theorieblog.de | Agonistischer Pluralismus braucht keinen gegen den Strich gebürsteten Schmitt
14. Juli 2015, Rohgalf
Chantal Mouffes agonistischer Pluralismus gehört zu den angesagtesten politischen Theorien dieser Tage – auch über die Fachdisziplin hinaus. Aufhorchen lässt Mouffes Theorie wohl nicht zuletzt, da sie wesentliche Theorieelemente aus der kritischen Lektüre Carl Schmitts („mit Schmitt gegen Schmitt“) gewinnt, eines erbitterten Gegners des Liberalismus und des Pluralismus. Weitaus weniger aufregend und originell stellt sich Mouffes Theorie allerdings dar, wenn man sie mit dem Neo-Pluralismus des Schmitt-Antipoden Ernst Fraenkel konfrontiert.
Schmitts Ausführungen zum Politischen und zur Freund-Feind-Unterscheidung, vor denen die Liberalen vergeblich in Ökonomie und Moral Zuflucht suchen würden, mag attraktiv sein für Mouffe, die gegen die „postpolitische Vision“ des Neoliberalismus ankämpft. Bei Licht betrachtet kostet es jedoch schon einige Mühe, Schmitts identitärer Demokratietheorie originäre Einsichten in die pluralistische Demokratie abzutrotzen. Hingegen können wir alles, was Mouffe meint, aus Schmitt (und gegen dessen Intention) herausdestillieren zu müssen, gleichsam einsatzbereit bei Fraenkel finden.
Aus welchen Gründen hält Mouffe Schmitt für unentbehrlich?
a) Man komme um Schmitt nicht herum, wolle man die unausweichliche Konflikthaftigkeit des Politischen erfassen, für die der Liberalismus blind sei. Schon eine oberflächliche Kenntnis von ausgewiesenen Liberalen wie Berlin oder Dahrendorf zeigt, dass dieses Urteil schlichtweg unzutreffend ist. Nicht zu Unrecht haben Straßenberger und Rzepka Mouffe jüngst auch mit dem Etikett des konfliktiven Liberalismus versehen. Zudem betont Schmitt die Unausweichlichkeit des Konflikts zwischen politischen Einheiten, die jeweils kollektiv die Freund-Feind-Entscheidung treffen. Das Politische begründet bei Schmitt ein Pluriversum von in sich monistischen politischen Einheiten. Konflikte innerhalb der Gesellschaft spielen dann eine Rolle, wenn sie eine Intensität erlangen, die die politische Einheit zu sprengen droht.
Im Unterschied dazu hat Fraenkel – wie Mouffe – die entscheidende Rolle des Konflikts innerhalb von Gesellschaften hervorgehoben. Die monistische volonté générale, nach der auch Schmitt seine identitäre Demokratie modelliert, impliziert ein Gemeinwohl a priori, das lediglich entdeckt werden muss. Nach Fraenkel kann es in modernen, de facto pluralistischen Gesellschaften hingegen lediglich ein Gemeinwohl a posteriori geben als Ergebnis des politischen Prozesses: „als Resultante aus dem Parallelogramm der divergierenden ökonomischen, sozialen und ideellen Kräfte […] und [als] Ausgleich der antagonistischen Gruppeninteressen“ (Gesammelte Schriften V, S. 293).
b) Schmitt sei unverzichtbar, um der Dimension des Kollektiven im Politischen gerecht werden zu können, die im Liberalismus durch die Dominanz des Individualismus verdeckt werde. Auch hier sind Zweifel angebracht, hat doch bereits der Liberale Alexis de Tocqueville eindringlich vor der Atomisierung und dem Rückzug ins Private gewarnt.
Abgesehen davon ist Fraenkel zu dieser Problematik ein ungleich interessanterer Gewährsmann als Schmitt. Die Unzulänglichkeit eines rein individualistischen Demokratieverständnisses sowie die atomisierte Gesellschaft sind bei Fraenkel äußert präsent. Anders als Schmitt sitzt er jedoch nicht dem Phantasma des „Einheitsvolkes“ (Lefort) auf. Stattdessen macht Fraenkel als Gegengewicht zum Individualismus geltend, dass das Volk in den modernen Demokratien auch aus Mitgliedern verschiedener Körperschaften, Vereinigungen, Parteien usw. besteht, die auf verschiedener Ebene versuchen, ihre Interessen durchzusetzen und dabei immer wieder gezwungen sind, Kompromisse mit ihren Opponenten einzugehen. Notabene, der Kompromiss ist hier nicht ein Zwischenschritt auf dem Weg zur endgültig versöhnten Gesellschaft, sondern eher – wie Mouffe sagt – eine „Atempause in einer fortgesetzten Konfrontation“ (Das demokratische Paradox, S. 104).
