Die Erosion nationalstaatlicher Souveränität ist in kaum einem Politikfeld derart ersichtlich wie in der Internet Governance. Die (zwischen-)staatliche und transnationale Regulierung des Internets ist eine schwierige Aufgabe, da die stetig an Volumen zunehmenden Informations- und Kommunikationsflüsse im „Netz der Netze“ geographische, politische, juristische und kulturelle Grenzen überschreiten. Wie kann der Nationalstaat seine Kernaufgaben in einem dezentralisiert organisierten Netzwerk erfüllen? Haben territorial gebundene Strukturen überhaupt eine legitime Daseinsberechtigung im Cyberspace oder sollte das Netz möglichst frei von nationalstaatlichen Einflüssen sein, so wie es frühe Internetutopisten forderten? Dem Spannungsverhältnis zwischen traditionellen Souveränitätskonzepten und den Herausforderungen der Internet Governance widmete sich der interdisziplinäre Workshop On Sovereignty, National Security, and Internet Governance, der am 11./12. Dezember 2014 auf Einladung von Milton Mueller in New York City stattfand.
Als theoretisches Leitmotiv wählten die Veranstalter das vom amerikanischen Verfassungsrechtler Philip Bobbitt erdachte Konzept des Market State (The Shield of Achilles). Bobbitt selbst hielt aus rechtswissenschaftlich-historischer Perspektive das erste Impulsreferat über das Souveränitätskonzept. In seinem kurzen Vortrag distanzierte er sich von einflussreichen Entwürfen der weltpolitischen Entwicklung, wie Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“, liberalen Globalisierungstheorien oder Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Als zentrale Schwäche dieser Theorien führte Bobbitt an, dass sie allesamt auf einem veralteten Konzept des Staates basierten. Die industriellen Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts hätten ihren Herrschaftsanspruch über wohlfahrtstaatliche Leistungen legitimiert. Dieses Arrangement werde jedoch durch Globalisierungsprozesse in Ökonomie, Kultur und Technologie, durch transnationale Gefahren wie Klimawandel, Krankheitsepidemien oder Terrorismus und schließlich durch die zunehmende Delegitimierung der Demokratie durch supranationale Mehrebenensysteme infrage gestellt. Der Staat reagiert, so Bobbitt, auf diese Herausforderungen, wie er es schon immer getan hat: Er erfindet sich neu. Hier kommt das Konzept des Market State zum Tragen. Marktstaaten legitimieren sich dadurch, dass sie den Bürgern und der Privatwirtschaft physischen Schutz sowie Opportunitätsstrukturen zur privaten und ökonomischen Selbstverwirklichung bieten. Die neuen schlanken Staatsordnungen sind pluralistisch, multikulturell und in diesem Sinne indifferent gegenüber der Rasse und Herkunft von Bürgern sowie deren individuellen Einstellungen. In der Praxis äußert sich der Rückzug des Staates in einer zunehmenden Delegation von Staatsaufgaben unter Rückgriff auf Marktmechanismen. Vorbild und Prototyp des Marktstaats nach Bobbitt‘scher Prägung sind die USA. Als innovative Erscheinungsform desselben Typs wurde zudem auch die EU genannt, ohne aber die erheblichen kategorialen Differenzen zwischen diesen politischen Systemen gründlich auszuleuchten.
Wie begegnen die heutigen (Markt-)Staaten der Herausforderung, die der transnationale Charakter des Internets für ihre Souveränität darstellt? Jack Goldsmith beschrieb in seinem Referat, wie die Internet Governance in den frühen 1990er Jahren ausschließlich in privatwirtschaftlicher Hand lag. Die damals vorherrschende Zielsetzung, Staaten von der Regulierung des Internets fernzuhalten, bezeichnete Goldsmith als naiv. Mit der fortschreitenden globalen Vernetzung sei das Internet attraktiv für missbräuchliche Aktivitäten von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren geworden, sei es in Form von Überwachung, Spionage, Cyberangriffen oder -kriminalität. Um seine Kernkompetenzen im Bereich Sicherheit ausfüllen zu können, erweitere der Staat seinen Souveränitätsanspruch ins Netz.
