Antagonistischer Agonismus – Anmerkungen zu Chantal Mouffe’s Buch „Agonistik“

Die Idee des Agonismus wurde von Chantal Mouffe in diversen Büchern und Aufsätzen formuliert, blieb jedoch eher ein vages Konzept. Das vorliegende Buch „Agonistik. Die Welt politisch denken“ (2014) enthält eine Sammlung von Aufsätzen, die das Konzept des Agonismus aus verschiedenen Perspektiven (Internationale Politik, Europa, radikale Politik, künstlerische Praktiken) beleuchten und damit die Idee des Agonismus konkretisieren sollen. Die folgende Lesenotiz soll einen kurzen Überblick über Mouffes Idee eines antagonistischen Agonismus geben und offene Punkte herausarbeiten.

Schon in der einführenden Skizze des agonistischen Ansatzes wird deutlich, dass die agonistische Idee mehr noch als in vielen früheren Publikationen mit dem hegemonietheoretischen Modell verknüpft wird. In diesem Lichte operiert der agonistische Ansatz explizit vor dem Hintergrund einer hegemonietheoretischen Ontologie, die Gesellschaft als unendliches Ringen antagonistisch-hegemonialer Formationen versteht (11). Soziale Ordnungen sind die Konsequenz antagonistisch angelegter hegemonialer Projekte, die existentielle Widersprüche in der Form von Wir-Sie-Konstruktionen artikulieren. Der „agonistische Pluralismus“ (12) umschreibt wiederum eine Form demokratischer Politik, die ebenjene antagonistische Dimension des Sozialen partiell in eine Form agonistischen, nicht-existentiellen Wettstreits überführt, ohne den antagonistischen Charakter der Gesellschaft zu negieren. Radikale Demokratie überwindet damit nicht den hegemonial-antagonistischen Charakter der Gesellschaft, sondern etabliert eine eigene hegemoniale Ordnung „demokratischerer, egalitärerer Institutionen“ (14). Diese lasse sich als radikalisierte Variante der existierenden liberalen demokratischen Institutionen verstehen. Kurzum: die im Agonismus Mouffes beschriebene Form demokratischer Politik (re-)aktiviert das in der Hegemonietheorie betonte antagonistische Wesen des Politischen. Der hegemoniale Charakter der Gesellschaft und die Möglichkeit alternativer Ordnungen müssen in politischen Konflikten deutlich greifbar werden. Genau dieses Kriterium demokratischer Politik führt dazu, dass Mouffes Interpretation des agonistischen Pluralismus besonders die antagonistische Dimension betont. Sie skizziert und fordert demnach einen antagonistischen Agonismus.

In dieser antagonistischen Interpretation des Agonismus verbirgt sich jedoch ein Spannungsverhältnis. Aus antagonistischen Feinden werden nur dann agonistische Gegner, wenn eine bestimmte basale Ordnung von allen Beteiligten akzeptiert wird. Eine spezifische hegemoniale Formation muss demnach allgemein auf Zustimmung treffen, um den agonalen Pluralismus zu ermöglichen. Nach Mouffe sind dies beispielsweise grundlegende deutungsoffene demokratische Prinzipien, die von den Beteiligten unterschiedlich interpretiert, aber gemeinsam akzeptiert werden.

Diese geteilte Akzeptanz verhindert jedoch nicht das grundsätzliche Streben nach Dominanz, Unumstrittenheit und scheinbarer Natürlichkeit bzw. Notwendigkeit durch etabliert hegemoniale Formationen – ein wesentliches Argument der Hegemonietheorie. Am Beispiel der Freiheit wird das Problem deutlich. Die allgemeine Zustimmung zum Begriff der Freiheit ermöglicht eine gemeinsame Basis für demokratische Auseinandersetzungen im Sinne des Agonismus – gleichzeitig kann jedoch nicht verhindert werden, dass eine bestimmte Interpretation von Freiheit dominant wird und als natürlich gilt. Eine derartige Dominanz einer speziellen Interpretation eines grundsätzlich deutungsoffenen Prinzips kann in bestimmten diskursiven Konstellationen bewirken, dass andere Interpretationen und damit andere Ideen sozialer Ordnung entweder als illegitim gelten oder schlichtweg undenk- und unsagbar werden.

Daher muss gerade ein Pluralismus mit starker Betonung des antagonistischen Prinzips, wie Mouffe ihn formuliert, die Frage beantworten, wie angesichts dieser Allgegenwart des diskursiven Strebens nach Dominanz das antagonistische Moment und damit die Möglichkeit einer grundsätzlich anderen sozialen Ordnung präsent gehalten werden kann. Dies wäre das Kriterium des von Chantal Mouffe stark gemachten antagonistischen Agonismus und insofern ist von Interesse, welchen Weg Mouffe in ihren Aufsätzen skizziert, um genau diese Form auch empirisch aufzuspüren.

