theorieblog.de | „Tristesse oblige“. Ein Nachruf auf Odo Marquard

22. Juni 2015, Ingenfeld

Am 9. Mai dieses Jahres starb in Celle, im Alter von 87 Jahren, Odo Marquard. Im Jahr 1928 geboren, gehörte er zu jener ersten in Nachkriegsdeutschland ausgebildeten und akademisch sozialisierten Generation, die für die Hochschulen und in diesem Falle für die universitäre Philosophie der neugegründeten Bundesrepublik prägend werden sollte. Die eigene Zugehörigkeit zu der von Helmut Schelsky so bezeichneten „skeptischen Generation“ nahm Marquard entschieden für sich in Anspruch. Er studierte ab 1947 in Münster und Freiburg Philosophie, Germanistik und Theologie. Dabei stieß er an der westfälischen Universität rasch in den Kreis um Joachim Ritter, dessen vermeintlicher oder tatsächlicher Einfluss auf die Geistesgeschichte der Bundesrepublik längst selbst Gegenstand der historiographischen Analyse geworden ist. So wurden etwa Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Karlfried Gründer und Martin Kriele dort zu Marquards Kommilitonen und Freunden.

Im Jahr 1954 wurde Marquard von Max Müller in Freiburg mit einer Arbeit „Zum Problem der Logik des Scheins im Anschluß an Kant“ promoviert. Anschließend wirkte er als Assistent Ritters in Münster, habilitierte sich und wurde 1965 an die Universität Gießen berufen, der er bis zur Emeritierung treu blieb. Durch mannigfache Verbindungen und Funktionen, beispielsweise durch die Teilnahme an den Tagungen der 1963 initiierten Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“, nicht zuletzt aber durch seine Publizistik wirkte Marquard weit über den Gießener Horizont hinaus. Für seine philosophischen Arbeiten bevorzugte er die kleine Form; seine zahlreichen Aufsätze wurden in mehreren Bänden kompiliert veröffentlicht. Selbstironisch brachte er den knappen, ironisch-pointierten Stil seiner Essays, für den ihm unter anderem der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1984) und der Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1996) zugesprochen wurden, auf den Begriff einer „Transzendentalbelletristik“.

 

Einen von Marquard in zahlreichen Essays und Vorträgen immer wieder variierten Ausgangspunkt seiner Philosophie formuliert bereits die Dissertationsschrift mit dem Marx’ elfte These über Feuerbach persiflierenden Bonmot: „Die Philosophen haben die Welt zwar verschieden verändert; es kommt aber darauf an, sie zu verschonen.“ In dem im Jahr 1973 erschienenen Band „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ findet sich diese These programmatisch ausgebaut zu einer Grundsatzkritik neuzeitlicher – oder im Sinne Marquards vielmehr: gegenneuzeitlicher – Geschichtsphilosophie. Diese neige dazu, im Geiste der Aufklärung Mündigkeit und Autonomie des Menschen zu Ziel und Zweck der Weltgeschichte zu erheben, ihn aber gerade im Vollzug dieser emanzipatorischen Mission wieder an die Kette zu legen: „Der geschichtsphilosophische Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit endet mit der Schlüsselgewalt ihrer selbstverschuldeten Vormünder.“ Die Geschichtsphilosophie ist für Marquard der philosophische Ausdruck für einen Abweg der Neuzeit, in der sie in ihr Gegenteil umschlägt, indem sie den Menschen im Namen ihres höheren Ziels, letztlich im Namen des Menschen selbst instrumentalisiert und missbraucht. In dieser Kritik steht Marquard repräsentativ für viele Autoren seiner Generation, die sich mit der Geschichtsphilosophie auseinandergesetzt haben – Hanno Kesting oder Reinhart Koselleck ließen sich beispielsweise nennen. Insbesondere ist sie aber auch Ausdruck der geistigen Begegnung mit Hans Blumenberg, dessen Anregungen für Marquard bleibende Bedeutung gewinnen.