Vor die Wahl zwischen Individualismus und Kollektivismus gestellt, würde Fraenkel antworten, dass die Bürger als Staatsbürger Individuen mit unveräußerlichen Rechten sind, aber – über den Wahlakt hinaus – am politischen Prozess lediglich kollektiv mitwirken können, weder als bloße Individuen, noch als Teil einer „amorphen Masse“, sondern als „Verbands- und Parteibürger“. Wir finden bei ihm die Vorstellung eines subsidiären Aufbaus der Gesellschaft, in dem jedem Teil Autonomie zugebilligt wird, ohne das die Kohäsion des Ganzen damit per se zur Disposition gestellt wäre, sondern umgekehrt eher gestärkt werden kann.
c) Schließlich brauche man Schmitt, um angemessen in Rechnung stellen zu können, dass eine politische Einheit nicht zuletzt durch geteilte Werte zusammengehalten werde, der Staat deshalb nicht „neutral“ sein könne und der demos spezifischer als „die Menschheit“ definiert sein müsse. Vollkommen zu Recht stellt Mouffe heraus, dass Schmitts Homogenität eine substanzielle, jedem politischen Prozess vorausgehende und deshalb unverhandelbare ist, die keinen Raum für gesellschaftlichen Pluralismus lässt und tendenziell totalitär ist. Ausdrücklich spricht Schmitt in seiner Parlamentarismusschrift davon, dass das Heterogene ggf. „ausgeschieden“ oder „vernichtet“ werden müsse. In „Staat, Bewegung, Volk“ (1935) gibt er der Homogenität die Bedeutung von „Artgleichheit“ und „echter Volkssubstanz“. Um Schmitt dennoch in den Dienst ihres agonistischen Pluralismus stellen zu können, gibt Mouffe der Homogenität ad hoc die Bedeutung eines Konsens über die Geltung demokratischer Prinzipien und der Identifikation mit diesen. Mouffe zieht so aus Schmitts Überlegungen zur Homogenität kurzerhand die Schlussfolgerung, dass die pluralistische Demokratie den Konsens über die „Spielregeln“ voraussetze und so Schmitts Feind zum politischen Gegner zivilisiert werden könne.
Fast wortgleich erläutert Fraenkel seine Unterscheidung zwischen nicht-kontroversem und kontroversem Sektor. Ihm zufolge muss es einen Konsens in der pluralistischen Gesellschaft über grundlegende Werte und Prinzipien geben. Diese „Spielregeln“ stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen der Konflikt der Interessen, aber auch um die Staats- und Gesellschaftsordnung, auf politischem, d.h. unblutigem Wege ausgetragen werden kann. Dieser nicht-kontroverse Sektor ist nicht gegen jede Veränderung immun, wandelt sich aber nur langsam im politischen Prozess.
Angesichts dieser Überlegungen erscheint die Originalität von Mouffes Theorie in einem anderen Licht. Welchen Mehrwert verspricht es, sich Mouffes Versuch anzuschließen, einen ausgewiesenen Pluralismusgegner wie Schmitt auf Biegen und Brechen zum wichtigsten Gewährsmann für eine Theorie eines demokratischen Pluralismus zu machen?
Einerseits mag dies ein intellektuell anregendes Unterfangen sein und eine theoriearchitektonische Entscheidung, die Aufmerksamkeit erwarten lässt. Andererseits ist Schmitts Semantik des Ernstfalls offenkundig auch attraktiv für eine pluralistische, alles andere als autoritäre Linke, die sich zu Recht mit der vorgeblichen „Alternativlosigkeit“ des Neoliberalismus nicht zufrieden gibt. Ungeachtet dessen führt Mouffes Denken „mit Schmitt gegen Schmitt“ jedoch nicht über die Erkenntnisse des Neo-Pluralismus hinaus, die Fraenkel bereits vor einem halben Jahrhundert – nicht zuletzt gegen Schmitt – formuliert hat.
Schmitt ist in der Tat ein herausfordernder politischer Denker, mit dem eine kritische Auseinandersetzung nach wie vor lohnt. Für eine Theorie des agonistischen Pluralismus hingegen ist er entbehrlich und Fraenkel eindeutig die aufschlussreichere Quelle.
Jan Rohgalf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Rostock. Er forscht zur Demokratie in der Spätmoderne und ihrem Imaginären sowie zu sozialen Bewegungen und Protest.
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