theorieblog.de | Tagungsbericht: E pluribus unum? Modelle des Föderalen

17. Dezember 2014, Krause

Der Versuch, sich über die Rolle des Föderalismus in der aktuellen Entwicklung und Beschreibung staatlich verfasster politischer Räume Klarheit zu verschaffen, ergibt kein konsistentes Bild. Die Europäische Union als suprastaatlich verfasstes wirtschaftspolitisches Gebilde hat die Bundesstaatlichkeit als Fernziel ihrer Entwicklung ausdrücklich dementiert. Dennoch wurde sie von deutscher Seite seit ihren Anfängen in den föderalen Kategorien von Staatenbund und Bundesstaat beschrieben. Während einerseits ein europäischer Bundesstaat als zu erreichendes Ziel galt, wollte man andererseits die europäische Einigung auf einen Staatenbund begrenzt wissen. Inzwischen bezieht sich die Forschung auf diese Dichotomie zumeist in Abgrenzung. Gerade weil die Europäische Union weder das eine noch das andere sei, lasse sie sich als etwas Neues, als ein Gebilde sui generis verstehen. Andere verweisen auf die Kontingenz föderaler Systeme, indem sie die föderale Praxis in den Mittelpunkt stellen. Anstatt einen reinen, objektiven oder gar transhistorischen Föderalismus zu beschreiben, dessen reale Föderalismusformen nur mehr oder weniger gut gelungene Abbilder eines Ideals seien können, konzentrieren sie sich auf die innere Dynamik und Kompromisshaftigkeit föderale Gebilde. Historische Föderalismusformen dienen dabei der geschichtlichen Vergegenwärtigung unterschiedlicher Strukturen und historischer Konstellationen, die politisch freie Handlungsräume mit rechtlichen Absicherungen hervorgebracht haben. Föderalismus, so könnte man den Grundtenor der interdisziplinären Tagung E pluribus unum. Modelle und Präzedenzen des Föderalen, die am 10. und 11. Dezember an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereiches Transformationen der Antike stattfand, zusammenfassen, ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der konkreten Auslegung bedarf.

Bereits in der Begrüßung machte Eva Marlene Hausteiner (Berlin) deutlich, wie umstritten der Begriff des Föderalen ist.  Es sei eine transdisziplinäre Aufgabe, sich den Legitimationsdiskursen und historischen sowie aktuellen Erscheinungsformen föderaler Strukturen zu nähern. Bereits im antiken Griechenland fänden sich Bündnisse, die auf Gegenseitigkeit beruhten, auch wenn sie durch die Hegemonie mancher Städte überschattet wurden. Nicht immer stand als Hauptzweck der Föderation die Absicherung der eigenen Autonomie und Freiheit an oberster Stelle, oftmals waren es akute Machtansprüche und Kriegsgefahren. Gibt eseinen Kern des Föderalen? Und was bedeutet „Föderalismus“ in den historischen Staatsbildungsprozessen in Europa? Föderalismus, das machte Hausteiner in ihren Eingangsbemerkungen deutlich,  ist ein außerordentlich vielgestaltiger Begriff.

Einer ersten Begriffsklärung stellte sich Stefan Oeter (Hamburg) in seinem Eröffnungsvortrag zu „Föderation“ oder „Bund“ als Oberbegriff. In diesem lehnte erdie Dichotomie zwischen Staatenbund und Bundesstaat als Charakterisierung föderaler Systeme ab, wie sie durch die deutsche Staatslehre des 19. Jahrhunderts formuliert wurde. Die Beschreibung selbst war, wie Oeter verdeutlichte, an der Entwicklung des Deutschen Reiches ausgerichtet, welche die Stärkung des Zentralstaates zum Ziel hatte. Alle noch vorhandenen föderalen Züge wurden als Zuweisung von der bundesstaatlichen Ebene und diese somit als übergeordnet verstanden. Die vertraglichen Grundlagen wurden dabei übergangen und die in den Anfangsjahren des Bismarckschen Reiches bestehenden föderativen Spannungslagen bewusst ausgeblendet. Außerdem wurde eine teleologische Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat suggeriert. Beides, so Oeter, werde jedoch den politisches Zielen und Entwicklungstendenzen in der EU nicht gerecht.

