im Gegenteil! Mit dem bestehenden Widerspruch des herrschendes Verständnisses einerseits von einer Europäischen Union und andererseits, dass deren Mitglieder souveräne, wirtschaftlich unabhängige, Nationalstaaten seien und sein müssten, wird auch noch dem Verständnis von einem erforderlichen Umweg zu einer politischen europäischen Integration widersprochen.

    Mit der Einführung des EURO und der Errichtung eines Europäischen Systems der Zentralbanken („ESZB“) und einer Europäischen Zentralbank („EZB“) wurde der Handel zwar erleichtert, aber die Wirtschaftsintegration nicht vertieft. Auch nicht vertieft mit dem „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKSV)“ und mit dem Vertrag „zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM).

    Auch mit dem sich gegenseitig bestätigenden Verstehen der Europäischen Union als Stabilitätsunion und dass die Verträge zur Sicherung der Stabilitätsgemeinschaft und vor allem der Stand ihrer Umsetzung die Wirtschafts- und Sozialverfassung der Vertragsparteien im Kern beträfen, konnte und kann der erforderliche Umweg zu einer politischen europäischen Integration nicht vermieden werden.

    Es gibt keine europäische Wirtschaft, sondern Volkswirtschaften der europäischen Länder. Für jede Volkswirtschaft der (EURO-Länder) wird deren notwendige Geldmenge durch die „ESZB“ (EZB und Zentralbanken der Mitgliedstaaten bestimmt.

    Es gibt keine Bestimmung der Euro-Geldmenge (Geldpolitik), welche durch eine europäische Volkswirtschaft (Wirtschafts- und Währungspolitik) begründet ist. Und keinen Euro als Währung für den Handel der Euro-Länder (für deren „grenzüberschreitende Zahlungen“) miteinander. Dafür ist (als Ersatz) das Zahlungssystem TARGET 2 eingerichtet, das Staatsverschuldungen indirekt unterstützt.

    Und es gibt auch keinen europäischen Preis für jeweils vergleichbare oder selbe Erzeugnisse und Leistungen europäischer Länder oder Euro-Länder, der zu stabilisieren wäre.

    Der „Politikbereich, der mit dem Geldwert die individuelle Freiheit stützt und mit der Geldmenge auch das öffentliche Finanzwesen und die davon abhängigen Politikbereiche bestimmt“ (2 BvR 2728/13 . . . Rn. 32) versteht das BVerfG als einen wesentlichen Politikbereich.

    Belastungen der Bevölkerungsmehrheit eines Landes, die nicht (mehr) mit den Bestimmungen der verfassten Ordnung ihres Zusammenlebens übereinstimmen, den demokratischen nationalen Interessen widersprechen, zu einer Entleerung ihres Budgetrechts führen, bedingen einen wesentlichen Politikbereich der politisch ökonomischen Veränderungen.

    Diese Veränderungen hängen ab von den Mitteln und Bedingungen des Landes, also ob mit diesen ein Zusammenleben, dessen „Reproduktion“, möglich ist oder nicht. Sie bedingen also ein herrschendes Verständnis von diesem Zusammenhang.

    Eine politische europäische Integration, der erforderliche Umweg dahin, wären diese bedingten politisch ökonomischen Veränderungen. Er ist die eine Möglichkeit. Die zweite Möglichkeit, der „Austritt“, muss eine politisch ökonomische begründete Veränderung sein, wenn seine Folgen nicht zwingen, die erste Möglichkeit verwirklichen zu müssen.

    Stimmen zu Griechenland sind Stimmen zum Verständnis zu Europa, sind Auseinandersetzungen mit dem herrschenden Verständnis von (k)einem Umweg zu einer politisch ökonomischen europäischen Integration.

  15. Lieber Bernd Ladwig, habe das Wort auf meinem Minibildschirm falsch gelesen und sofort als eigentümlich überzeichnet im beschriebenen Kontext karikieren wollen, misslungen, Verzeihung! Inhaltlich, scheint mir, ändert dieses Ver-Sehen nichts am kritisierten Doppel: Pomo weltfremd, Konsolidierungsstaatsunterwanderung re-nationalisierend.

