Wiedergelesen: Nachrichtendienste im Auftrag der Öffentlichkeit – Walter Lippmanns »Public Opinion«

Wiedergelesen-Beitrag zu: Walter Lippmann, »Public Opinion«, New York: Harcourt, Brace and Company 1922 (dt.: »Öffentliche Meinung«, übers. von Herman Reidt, München: Rütten und Loening 1964). Die Originalausgabe ist hier frei verfügbar.

 

Walter Lippmanns 1922 erschienenes Buch »Public Opinion« ist ein bahnbrechendes Werk, das sich einer disziplinären Zuordnung entzieht. Aufgrund der sozialpsychologischen Analyse der Massenmedien, der Funktion des modernen Journalismus, der Rolle der seit dem 1. Weltkrieg zunehmenden Propaganda und der Grundlegung der Stereotypenforschung, gilt das Buch vor allem in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft als Grundlagenwerk. Neben den Entstehungsbedingungen der öffentlichen Meinung in industrialisierten, ausdifferenzierten Gesellschaften hinterfragt Lippmann darin auch das Verhältnis von Öffentlichkeit und politischer Theorie. Zudem macht er einen konkreten, institutionellen Reformvorschlag zur Einrichtung von Nachrichtendiensten, in denen der Politikwissenschaft eine zentrale Rolle zukommt.

Der 32-jährige Lippmann (1889–1974) war zu diesem Zeitpunkt auf dem besten Weg, zu einem der einflussreichsten Journalisten der USA zu werden. In Bezug auf seine eigene politische Position waren die 20er Jahre die Zeit seiner Veränderung vom sozialistischen Studenten – 1909 gründete er den Harvard Socialist Club und pflegte nach dem Studium enge Beziehungen zur britischen Fabian-Gesellschaft – zum konservativen und eher wirtschaftsliberalen politischen Kommentator. Internationale Bekanntheit erreichte er neben zahlreichen Büchern vor allem durch seine in weltweit über 300 Zeitungen abgedruckte Kolumne »Today and Tomorrow«, die ab 1931 bis in die 60er Jahre mehrmals wöchentlich schrieb und für die er 1958 den Pulitzer-Preis erhielt.

1917 hatte Lippmann unter Präsident Wilson das »Committee on Public Information« (CPI) konzipiert, das für die erste großangelegte Propaganda-Aktion der USA zuständig war. Wenige Tage vor der Gründung des CPI wurde der Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg beschlossen, wobei festzuhalten ist, dass Wilson 1913 mit einer pazifistischen Kampagne den Präsidentschaftswahlkampf gewonnen hatte. Durch das CPI wurde die amerikanische Bevölkerung von einer mehrheitlich friedlichen Haltung zu einer begeisterten Befürwortung des Kriegseintritts bewegt – in diesem Ausmaß eine bis dahin beispiellose und undenkbare Manipulation der öffentlichen Meinung.

Übersehen wird allerdings häufig, dass Lippmanns ursprüngliche Konzeption des CPI eine völlig andere war. Er hatte eine eher sachliche Informationsstelle zur Aufklärung der Öffentlichkeit geplant. Letztlich aber ging das CPI, in dem u.a. der PR-Spezialist und Propaganda-Befürworter Edward Bernays eine zentrale Funktion inne hatte, einen anderen Weg: Innerhalb weniger Monate wurden zahlreiche Spezialisten aus Journalismus, Werbeindustrie und Filmbranche rekrutiert und dutzende Büros im In- und Ausland eröffnet. Durch eine groß angelegte, nahezu industrielle Kampagne, basierend auf den jüngsten Ansätzen der Massenpsychologie, wurde die Öffentlichkeit gezielt überredet. Allein in den 18 Monaten der amerikanischen Beteiligung am Ersten Weltkrieg haben etwa 75.000 freiwillige Redner, so genannte »Four Minute Men«, über 750.000 Reden zur Kriegspolitik in 5.200 Orten in den USA gehalten. Insgesamt hat das CPI mit ihrer umfassenden Propaganda über 300 Millionen Menschen erreicht.