Die Massenüberwachung durch staatliche Geheimdienste wurde im Rahmen des Workshops kontrovers diskutiert. In seinem Werk Terror and Consent von 2008 stellt Bobbitt den transnationalen Terrorismus als größte Gefahr für den Marktstaat dar. Der War on Terror legitimiere den Staat zur massenhaften Sammlung und langfristigen Speicherung von Metadaten. Solange diese strikt computergestützt und somit politisch neutral ausgewertet sowie erst bei konkretem Verdacht an menschliche Überwacher ausgegeben würden, sei diese Praxis nicht problematisch und ethisch jedenfalls weit weniger bedenklich als die Inaktivität und Inkaufnahme terroristischer Attacken. Gegen diese Bewertung brachten u.a. Helen Nissenbaum, David Post und Peter Swire zentrale Einwände vor: So würde eine derartige Überwachungsinfrastruktur zum Missbrauch durch Bürokratien und Strafverfolgungsbehörden einladen. Auch könne die Datensicherheit keineswegs garantiert werden, so dass nicht-autorisierte Akteure die Informationen missbräuchlich nutzen könnten. Zudem sei eine demokratische Kontrolle des komplexen Systems praktisch nicht umsetzbar.
In der Frage, wie das Zusammenspiel von Marktstaaten (oder auch transnationally networked states, als analoges Konzept vorgestellt von Louis Pauly) in der internationalen Arena aussehen müsse, hinterließ der Workshop eine große Leerstelle. Wird der Marktstaat im Bobbitt‘schen Sinne als vorerst letzte Stufe eines weltgeschichtlichen Entwicklungsmodells verstanden, dann müssten sich alle Staaten darauf zu bewegen. Damit stellt sich die essenzielle, allerdings noch weitgehend unbehandelte Frage, wie das Nebeneinander von Marktstaaten verstanden und organisiert werden kann. Führen neue „post-territoriale“ Souveränitätsparadigmen nicht zwangsläufig zu einem erhöhten Konfliktaufkommen in den zwischenstaatlichen Beziehungen – wenn auch auf einem niedrigeren Intensitätsniveau? Diese Probleme und Risiken wurden während des Workshops allenfalls im Hinblick auf die internationale Internet Governance kritisch diskutiert. So machten Peter Swire und Tim Maurer etwa auf konfliktträchtige Fragmentierungstendenzen des Netzes (sog. Balkanisierung) aufmerksam. Aus amerikanischer Perspektive seien auch die Bemühungen der EU zur Regulierung oder sogar Zerschlagung amerikanischer Internetkonzerne ein Ausdruck dieses Zeitgeistes. Nach Snowden dürfte die Online-Welt laut Goldsmith von zwei konträr verlaufenden Trends geprägt sein: einem Trend zur Verschlüsselung der Online-Kommunikation vonseiten der Anbieter und Nutzer sowie einer zunehmenden technischen und juristischen Territorialisierung des Internets.
Bobbitts Marktstaat wurde während des Workshops gleichsam als Weltformel und universeller Erklärungsansatz arg strapaziert. Bobbitt, dem als Erfinder des Leitmotivs eine herausgehobene Sprecherposition zukam, antwortete auf Anmerkungen und Kritik vielfach in Gleichnissen oder stimmungsvollen Anekdoten. Dies stellte zwar einen beeindruckend breiten Schatz humanistischer Bildung unter Beweis, bedeutete aber gelegentlich den Verzicht auf ein konkretes theoretisches Argument oder empirische Evidenz. Das war anregend und faszinierend, der in den heutigen Sozialwissenschaften sozialisierte Gesprächspartner blieb teilweise jedoch ratlos zurück. Die zentrale Stellung von Bobbitts Werk und seiner Person für den Workshop waren somit Chance und Hindernis zugleich. Auf der einen Seite half diese Ausrichtung dabei, den Diskussionen eine gemeinsame Orientierung zu geben, diese wies auf der anderen Seite überwiegend in Richtung allgemeiner theoretischer Reflexionen über Staat, (Post-)Territorialität und weltgeschichtliche Trends. Der zweite thematische Schwerpunkt Internet Governance geriet demgegenüber immer wieder in den Hintergrund. Dass aber überhaupt so ausgiebig diskutiert werden konnte, ist als großes Plus dieser Tagung zu werten. Der Freiraum dafür wurde durch eine überschaubare Teilnehmerzahl und eine Beschränkung auf wenige Impulsvorträge geschaffen.
Wolf J. Schünemann ist promovierter Politikwissenschaftler und Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Er ist Mitglied und Sprecher der dortigen Arbeitsgruppe Netzpolitik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Internationalen Beziehungen, der Europäischen Integration, der internationalen Internet Governance sowie der Diskursforschung.
Sebastian Stier ist Doktorand im Promotionskolleg ,,Politikperformanz autokratischer und demokratischer Regime“ und Mitglied der Arbeitsgruppe Netzpolitik am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit politischer Online-Kommunikation, Netzpolitik und vergleichender Politikwissenschaft.
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