theorieblog.de | Putinnichtversteher – Argumente für eine andere Außenpolitikanalyse

19. Mai 2015, Hausteiner

Seit der Annexion der Krim haben sich Experten wie Politiker daran versucht, in Putins Kopf zu blicken, also zu verstehen, was ihn antreibt: Ist er ein wahnsinniger, machthungriger Verbrecher wie Stalin, ein politisches Genie, das einen geheimen Plan verfolgt, oder ein nationalistischer Fanatiker? Was sind seine geheimen ideologischen Quellen, wer ist sein Rasputin, was ist sein langfristiger Masterplan? „Westliche“ Vorstellungen von den treibenden Kräfte hinter dem Krieg am Rande Europas scheinen vornehmlich auf Ideen und manchmal Phantasien über das innere Funktionieren des Kremls zu beruhen – er gilt als neo-zaristische Festung der vertikalen Machtausübung, die einzig dem Willen und Launen seines neomonarcischen Herrschers gehorcht.

Doch obwohl wir es im Falle Putins offenbar mit dem autokratischen Führer einer aufstrebenden neo-imperialistischen Macht zu tun haben, handelt es sich bei der Konzentration auf Ideen, Handlungen und angebliche Geheimpläne einer einzigen Person – so schillernd diese auch erscheinen – um eine übermäßig beschränkte und möglicherweise riskante Perspektive. Beschränkt ist sie, weil sie die systemischen Eigenschaften der russischen Politik unterschätzt; gefährlich kann sie aber dann werden, wenn auf psychologischer Spekulation beruhende Analysen zu problematischen außenpolitischen Ratschlägen führen – seien diese übermäßig konfrontativ oder über Gebühr beschwichtigend.

Im Kontrast ist es ratsam, die jüngsten russischen Handlungen als Ergebnis unterschiedlicher und durchaus pfadabhängiger Dynamiken zu verstehen und sich vor bequemen, monokausalen Erklärungen zu hüten. (Eigentlich sollten Multikausalität und Pfadabhängikgeit für jeden Beobachter des Politischen einigermaßen selbstverständliche Annahmen sein – aber offenbar ist diese Einsicht in Teilen der derzeitigen Debatte verloren gegangen). Ich möchte im Folgenden drei miteinander verbundene Dimensionen für eine adäquatere Analyse der russischen Außenpolitik vorschlagen.

Erstens geht es – und das ist nicht weiter überraschend – um  Geopolitik: Zentral für die russische Führung ist offenbar die Garantie einer umfänglichen Einflusssphäre, und zwar mit allen Mitteln. Die jüngste Aggression war ein dramatischer Schritt hin zur Einrichtung einer großzügigen Pufferzone zur Verhinderung einer Expansion von NATO und EU. Die radikale Destabilisierung der Ukraine, zuerst durch die Annexion der Krim, dann – und deutlich überraschender und beunruhigender – durch das Schüren eines Bürgerkriegs im Osten kann dementsprechend teilweise erklärt werden: Russlands Ziel ist nicht die zügellose Vergrößerung russischen Territoriums, sondern dessen Isolation vor westlichem Einfluss und eine Schwächung der EU. Freilich produziert diese Strategie Ergebnisse, die wirtschaftlich und militärisch nur kurz- und mittelfristig tragbar sind. Die Auswirkungen auf das russische Wirtschaftswachstum sind nämlich dramatisch: Alexei Kudrin, der ehemalige russische Finanzminister, behauptet, dass allein die Annexion der Krim mittelfristig Kosten von 150-200 Milliarden US-Dollar verursacht. Und der Historiker Stephen Kotkin formulierte das Problem unlängst so: die russische Außenpolitik ist so wenig nachhaltig, als trete man auf einen Rechen – und zwar immer wieder. Aber warum sollte die russische Führung eine geopolitische Strategie verfolgen, die auf lange Sicht derart irrational ist?