  16. Da ich schon dabei bin, für meine linken Freunde den Bad Guy zu geben, kann ich gleich weitermachen: In welchem Sinne soll eigentlich das griechische Holterdiepolter-Referendum ein Sieg für die Demokratie gewesen sein? Gut, das griechische Volk hat mehrheitlich „Nein“ gesagt zu den vorvorgestern noch aktuell gewesenen Bedingungen für weitere Hilfen. Das war also ein nationales Votum, und nun stelle man sich für einen Augenblick vor, ihm würden weitere folgen. Nehmen wir an, Iren, Letten, Slowenen oder Tschechen würden von ihren Regierungen gefragt, ob sie weiteren Griechenland-Hilfen zustimmten, wobei das „Nein“ oben auf dem Fragebogen angeboten würde, das „Ja“ unten. Ich habe eine ganz, ganz schwache Vermutung, wie das ausginge. Und nun stünde der Euroraum da in seiner ganzen durch Referenden beglaubigten Gespaltenheit.
    Fällt eigentlich keinem auf, wer, außer den linken Freunden von Syriza, noch über das griechische „Nein“ erfreut ist, von dem gar nicht komischen Komiker Beppe Grillo bis zu Marine Le Pen? Kann sich keiner vorstellen, dass dies die britischen Europagegner stärkt? Merkt keiner, dass der Weg über nationale Referenden nur in eine Richtung weist: in die der Renationalisierung? Und für die Griechen eben: in den Grexit?
    Ja, die Vorschläge für ein europäisches Investitionspaket und für eine Schuldenkonferenz finde ich vernünftig. Aber dafür muss man die Bürgerinnen und Bürger als Europäer gewinnen, und das geht nicht durch einseitige Verhandlungsabbrüche, nationale Referenden und pathetische Beschwörungen der Würde und Ehre stolzer Nationen. Stolz sind andere auch. Niedrig und prekär sind die Renten auch anderswo.
    Das riesengroße Problem mit der Demokratie in Europa ist, dass sie auf zwei Ebenen stattfinden müsste, von denen aber nur eine, die nationale, halbwegs entwickelt und auch für die allermeisten Bürger fassbar und fühlbar ist. Referenden mit ihrer scheinbaren Eindeutigkeit sind das sicherste Mittel, die nationale Ebene weiter zu stärken. Das Volk hat gesprochen? Ja, eines, aber das europäische wird so endgültig zur Chimäre.

  17. Auf dem DVPW-Kongress in Tübingen stellte W. Thaa heraus, dass die Frage eines handlungsfähigen Demos über die konstitutive Funktion politischer Repräsentation zu beantworten sei: „Gibt es über nationale Gemeinschaften hinausgreifende Konflikte, die sich politisch repräsentieren lassen, diskutieren und entscheiden lassen?“
    Wie die Beiträge von Ladwig und Volk schon verdeutlichen, mangelt es eigentlich nicht an politischen Spannungspunkten, die zu europäischen Konfliktlinien transformiert werden könnten. Das größte Problem dieser einmaligen Situation scheint mir aber zu sein, daß keiner etwas mit den Konflikten etwas anfangen will. Von wem jedoch können/müssten wir das erwarten? -Es wäre natürlich wünschenswert, wenn sich Tsipras ‚europäischer‘ verhalten würde, doch erwarten oder gar voraussetzen kann man eine solche Haltung nicht. Von daher sehe ich eher die Repräsentanten der EU in der Pflicht, die Spannungen in eine europäische Konfliktlinie zu überführen, auf der sich die Bürger in Europa verorten können. Momentan habe ich den Eindruck, dass Schulz und Juncker allerdings noch
    nicht einmal zur Kenntnis nehmen, dass es ihre Aufgabe wäre, Konflikte als politische Alternativen zu repräsentieren, der öffentlichen Auseinandersetzung zu unterwerfen und am Ende in Wahlen durch die EU-Bürger entscheiden zu lassen.