Lippmanns Analyse der Manipulationsmöglichkeiten der öffentlichen Meinung profitiert von dieser Erfahrung aus erster Hand. Anders als Bernays, Lasswell und andere Befürworter der Propaganda und Massenpsychologie, sieht Lippmann darin aber eine Gefahr für die Demokratie und für die liberalen Grundlagen der Gesellschaft.

Sein konkreter Reformvorschlag besteht in der Einrichtung unabhängiger Nachrichtendienste (intelligence bureaus) als Ergänzung der staatlichen Institutionen. In diesen sollen vor allem Politikwissenschaftler arbeiten, die kontinuierlich Informationen über die Arbeit der Regierung und der staatlichen Institutionen sammeln, auswerten und zu wissenschaftlich fundierten Hintergrundanalysen aufbereiten. Ihre Ergebnisse sollen insbesondere den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft zur Verfügung gestellt werden, aber auch Journalisten und anderen Wissenschaftlern zugänglich sein, die sich mit den jeweiligen Themen beschäftigen.

Anders als in seiner früheren Konzeption in »Liberty and the News« (1920), in der er die Idee öffentlich-rechtlicher Presseagenturen verfolgte, geht es Lippmann in »Public Opinion« nicht mehr primär um die Aufklärung der breiten Öffentlichkeit, aber auch nicht um deren Ausschluss. Vielmehr sieht Lippmann die (Politik-)Wissenschaft in der Rolle, die kritische Funktion der Öffentlichkeit zu übernehmen und eine fundierte »Experten-Kritik« an der Politik auszuüben, die dann in zweiter Hand über den Journalismus an die breite Öffentlichkeit vermittelt wird. Von der Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung öffentlicher Kritik erhofft sich Lippmann dreierlei: die Versachlichung der Politik, die Versachlichung der journalistischen Berichterstattung und die Verminderung der Manipulationsmöglichkeit der Öffentlichkeit.

Voraussetzung dafür ist, dass die liberale Vorstellung aufgegeben wird, dass die breite Öffentlichkeit – bestehend aus gut informierten Bürgern – unter den Bedingungen moderner Massendemokratien in der Lage wäre, allein durch die Konsumierung der Nachrichten hinreichend kompetente Urteile und Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungen zu entwickeln. Die Annahme, dass »die« Öffentlichkeit einen aufgeklärten Willen hat, den streitende Parteien voraussetzen und stets für ihre eigene Position beanspruchen, stützt nur die politische Instrumentalisierung der Öffentlichkeit. Diese ist, wie Lippmann zeigt, längst entmündigt und zum Spielball einflussreicher Interessengruppen geworden. Die soziale Realität in der Moderne ist zu komplex für die kognitive Kapazität des Einzelnen und setzt daher die Bildung und Verwendung von Stereotypen voraus, insbesondere in der journalistischen Vermittlung politischer Ereignisse. Dadurch entsteht jedoch eine »Pseudo-Umwelt« in den Köpfen – eine Vorstellung von der Welt, die in beträchtlicher Differenz zu den tatsächlichen Vorgängen stehen kann, die aber den Hintergrund für Überzeugungen, Urteile und Handlungen bildet. Propaganda, Werbung, Massenmedien und kultureller Mainstream tragen dazu bei, dass bestimmte kulturelle Muster von Stereotypen gezielt erzeugt, verstärkt und verfestigt werden.

Lippmanns kritische Analyse der Manipulationsmöglichkeiten der öffentlichen Meinung hat – insbesondere durch seine Beteiligung am CPI, aber auch durch seine spätere Position als einflussreicher Publizist und seine Nähe zu den Mächtigen – zu zahlreichen Missverständnissen in Bezug auf die Verortung des jungen Lippmann geführt. In der Rezeptionsgeschichte ist eine solche Fehlinterpretationen eher die Regel als die Ausnahme und wird besonders prominent von Noam Chomsky vertreten, der Lippmann mit Bernays in eine Kategorie steckt und in ihm den Inbegriff einer Manipulation durch die Massenmedien sieht.

