theorieblog.de | Strandschmöker oder Bleiwüste? Lesenotiz zu Philipp Felschs “Der lange Sommer der Theorie”

1. Juli 2015, Thiel & Wallmeier

Philipp Felschs Monographie „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990“ hat bei seinem Erscheinen im Frühjahr viel Aufmerksamkeit im deutschen Feuilleton erregt und wurde meist positiv besprochen. Als ‚Ideenreportage‘, also Zeitporträt und Ideengeschichte in einem, verspricht das Buch die deutsche Begeisterung für theoretisches Denken nachzuzeichnen. Da die vorlesungsfreie Zeit vor der Tür steht, also die Frage: Ist dies der Schmöker, den auch ‚professionelle‘ Politische TheoretikerInnen mit an den Strand nehmen sollten?

Vollmundige Versprechungen

Cover FelschFelschs Titel mag eingängig sein, er führt aber auch leicht in die Irre. So entpuppt sich die  ‚Geschichte einer Revolte‘ bei näherem Hinsehen als Geschichte des gedanklichen Nachhalls von 68. Erzählt wird insofern eher von einer schleichenden Abkehr von politischem Handeln als von einem permanenten Aufstand. Auch das Bild des ‚langen Sommers‘, mit dem Felsch die positive Energie und Lebendigkeit zu umschreiben versucht, die theoretisches  Denken in der Zeit zwischen 1960-1990 ausgezeichnet haben soll, verwirrt. Schließlich ist die von Felsch angebotene Zäsur um 1990 gar nicht der Fluchtpunkt seines Berichts, sondern wird eher abrupt im Epilog verkündet.

Für TheoretikerInnen aber natürlich die wichtigste Frage: Welche Theorie(n) behandelt Felsch – und wie? Hier liegt der besondere Kniff des Buchs. Felsch gibt keine Übersicht über Theorieentwicklung, er entwirrt keine akademischen Debatten und benennt keine Theorieströmungen. Stattdessen erzählt er die Geschichte des Merve-Verlags und seiner wichtigsten ProtagonistInnen – Peter Gente, Merve Lowien und Heidi Paris. Auf ihren Spuren zeichnet Felsch nach, was es hieß, Theorie zu machen: Lesen und das Verlegen von Büchern ist nur ein Teil dieser Unternehmung – als wichtiger noch gilt ihm, wie Theorie als Bekenntnis oder Ausdruck einer als existenziell verstandenen Suche funktionierte.  Theorie also  ‚Wahrheitsanspruch, Glaubensartikel und Lifestyle-Accessoire‘ war.

Die Geschichte einer Suche

Mit diesem Ansatz gelingt es Felsch, Zeitgeschichte aus einer ungewohnten Perspektive erfahrbar zu machen.  Mit großer Liebe zum Detail fertigt er eine dichte Beschreibung der intellektuellen Subkulturen nach 68 an und der Merve-Verlag bietet den optimalen Mikrokosmos für diese Exploration. In dessen Veröffentlichungen bildet sich sowohl der Lebensweg seiner Vordenker als auch die Entwicklung der Theorielandschaft ab. So wird immer gleich mitreflektiert,  wie sich mit und durch Theorie die Sicht der VerlegerInnen auf die Welt wandelte. Von der kritischen Theorie zum Poststrukturalismus zu Luhmann und zur Kunsttheorie führt der Weg. LeserInnen erleben so nicht nur, wie  Moden wechseln, sondern auch, welche Spuren diese Wechsel im Leben der TheorieanhängerInnen hinterlassen. Das Buch folgt also den Suchbewegungen von Gente, Paris und Lowien und überzeugt insbesondere dann, wenn es – ohne zu glätten – die Faszination, aber auch die Widersprüche dieses als existentiell begriffenen Unternehmens anschaulich macht.