Juri Auderset (Fribourg) machte in seinem Beitrag Die Hydra des Föderalismus. Zur Föderalismussemantik in Frankreich im Zeitalter der Revolution deutlich, wie umstritten die Idee der Föderation in Frankreich in den Revolutionsjahren 1791-1793 war. Nirgendwo in Europa verschmolzen Staat und Nation zu einer identischen Einheit und zerschlug der eiserne Wille der Jakobiner im Namen von Einheit und Einheitlichkeit der Nation jegliche Partikularismen. Nirgendwo sonst traten aber auch die Schattenseiten des Zentralismus so stark zu Tage. Dabei gab es von Beginn an Ansätze zu einer stärkeren Dezentralisierung des Landes. Anhand der Auseinandersetzungen zwischen Jakobinern und Girondisten, die sich nicht zuletzt an der Frage nach der künftigen staatlichen Organisation orientierten, zeigte Auderset ernsthafte Bestrebungen zu einer Dezentralisierung auf, die freilich aufgrund der Weiterführung einer bestimmten Staatstradition, der Gleichsetzung des Föderalen mit feudalen Strukturen als auch durch äußere Bedrohung und eine innere Wirtschaftskrise  aufgegeben wurden.

Anschließend zeigte Elisabeth Hass (Fribourg) in ihrem Vortrag Die Ikonographie des bundesstaatlichen Föderalismus in der Schweiz anhand der Figur der Helvetia die  Versinnbildlichung  des schweizerischen Bundesstaates auf. Vor allem mit dem wachsenden Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert und der Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848 gewann das Bedürfnis nach einem Symbol für die politische Einheit an Bedeutung. Helvetia erschien auf Münzen, Briefmarken, Postkarten und in politischen und patriotischen Darstellungen. Hass verdeutlichte aber auch, dass es gleichzeitig immer Darstellungen des Bundes gab. Ob als Darstellung des Rütlischwurs oder in Form des Wappen- bzw. Sternenkranzes der Kantone, die Ikonographie des Bundes floss in die Darstellung des Bundesstaates  stets mit ein. Je nach politischer Überzeugung des Lesers konnte eine eher bundesstaatliche oder eine eher bündische Interpretation überwiegen. Gleichwohl vereinigen sie beides: sie symbolisieren die bündische Vielfalt in der bundesstaatlichen Einheit.

Über den ersten Weltkrieg als „Reichseinigungskrieg“ dachte Herfried Münkler (Berlin) nach. Der Beitrag bezog sich auf die Überlegung, warum das deutsche Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg und einer Verfassung, die als Fürstenvertrag zustande kam, nicht wieder in die Vorläuferform des Bundes zerfiel. So sah die politische und militärische Organisation des Deutschen Reichs vor, dass es kein deutsches Heer, sondern ein preußisches, ein sächsisches, ein bayerisches und ein württembergisches Heer gab. Das entsprach den vier Königreichen, die im Deutschen Reich zusammengeschlossen waren. Die Großherzogtümer, die es ebenfalls gab, hatten ihre Truppen dem Oberkommando der Königreiche zu unterstellen. Das schuf Konkurrenzen, die sich auch auf die Militärorganisation auswirkten. Da militärische Erfolge als politische Reputation der Könige verbucht werden konnte, kam es zu Rivalitäten in der Planung und Ausführung der Offensive. Die föderale Struktur förderte in Folge dessen ein uneinheitliches strategisches Handeln. Schließlich wurden Großherzöge und Könige von der Bevölkerung für die Verluste und Opfer des Krieges verantwortlich gemacht. Anders sah es bei den Soldaten und bei der Bevölkerung aus. Diese waren für Deutschland in den Krieg gezogen.  Die Nationalstaatswerdung in Deutschland, so Münkler, beruhte demnach auf einem Paradox. Sie vollzog sich nicht nur über Reichseinigungskriege des 19. Jahrhunderts, sondern auch und nicht zuletzt durch die Niederlage der Deutschen im Ersten Weltkrieg.