In der Einleitung zu seinen „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ schreibt Odo Marquard seinem Buch einen werkautobiographischen Charakter zu: Es dokumentiere seinen Weg von dem Versuch, die Geschichtsphilosophie zu verteidigen, über eine Kritik ihrer Gegner bis hin zu ihrer skeptischen Distanzierung. Damit wird das Buch zu einem Stück der Verselbständigung gegenüber dem akademischen Lehrer Joachim Ritter. Dieser hatte die Gegenwart im Sinne Hegels als eine Epoche der Entzweiung rekonstruiert, in der gesellschaftliche, ökonomische, wissenschaftlich-technische Entwicklung einerseits und das Leben des Subjekts in seinen Wertorientierungen, in Traditionen und überkommenden Bindungen andererseits auseinandergetreten seien. Überzeugt davon, dass sich im Verlauf der Geschichte menschliche Freiheit und Vernunft in zunehmendem Grade ausdifferenzierten, vertrat Ritter zwar keinen blanken Fortschrittsoptimismus, aber doch eine zuversichtliche Philosophie, dass die Moderne trotz oder aufgrund ihres Entzweiungscharakters gelingen könne. Wie sein Freund Hermann Lübbe greift auch Odo Marquard immer wieder auf diesen entzweiungstheoretischen Ansatz zurück, insbesondere indem er auf die Kompensationsbedürftigkeit einer sich modernisierenden Gesellschaft im Hinblick auf ihre Vergangenheit hinweist: „Zukunft braucht Herkunft“. Es ist nicht zu übersehen, dass Marquard mit seiner Abwendung von der Geschichtsphilosophie letztlich auch die die Gegensätze integrierende Perspektive der Philosophie seines Lehrers abstreift.

 

Odo Marquard erzählt die Geschichte der Neuzeit als Geschichte einer Theodizee, und zwar einer in besonderer Weise erfolgreichen. An die Stelle des göttlichen Gerichts über den sündigen Menschen trete mit dem 18. Jahrhundert – ein Akt der Selbstermächtigung – die Anklage Gottes durch den Menschen angesichts der Übel in der Welt. Doch wo er an der Allmacht und Güte des christlichen Gottes festhalte, gelange der Mensch so zu der paradoxen Konsequenz, dessen Existenz zu opfern: „Gott muß – zugunsten seiner Güte – aus der Rolle des Schöpfers befreit, ihm muß – zur Rettung seiner Güte – sein Nichtsein erlaubt oder gar nahegelegt werden.“ Ergebnis dieses „Atheismus ad maiorem Dei gloriam“ ist Marquard zufolge nun gerade die Geschichtsphilosophie: Sie postuliere ohne Gott eine Wahrheit über den Verlauf der Geschichte und besetze entsprechend die Rollenfächer der Vorkämpfer oder der Feinde des historischen Prozesses.

„Für den Menschen ist es eine schwierige Sache, nach dem Ende Gottes menschlich zu bleiben“, resümiert Marquard. Stattdessen trete er in der Neuzeit in den Rollen von Kläger, Richter und Angeklagtem zugleich auf – freilich nicht in einer Person. Dem Urteilsspruch des geschichtsphilosophischen Tribunals versuche der Einzelne durch „Ausbruch in die Unbelangbarkeit“ zu entgehen, das heißt indem er sich selbst zum Richter erhebt. Das Ergebnis sei eine „Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit“, in deren Konsequenz auch die im Namen einer wie auch immer verstandenen Wahrheit begangenen Verbrechen des 20. Jahrhunderts stehen. Wie die Negation Gottes eine Konsequenz der Theodizee ist, ist eine Folge der Anthropodizee die Negation des Menschen. Marquards Invektiven gegen die Geschichtsphilosophie richten sich ab den 1970er-Jahren allerdings nicht allein gegen totalitäre Ideologien und ihre terroristischen Protagonisten, sondern auch gegen eine als tendenziell selbstgerecht wahrgenommene akademische Linke. Wie für seinen Freund Hermann Lübbe rückt auch für Odo Marquard namentlich Jürgen Habermas in die Rolle eines Lieblingsgegners. In den damit einhergehenden, oft überscharf gezeichneten polemischen Frontstellungen der 1970er- und 1980er-Jahre spiegeln sich so auch die Irritationen von sich im Kontext der Adenauer-Ära liberal und progressiv aufseiten der Sozialdemokratie positionierenden Intellektuellen angesichts gesellschaftspolitischer Diskursverschiebungen.