  18. Lieber Bernd, liebe alle,

    erst einmal Danke für die Diskussion. Ich habe es erst gerade geschafft, mich durch deren Reichtum an Argumenten zu lesen. Nun noch einige wenige und verspätete Beobachtungen zu dem bisher Gesagten plus eine kleine Replik auf Bernds jüngste Überlegungen zur Politik des Referendums.

    Zunächst zum Gegeneinanderausspielen der Idee Europa gegen die Realität Europas: Ich finde es ziemlich interessant, dass letztlich alle Kontrahenten in der Debatte – nicht nur ihr, sondern auch ganz überwiegend in der weiteren Öffentlichkeit -, diesen grundsätzlichen argumentativen Zug machen. Renationalisierung ist negativ, wenn auch die Demokratie im Nationalstaat noch ihre de facto beste Realsierung hat; Europäisierung wäre gut, aber scheitert daran, wie sie von den Eliten verwirklicht wurde. Von dieser Konstellation aus, versucht man dann hochzurechnen, was höhere Verluste verursacht und ist dabei immer damit konfrontiert, dass man sehr unterschiedliche Kategorien vergleichbar machen muss – etwa Demokratie, Wohlstand, Solidarität, Frieden, Problemlösungsfähigkeit. Eine weitere Folge dieser Denkbewegung ist, dass man immer gleich das Scheitern des ganzen Projekts Europa in seiner wunderschönen Abstraktheit verhandelt. In dieser Hinsicht ist die Diskussion um den Fall Griechenland überhaupt nicht anders als vor ein paar Jahren der Streit um den Verfassungsvertrag oder ähnliches. Das Blöde an dieser Argumentationsfigur ist, dass sie nicht sonderlich weiterhilft, sondern das Problem hauptsächlich auflädt und generalisiert. Sie wird, glaube ich, gewählt, da sie einen gewissen Konsens unter Akademikern darstellt (die den Vorteil haben, nicht entscheiden zu müssen, sondern Ambivalenz ausdrücken zu dürfen) und die eigene Differenziertheit bei gleichzeitigem Realismus markiert. Das erlaubt, sich zumindest auf intellektueller Ebene einer Gemeinsamkeit zu versichern, die dann unterschiedliche Kritiken der konkreten Politik (oder eher noch: der realen Politiker) erlaubt. Die Debatte ist voll von solchen Stellungsnahmen (ich komme selbst auch nicht aus dieser Logik raus). Aber interessanter wäre es eigentlich, sich von der Diagnose bzw. dem Meinungssteit zu lösen und diese Figur nicht immer wieder zur Aufführung zu bringen, sondern tatsächlich andere Ansätze nachzudenken, wie diese vielleicht ja wirklich dilemmatische Spannung zwischen Integration und Demokratie evtl zwar nicht aufzulösen, aber institutionell doch besser zu bearbeiten wäre.