Das Begriffspaar Bundesstaat und Staatenbund nahm Dirk Jörke in seinem Beitrag über die Föderalen Elemente bei den Anti-Föderalenwieder auf.  Die Verfassung der USA von 1787 setzte eine Bundesstaatsgewalt ein, die den Staaten, den ehemaligen englischen Kolonien, Kompetenzen entzog. Dagegen gab es heftigen Widerstand, wie die Auseinandersetzungen zwischen Federalist und Anti-Federalist belegen. Aus den Kontroversen ging kein eindeutiger politischer Sieger hervor. Die USA blieben, trotz der angestrebten Zentralisierung, eine Union, die den Mitgliedstaaten weitreichende Kompetenzen einräumte. Deren Teilsouveränität wurde dadurch gewahrt, dass sie separate Rechtsräume darstellten und getrennte politische Systeme unterhielten. Die Behauptung, die USA seien vor dem Bürgerkrieg ein Bundesstaat klassischer Prägung gewesen, wurde von Jörke als nachträgliche Rechtfertigung zurückgewiesen.Peter Niesen hat sich in seinem Beitrag Über den Pouvoir constituant mixtemit den historischen und theoretischen Ursprüngen des Konzepts der Verfassunggebenden Gewalt auseinandergesetzt. Niesen verwies darauf, dass heute, wenn von einer Konstitutionalisierung jenseits des Staates wie in der EU, der UN oder der WTO die Rede sei, nur in seltenen Ausnahmefällen gefragt werde, wo denn die verfassunggebende Gewalt in solchen Prozessen der Verfassungsgebung und Verfassungstransformation liege. Im Gegensatz zu früheren Konzeptionen verfassungsgebender Gewalt eigne sich hier die Idee eines „pouvoir constituant mixte“. Damit griff Niesen einen Vorschlag Habermas auf, der mehrfach darauf verwiesen hat, dass die konstituierende Macht in der EU zwischen der Gemeinschaft der EU-Bürger und den Mitgliedstaaten geteilt sei. In der Diskussion, die Christoph Möllers mit seinem Kommentar eröffnete, wurde deutlich, dass der Begriff des Verfassungsvertrags von Lissabon selbst umstritten sei. Die Debatten beruhten auf der Prämisse, dass Verfassung und Vertrag Gegenbegriffe seien. Der Vertrag sei rechtsanwendend und erzeuge lediglich ein Rechtsverhältnis. Er gehöre zum Völkerecht. Soll er Staaten verbinden, entstehe ein Staatenbund in dem die Gliedstaaten souverän blieben. Die Verfassung dagegen bestehe in einem auf etwas Drittes gerichteten Gemeinwillen. Sie ist rechtserzeugend und schafft ein Rechtssubjekt.  Die Europäische Union, die durch Staatsverträge konstituiert worden sei, habe jedoch nicht nur den verfassungsrechtlichen Status der Staaten geändert, sie bewirke auch einen Wandel des Status der Bürger. Seit Maastricht seien sie Unionsbürger, insofern sie die Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes genießen. Beides müsse berücksichtig werden.In seinem Beitrag Föderalismustheorie: Ihre Aufgaben in der Gegenwartfasste Christoph Schönberger die Debatte aus staatsrechtlicher Sicht noch einmal zusammen. Danach sei die staatsanaloge Terminologie, mit der das Gebilde Europäische Union adäquat beschrieben werden solle, unzureichend. Die Begrifflichkeit, die vom Staatsrecht geprägt sei, fange den vollzogenen Bedeutungswandel in keiner Weise ein. Die um den Staat kreisende Begrifflichkeit und Dichotomie von Staatenbund und Bundesstaat erweise sich insofern als wenig hilfreich, ebenso wie der Versuch, das Neue als Mittelding mit dem Begriff Staatenverbund zu erfassen. Wichtig seien dagegen neue verfassungsrechtliche Kategorien und verfassungshistorische Vergleiche, die zeigen, dass in einem föderalen Gebilde nicht alles geregelt ist und politische Prozesse der Aushandlung zentraler sind als die Strukturen.Dem schloss sich auch Thomas Hueglin (Waterloo) an, der in seinem Vortrag Vertragsföderalismus in der Europäischen Union  die EU als transnationalen Sonderfall des Föderalismus bezeichnete. Der Vertragsföderalismus sei eine Form des Föderalismus, bei dem der Grad der Zusammenarbeit von den Ressourcen und der Handlungs- und Strategiefähigkeit der jeweiligen Gebietskörperschaften abhänge. Wesentlich sei die Dynamik der Föderation, deren wichtigstes Merkmal die Gleichheit der Mitglieder sei. Dies wurde auch in den Debatten immer wieder hervorgehoben. Wesen des Föderalismus sei seine dynamische Entwicklung, die sich nicht durch staatsrechtliche Kategorien erschöpfend erschließen lasse. Darüber hinaus hoben die Kommentatoren der Tagung, Eva Marlene Hausteiner, Julia von Bluhmenthal, Christoph Möllers und Siegfried Weichlein hervor, dass historische Vorbilder föderalstaatlicher Entwicklungen zwar keine direkten Lösungen für den gegenwärtigen Handlungsbedarf der europäischen Politik aufzeigen können, gleichwohl aber der Blick in die Geschichte die Möglichkeit biete, unterschiedliche Entwicklungspfade zu benennen und zu bewerten.Skadi Krause ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Theorie und Praxis der Demokratie. Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Konzeption einer ‚Neuen Wissenschaft der Politik‘ “ an der Universität Halle-Wittenberg.

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