Dabei ist die Rolle des »Experten« bei Lippmann weniger auf eine herrschende Klasse ausgerichtet, sondern begründet sich pragmatisch aus dem Umstand, dass es die Komplexität der Probleme in modernen Gesellschaften erfordert, dass es Menschen gibt, die sich professionell mit ihnen auseinandersetzen und nicht nur nebenbei, nach dem Feierabend. Die Gefahr, dass die Institutionalisierung der öffentlichen Kritik eigene Interessen der Experten hervorbringen könnte, hat Lippmann durchaus erkannt und ist darauf in seinem Entwurf eingegangen, etwa durch die institutionelle Trennung der Nachrichtendienste von Legislative und Exekutive, die Entkoppelung von Legislaturperioden und kurzfristigem Denken durch eine unabhängige und langfristige Finanzierung sowie durch die Unabhängigkeit, eine eigene Agenda zu setzen und nicht nur als Wissensreserve auf Abruf zu dienen. Lippmanns Experten sollen keine partikularen Interessen vertreten und die Nachrichtendienste in diesem Sinn keine modernen Think Tanks sein. Sie sollen vielmehr das Gemeinwohl, die Rechtlosen, Stimmlosen, Unsichtbaren und Ungeborenen repräsentieren und die subtilen Zusammenhänge sichtbar machen, die im Kampf der politischen Kräfte und im undifferenzierten, auf Sensationen und Skandale ausgerichteten Getöse der Öffentlichkeit untergeht:

»He [the expert, A.A.] is there to represent the unseen. He represents people who are not voters, functions of voters that are not evident, events that are out of sight, mute people, unborn people, relations between things and people«.

Lippmann könnte damit als ein Wegbereiter der Postdemokratie verstanden und kritisiert werden, dem es nicht auf die Partizipation der Bürger ankommt. Tatsächlich greift an diesem entscheidenden Punkt auch die Kritik von John Dewey an, die dieser in »The Public and its Problems« (1927) ausgeführt hat. Aber Lippmann ist stark von der philosophischen Tradition des Pragmatismus beeinflusst und geht nicht davon aus, wie die Postdemokratie, dass das Allgemeinwohl wissenschaftlich objektiv durch Experten bestimmbar sei. Vorausgesetzt wird dagegen, dass es immer Individuen sind, die in spezifischen Kontexten denken, entscheiden und handeln. Damit sind es konkrete Situationen, in denen ein bestimmtes Wissen, Argumente und kritisches Denken relevant wird. Wer im Einzelfall daran beteiligt, wer von den Konsequenzen betroffen und wer »Experte« in einer bestimmten Angelegenheit ist, hängt vom Einzelfall ab. Fest steht für Lippmann, dass auch professionelle Spezialisten immer nur auf einem sehr kleinen Gebiet Experten sind, aber grundsätzlich ist »every one of us […] an outsider to all but a few aspects of modern life«.

In jedem Fall ist es falsch, Lippmanns »Public Opinion«, wie Chomsky, als Plädoyer für Manipulation und Propaganda zu lesen. Damit würden die zahlreichen Anregungen verloren gehen, die Lippmanns herausragende Analyse trotz ihres hohen Alters auch für die Gegenwart noch zu bieten hat. Natürlich sind Lippmanns Nachrichtendienste, wie bereits deutlich wurde, anders ausgerichtet als die heutigen Nachrichten- und Geheimdienste, die überwiegend nach dem 2. Weltkrieg entstanden sind. Angesichts der gegenwärtigen Überwachungsaffäre erscheint Lippmanns Konzeption dezentraler intelligence bureaus, die im Auftrag der Öffentlichkeit die Politik überwachen und versuchen, langfristiges kritisches Denken zu etablieren, doch ziemlich attraktiv.

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