    Das führt mich zum eigentlichen Problem mit Griechenland: Und ich bleibe hier mal bewusst auf der demokratietheoretischen Ebene, da ich mir die Beurteilung der wirtschaftspolitischen Fragestellungen nicht zutraue bzw. noch etwas genereller denke, dass wir in jedem Fall im Trial & Error-Bereich sind (trotz aller desaströsen Folgen) und insofern nicht viel mehr bleibt als einen politischen Kompromiss zu finden, den man dann nicht zerfleddern darf, sondern mit dem man es gemeinsam versuchen muss (das heißt Durchsetzen auf griechischer Seite und vertrauensvoll unterstützen auf Seite der europäischen Institutionen – keiner von beiden Seiten fällt das jeweilige irgendwie leicht wie es scheint). Die Label ‚Austerität‘, ‚Alternativlosigkeit‘ auf der einen Seite oder ‚Eigenverantwortung‘ auf der anderen Seite scheinen mir nicht sonderlich hilfreich, den nötigen Kompromiss zu finden.
    Zur Demokratietheorie: Hier würde ich eher mit Chris gehen und als das eigentliche Problem betrachten, dass die EU bei aller Reform noch immer keine gute Formel gefunden hat, Konflikte innerhalb ihrer Institutionen demokratisch ausfechtbar zu machen. Insbesondere Krisenzeiten zeigen, dass letztlich für Einigungen der harte Verhandlungsmodus und die Inszenierung von Politik als Kampf gewählt wird (und natürlich auch von den Medien gefordert wird). Die implizierte Logik von Siegen und Verlieren, Gesichtswahrung und letzten Deadlines führt aber gerade zur Unzufriedenheit mit den Lösungen, die dann letztlich ja doch beschlossen werden (zumindest bisher immer). Die Institutionen verschmelzen zu homogenen Einheiten und verspielen darüber ihr deliberatives Potential (nicht jenes der Artikulierung von Konflikt, sondern jenes zur Tolerierung guter Gegenargumente). Und dies führt dazu, dass die Absorpotionsfähigkeit politischer Unzufriedenheit in Europa national wie europäisch deutlich abgenommen hat. Bernds Versuche, eher die verhandlungstechnischen und akteursbezogenen Probleme herauszustreichen, halte ich nicht für falsch, aber in der Gesamtrechnung für weniger entscheidend (bzw. mit Blick auf pragmatische Lösungsfähigkeit für nicht einholbar). Umgekehrt würde ich inhaltlich gegen Chris einwenden, dass das Setzen auf nationale Parlamente ein alter Hut und deutlich überschätzt ist (sowohl in der Form ‚Handlungsspielräume erhalten‘ als auch und mehr noch in der Form ‚Länderkammer auf EU-Ebene‘). Die nationale Ebene hat in Europa ziemlich klar in den letzten 15 Jahren gewonnen und Parlamente sind dabei nicht unberücksichtigt geblieben, das hat ebenso wenig die Konflikte entspannt, wie die Direktwahl des EPs oder nationale Referenden Wunder gewirkt hätten – zu gute halten sollte man der EU als politisches System in jedem Fall, dass sie wirklich häufig an den Stellschrauben zu drehen versucht, insofern zumindest nicht unresponsiv oder problemunbewusst ist. Kämpfe für nationale Souveränität in Europa stehen auch nicht im Verdacht, sonderlich wohlfahrtsstaatfreundlich zu sein (England oder Ungarn als Beispiel) und die EU mag in der Umverteilung nicht gut sein, ihre Regulierungspolitiken können aber durchaus in vieler Hinsicht große wohlfahrtspolitische Gewinne darstellen (und das gerade auch durch Standardisierung von Ansprüchen oder Modellen). Persönlich fand ich die Strategie schon erfolgsversprechender, die Wahlen zum EP klarer zu politisieren und hier ganz bewusst auf die Inszenierung unterschiedlicher Politiken zu setzen (auch diese Strategie ist aber für sich allein natürlich nicht der Stein der Weisen und leidet zudem darunter, dass die Politisierung sehr stark auf die Wahlperiode begrenzt war).

    Abschließend noch zu Bernds neuer Problematisierung des Referendum: Während ich eine Gleichsetzung von Referendum und Demokratie (selbst ohne die Problematik der Kongruenz der Ebenen und mit mehr Vorlauf oder eindeutiger Fragestellung) ebenso problematisch finde und ich mir auch auf der strategischen Ebene zumindest sehr unsicher bin, ob das der cleverste Zug im Arsenal der Tsirpas-Regierung war, würde ich doch davor warnen, das Referendum auch nachträglich noch als in Wahrheit undemokratisch zu diffamieren. Genau mit dieser Abwertungsstrategie gefährdet man den einzigen Effekt, den das Referendum – nun wo es durchgeführt ist – sinnvoll gehabt haben könnte, nämlich, dass die Verhandlungen nun nochmal gewissermaßen neu gestartet werden. Das Referendum (oder Referenden) mögen nicht die Lösung für die demokratiethereotische Malaise der EU sein, mit Blick auf die Verhandlungssituation hat es aber evtl genau ermöglicht, dass man z.B. den Punkt Schuldenschnitt jetzt anders thematisieren kann und ganz generell über ein drittes Paket redet und nicht hauptsächlich über Erfüllungsbedingungen für das zweite Paket. Der Hoffnungsschimmer ist klein, aber er glimmert etwas anders als in den doch arg verbauten Verhandlungen der Vorwochen (oder gar des letzten halben Jahres).