Mag die Schärfe dieser Auseinandersetzungen rückblickend oft verwundern, so verweist sie bei Marquard doch auf eine eigenständig entwickelte Position philosophischer Skepsis, die er als Sinn für Gewaltenteilung, für die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten und als Bereitschaft zur eigenen Kontingenz näher bestimmt hat. Der Versuch, mag er bei Marquard auch nicht in aller Differenziertheit gewürdigt werden, die Gesellschaft auf zwischen gleichen und freien Subjekten auf Grundlage kommunikativer Rationalität und diskursiver Verständigung ermittelten Prinzipien aufzubauen, erscheint aus dieser Perspektive vermessen. Einerseits unterschätzt er für Marquard systematisch, was in der Wirklichkeit schon tatsächlich verwirklicht ist, indem es stattdessen von einem abstrakten Sollen ausgeht, dem die Wirklichkeit nie zu genügen vermag. Andererseits überschätzt dieser Ansatz Marquard zufolge aber auch die Möglichkeiten des Menschen, dem es als endliches Wesen, schon ob der Kürze seines Lebens, niemals möglich sei, die Grundlagen seiner Existenz vollständig neu auszuhandeln und zu begründen.

 

Sowohl gegenüber der auf letzte Entscheidungen drängenden Daueranspannung der Rechten wie auch gegenüber einer als gefährlich, ja verhängnisvoll empfundenen „Bürgerlichkeitsverweigerung“ der Linken hat Marquard stets den in der Bundesrepublik geebneten Weg von Rechtstaatlichkeit, freiheitlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft als verteidigenswert geltend gemacht. Im Zweifel seien Veränderungen – hierin greift Marquard nicht anders als Lübbe auf Martin Kriele zurück – gegenüber dem Bestehenden stets begründungspflichtig. Es griffe jedoch zu kurz, in diesen Stellungnahmen im Sinne einer prononcierten Bürgerlichkeit eine für die alte Bundesrepublik möglicherweise typische Selbstzufriedenheit zu erkennen. Dieser Eindruck übersähe das keineswegs selbstgewisse Fundament, auf dem die „Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten“ bei Odo Marquard aufruht, nämlich seinen ganz illusionsfreien Blick auf das, was übrigbleibt, wenn die Gewissheit absoluter Prinzipien und Wahrheiten geschwunden ist: das Bewusstsein des Menschen als eines hinfälligen, endlichen Wesens.

Odo Marquard hat seine Philosophie der Endlichkeit des Mängelwesens Mensch stets als eine Position der Skepsis eingeführt. Diese bedeutet für ihn auch eine Zurückhaltung gegenüber absoluten Begründungslasten und endgültigen Entscheidungsforderungen, letzten Identifikationen und übersteigerter Erwartungen an das Subjekt, an denen dieses nur zu scheitern vermag. Der einzelne Mensch ist nicht der Souverän seiner selbst, es ist keine absolute, transzendentale Instanz. Seine Freiheit besteht für Marquard gerade nicht darin, sich von äußeren Einflüssen zu emanzipieren, sondern darin, viele mögliche Determinanten in einem „Determinantengedrängel“ gegeneinander auszuspielen. Unter diesen Bedingungen geht es dem Menschen, also abseits hoher Ansprüche und Ideale, darum, das Bestmögliche zu erreichen: „Vize-Lösungen“, wie Marquard treffend formuliert.

Bei Lichte betrachtet, ist die leichtfüßige Ironie seiner wissenschaftlichen Prosa für Marquard also nicht etwa ein Selbstzweck, sondern Ausdruck der Grundproblematik menschlicher Existenz, wie sie sich in der Philosophie niederschlägt: „[D]as ästhetische Kompositions- und Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn aushaltbarer zu machen.“ So gesehen zieht Marquard die Konsequenz aus einer gründlichen Ernüchterung über Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschen in der modernen Welt, aus der eben noch das Beste, Humanste zu machen ist, mehr aber nicht. Es zeugt von den Schmerzen dieser Desillusionierung, dass Marquard seine „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ unter dem Motto „Tristesse oblige“ erscheinen ließ.

 

Martin Ingenfeld ist Politikwissenschaftler und schloss seine Promotion an der LMU München mit einer Arbeit über Religions- und Modernetheorie im Umkreis von Joachim Ritter ab. Seine Dissertation erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2016 bei MAP (Modern Academic Publishing).


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