Eine Erklärung dafür ist die Widerständigkeit des fest etablierten Systems der Korruption in Russland, das einen zweiten Faktor darstellt: die Eliten rund um, aber sicherlich nicht beschränkt auf Putin, stützen ihre Macht und ihren Wohlstand auf ein relativ stabiles Korruptionsnetzwerk. Öffentliche Ämter werden kontinuierlich für privates Gewinn- und Vorteilsstreben missbraucht. Diese Eliten taktieren nicht notwendigerweise in Hinblick auf langfristige Folgen, sondern eher mit Blick auf die wenigen Jahre, die sie benötigen, um Geld und ein gewisses Maß an Macht zu akkumulieren. Dieses System war schon lange vor Putins Aufstieg vorhanden und wird ihn wohl auch überdauern, wie ja korrupte Eliten zahlreiche post-sowjetische und andere Potentaten überlebt haben. (Am eindrucksvollsten ist hierbei der Fall des turkmenischen Diktators Saparmyrat Nyýazow.) An dieser Stelle wäre es also falsch, den Kontrast zwischen der ‘Jelzin-Ära’ und der ‘Putin-Ära’ zu überschätzen. Putin hat dieses System sicherlich nicht etabliert – sondern es durchaus weiter zementiert, indem er auf geschickte Art und Weise breite öffentliche Akzeptanz gewann, derer die Elite weiterhin bedarf, um Russlands „imitierter Demokratie“ (Dmitri Furman) zu lenken.

Dies bringt mich zu meinem dritten Punkt, nämlich dem Stellenwert politischer Kommunikation, oder besser: Propaganda. Obgleich westliche Medien Putins massenmedialen Kampagnen und anderen Formen vom Kreml finanzierter Propaganda grundsätzlich sehr kritisch gegenüberstehen, scheint es doch auch auf dieser Seite eine erstaunliche Bereitschaft zu geben, solchen Narrativen, die von der russischen Elite lanciert werden, Glauben zu schenken. Dazu zählt der Kult um starkes und charismatisches Führertums, der Putin als neuen Stalin präsentiert – für den Westen eine bedrohliche Figur, für viele Russen dagegen ein Symbol führungsstarken und dabei skrupellosen Rettertums.
Diese Idee ist selbst Teil eines umfangreichen (aber nicht unbedingt konsistenten) ideologischen Konstrukts, das bisweilen als aggressiver Nationalismus, Imperialismus, oder in seiner regionalen Manifestation als Neo-Eurasianismus bezeichnet wurde. Seine Vertreter binden das Schicksal der Nation oder des Imperiums an die Fähigkeiten eines starken Führers und halten nicht viel von etablierten (und importierten) demokratischen Prozeduren. Dieser ideologische Rahmen ist einflussreich, wenngleich der direkte Einfluss auf Putins nationalistische oder andersartige Überzeugungen unklar bis fraglich ist. Bedeutsamer ist die Affinität großer Teile der russischen Bevölkerung zu der Idee, dass Russland eine rücksichtslose Führerfigur benötige –  rücksichtslos genug, um fremdes Territorium zu beanspruchen oder internationales Recht heraus zu fordern.

Die russische Bevölkerung ist das Ziel dieser Kampagne, die die Position der Elite stärken soll – und nach den Protesten der Mittelschicht 2011 und 2012 scheint das Kreml-Narrativ eines starken Russland mit einem starken Führer, erfolgreich zu sein in ihrem Ziel, die traditionalistischen Teile der Bevölkerung zu reaktivieren. Umfragen des Levada Instituts verzeichnen einen signifikanten Zuwachs der öffentlichen Unterstützung für das Regime: die zuvor schwindenden Zustimmungsraten für Putin – und Stalin! – sind seit dem letzten Jahr in die Höhe geschossen. Die ausschlaggebende Instanz in der russischen Politik ist demnach, trotz des Mangels an Demokratie, immer noch die Bevölkerung. Sie sind ein bedeutendes, wenn nicht sogar das Publikum der brutalen und obsessiv medialisierten geopolitischen Intervention in der Ukraine wie auch des Narrativs eines hierarchischen Russland – und viele scheinen so zu reagieren, wie die korrupte Elite es sich erhofft hat.

Es wäre daher gut, wenn „westliche“ Beobachter ihre Aufmerksamkeit auf andere Ziele als bisher lenkten. Nur weil Russland keine Demokratie ist, heißt das nicht, dass dessen Innenpolitik oder die öffentliche Meinung irrelevant sind. Im Gegenteil: Sie können plausible als die treibenden Kräfte hinter dem Chaos seit 2014 interpretiert sein – vielleicht gilt hier also das Primat der Innenpolitik. Dies impliziert übrigens, dass gegenüber Putin durchaus Vorsicht walten lassen sollten: Nicht weil er ein neuer Stalin sein könnte, sondern weil ein Fokus auf seine rätselhafte Figur nicht von einer Analyse der systemischen politischen Dynamiken in Russland ablenken sollte. Dem sorgfältig erdachten Ablenkungsmanöver eines russischen Neo-Zarismus Glauben zu schenken wird voraussichtlich nicht zu einer umsichtigen, gut informierten Außenpolitik gegenüber der russischen Aggression führen.

Dieser Text steht in einer englischen Version auf Eutopia Magazine.


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