  19. Lieber Thorsten, vielleicht kann man den von Dir vermeinten Lichtblick darin sehen, dass jetzt jedenfalls außerhalb Deutschlands immer offener ein Schuldenschnitt oder eine Umschichtung der Schulden gefordert wird. Der IWF bekennt sich endlich auch öffentlich zu dieser Idee, Obama tritt für sie ein, Frankreich und Italien gehen vorsichtig auf Distanz zu Deutschland. Und in der Tat, was klingt vernünftiger als Joschka Fischers Formel: Schuldenschnitt gegen Strukturreformen? (Auch wenn ich bezweifle, dass Deutschland zu ersterem bereit und Griechenland zu letzteren in der Lage ist.)

    Aber, lieber Shaid Aziz: europäische Repräsentanten, die Konflikte für die Bürger sichtbar machen, damit diese in Wahlen über sie befinden können – was bitte soll dabei herauskommen, solange so wenige Bürger wirklich europäisch denken und empfinden? Und das griechische Referendum hat hier wahrlich nicht geholfen: Alle mir bekannten Meinungsumfragen geben eine sinkende Bereitschaft zu erkennen, Griechenland weiter zu helfen; die Bereitschaft, einen Grexit hinzunehmen, steigt dagegen, sogar in Frankreich.

    Das heißt, ein Schuldenschnitt o.ä. wäre wieder einmal nur als Elitenprojekt machbar, wie alle vorangegangenen Vertiefungsschritte auch. Deshalb sehe ich einen gewissen Widerspruch darin, Europa einerseits weiter verdichten zu wollen und es andererseits als postdemokratisch zu schmähen.

  20. Lieber Bernd Ladwig,
    muss/sollte es eine gemeinsame europäische Identität geben, bevor Konflikte ausgetragen werden können? Vielleicht, mag sein. Aber wenn ich mit jemandem nur dann eine politische Auseinandersetzung führen kann, wenn ich mich der Gemeinsamkeiten versichert habe, dann brauchen wir uns über die Bedeutung von Repräsentanten, die konkurrierende Politikangebote unterbreiten keine Gedanken machen. Meine Hoffnung wäre folgende: Würde im Rahmen des politischen System der EU ein öffentlicher Streit darüber ausgetragen, was in dieser schwierigen Lage zu tun sei (und dies auch weltanschaulich begründen), dann könnten die Bürger Europas ihren Standpunkt mit den vorgebrachten Meinungen abgleichen und sich entsprechend einer der Positionen zuordnen. Innerhalb aller Nationalstaaten gibt es konkurrierende Werthaltungen. Würde ein öffentlicher Streit über die Vorschläge von konkurrierenden Repräsentanten ausgefochten und durch Wahlen vorübergehend entschieden, könnten diese verborgenen Koalitionen sichtbar werden. Statt also eine gemeinsame europäische Identität vorauszusetzen, würde ich auf die integrative Kraft des Streits bauen.
    Aber die Meinungsumfragen deuten schon an, dass die Unions-Bürger eine Grexit hinnehmen. Nun, zunächst ist eine Meinungsumfrage etwas anderes als ein Wahlergebnis, dem ein politischer Streit vorausgegangen ist. Ein politischer Streit über den Grexit würde die Entscheidung ändern, selbst wenn das Wahlergebnis den Meinungsumfragen entsprechen würde. Aber, da bin ich ganz bei Herrn Thiel, dafür fehlen die Verfahren.

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