Diese Leseerfahrung hat allerdings ihren Preis. Gerade weil das Buch die Geschichte von Gente, Lowien und Paris als Sinnsuche erzählt, erleben auch dessen LeserInnen die Welt nur aus dieser Perspektive. Dies führt zum einen – und ironischerweise – dazu, dass sogar das Verlegen von Büchern zur Nebenhandlung wird. Wenig erfährt man über die Verlagsgeschichte, ökonomische Herausforderungen, den Aufbau des Verlags und seine Routinen. Und fast gar nichts auch über den allgemeineren Wandel der Buchkultur in jener Zeit. Solche Aspekte werden nur manchmal gestreift – etwa wenn die Bedeutung von Raubkopien für die Buchbranche erörtert wird. Dieser Verzicht lässt allerdings Zweifel aufkommen, ob das zentrale Anliegen des Buches – ‚Die Analyse des Gedachten … mit der Analyse des Geschehenen [zu] verknüpfen‘ – so überhaupt realisiert werden kann. Transformationen, wie der Wandel von Öffentlichkeit oder die akademische Professionalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften, kommen in Felschs Erzählung gar nicht vor. Dabei kann man annehmen, dass sie massiven Einfluss auf die Art hatten, wie Theorie betrieben wurde. Und so erklärt sich auch, dass Felsch recht unvermittelt im Jahr 1990 stehen bleibt, und lapidar erklärt, dass die Theorie nun ins Museum abgewandert sei. So gerät aus dem Blick, dass  auch in den 90er Jahren immer neue, wenn auch andere, große Theoriedebatten geführt wurden (Anerkennung, Multikulturalismus, dritter Weg oder Zivilgesellschaft wären einige prominente Schlagworte, welche die politische Theorie in den 90er Jahren popularisiert hat). Teilweise beeinflussen diese Theoriedebatten sogar direkt die Politik – man denke an Ulrich Beck oder Anthony Giddens. Felsch ist hier gefangen in der Nähe zu seinen ProtagonistInnen, für die sich Theorie vom unmittelbaren Wahrheitsanspruch in eine Art künstlerische Ausdrucksform transformiert hat. So folgt er ihnen auch in dem Urteil, dass  das Ende der 1980er Jahre das Ende der Theorie mit sich gebracht hat.

Eine ähnliche Kritik lässt sich, zweitens, auch im Hinblick auf die Rezeption der Merve-Bücher formulieren. Felsch interessieren nur jene, die Merve-VerlegerInnen unmittelbar umgebenden Subkulturen. So erblickt er eine vollständig theoriebegeisterten Generation.Doch findet man im Buch höchstens Allgemeinplätze zur Entwicklung von Leserzahlen, der soziologischen Beschaffenheit des ausgeleuchteten Milieus oder den regionalen Schwerpunkten der Theorierezeption. Selbst was die ‚Nutzung‘ der Theorie angeht, wie diese also von politischen Gruppierungen aufgenommen und in politische Aktion umgesetzt wurde, ist jenseits des Spektrums seiner Ausführungen. So verlässt er nie die Szene, in der die Bücher entstehen und gemacht werden, und bleibt gebunden an die dort herrschende Wahrnehmung der eigenen existenziellen Wichtigkeit. Um dieses Selbstverständnis auch kritisch zu beleuchten und einzuordnen, hätte Felsch klarer von der Erfahrung seiner ProtagonistInnen abstrahieren und auch die sozialen und kulturellen Bedingungen der Theorierezeption beleuchten müssen.

 

Sollte es also dieses Buch sein, welches mit in den Urlaub fährt? Warum nicht, wenn auch nicht unbedingt. Felschs Erzählung ist spannend und sein Einblick in die Szene der Theorieverleger faszinierend. Auch oder vielleicht sogar gerade für Spätgeborene ist das im Buch entfaltete Panorama interessant. So werden Zusammenhänge in einer anderen Weise fass- und fühlbar als dies in Seminardiskussionen über die Texte geschehen kann. Wer aber nach einem Buch sucht, welches nicht nur Theoriebegeisterung beschreibt und behauptet, sondern auch etwas über Theorie sagt, wird bei Felsch nicht fündig. Hierzu hätte es einer theoretisch eigenständigen Perspektive bedurft, um von der unmittelbaren Erfahrung der ProtagonistInnen zu abstrahieren und auch die sozialen und kulturellen Bedingungen der Theorieproduktion zu beleuchten. So hätte sich leichter erkennen lassen, dass sein Buch nicht die Geschichte der Theorie in Deutschland erzählt, sondern nur eine Geschichte.

 

Philip Wallmeier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Die Transnationalisierung von Herrschaft und Widerstand“ an der Uni Frankfurt. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der Kommune als Form von Widerstand und deren Veränderung seit den 1960er Jahren.

Thorsten Thiel ist Koordinator des Leibniz-Forschungsverbundes „Krisen einer globalisierten Welt, assoziierter Postdoc am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ und fester Redakteur des Theorieblog.


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