Mouffe verweist auf liberale demokratische Institutionen, die sie zwar einerseits aufgrund der Negation des Politischen kritisiert (24f), gleichzeitig aber trotzdem als Ermöglichung des Agonismus anführt (29). Der Übergang zwischen einem befriedeten („Pluralismus ohne Antagonismus“ (48)) und einem antagonistischen Pluralismus ist demnach fließend und greift auf ähnliche Institutionen zurück. Den Unterschied kann nach Mouffe eine Praxis radikaler Politik machen, die sich mit den liberalen Institutionen auseinander setzt, um eine andere Hegemonie zu konstruieren (115). Diese „gegenhegemoniale Offensive“ würde sich nicht nur mit der Disartikulation der bestehenden Ordnung begnügen, sondern ginge den entscheidenden Schritt hin zu einer Reartikulation und damit der konkreten Formulierung einer Idee einer alternativen Ordnung (117f) einher, die durchaus auf staatliche Institutionen zielt bzw. diese zu nutzen bereit ist (175f). Diese idealtypische Bewegung entspricht aber nach Mouffes Verständnis nur bedingt den aktuell beobachtbaren Protestbewegungen (161ff), da letztere beispielsweise durch das Problem einer generellen Staatsferne und den Verzicht auf die explizite Reartikulation einer alternativen sozialen Ordnung charakterisiert seien. Daher bleibt vorerst offen, wie genau insbesondere die antagonistische Dimension des von ihr geforderten Pluralismus etabliert und gesichert werden soll.

Ein möglicher Weg wären detaillierte empirische Analysen jener diskursiven Elemente und Phänomene, die den hegemonialen Charakter einer Gesellschaft deutlich machen oder kritischen Projekten Ansatzpunkte für ihre antagonistische Praxis bieten. Einiges spricht dafür, dass Mouffes Idee eines antagonistischen Agonismus in vielen Aspekten der empirischen Gestalt von Demokratie wieder gefunden werden kann. Jedoch benötigt dies detaillierte Analysen und Rekonstruktionen des demokratischen Diskurses, wie sie beispielsweise bei Pierre Rosanvallon gefunden werden können.

Abschließend kann demnach fest gehalten werden, dass Chantal Mouffe mit dem vorliegenden Buch die antagonistische Dimension ihres Verständnisses von Agonismus expliziert, sie damit ihr theoretisches Modell konkretisiert und es deutlicher als bisher mit dem hegemonietheoretischen Ansatz verknüpft. Darüber hinaus positioniert Sie ihre Idee des agonistischen Pluralismus im aktuellen Diskurs linker Theoriebildung und aktuell beobachtbarer Protestbewegungen. All diese Punkte machen das Buch ohne Frage sehr lesenswert, wenngleich an einigen Stellen Fragen offen bleiben und daher eine systematische, detaillierte Darstellung des Konzepts eines antagonistischen Agonismus – wie sie im Buchtitel angedeutet wird – weiterhin äußerst wünschenswert wäre.

4 Kommentare zu “Antagonistischer Agonismus – Anmerkungen zu Chantal Mouffe’s Buch „Agonistik“

  1. Lieber Rezensent,
    vielen Dank für die Lesenotiz zu Mouffe.
    Ich möchte anknüpfen, an deine Bemerkung, dass es bei Mouffe offen bleibt, wie der pluralistische Antagonismus sich etabliert.
    Ich habe mich bei Mouffe schon immer gefragt, ob die „gegenhegemoniale Offensive“, die den Gegensatz zur bestehenden Politik darstellen soll, nicht zu einer existentiellen Verunsicherung bei der Bevölkerung führt. Natürlich helfen sie einer Bürgerin besser ihr Identität zu positionieren. Aber wenn ständig zwei Parteien, die in ihrem Wahlprogramm antagonistische Ordnungen fordern, sich mit der Macht abwechseln, bedeutet das, dass ständig auch die Eckpfeiler der gegenwärtigen politischen Ordnung geändert werden. Mal leben wir vier Jahre in einem sozialistischen System, dann wieder in einem kapitalistischen System. Ist das nicht existentiell verunsichernd, wenn die Lebensgrundlagen sich ständig ändern?

    Und weiter: wenn keine Partei nach Mouffe eine genügend eine radikale alternative Ordnung vertritt, liegt das dann nicht an der Bevölkerung, die Ruhe und Stabilität möchte? Wer liegt dann falsch, sie oder die Bevölkerung, die solche Parteien nicht wählt?

    Mit freundlichem Gruß
    Valerie Lux
    (theorieleben.wordpress.com)

  2. Vielen Dank für diese hilfreiche Lesenotiz,

    sie erweckt – völlig zu Recht – den Eindruck, dass der Titel des Buches mehr verspricht als es hält.

    Ich teile den Eindruck, dass im besprochenen Buch der Begriff des Agonismus von seiner antagonistischen Seite beleuchtet wird. Aber verkauft Mouffe hier nicht alten Wein in neuen Schläuchen? Die analytische und politische Bedeutung von „Antagonismus“ für die politische Theorie im Allgemeinen und die Demokratietheorie im Speziellen hat Mouffe bereits 1993 („The Return of the Political“) und seit dem immer wieder (z.B. „The Political Paradox“) expliziert. Dabei war der Bezug zur Hegemonietheorie von ihr und Laclau zwar nicht immer systematisch ausgearbeitet, aber dennoch nachvollziehbar: Als Negation einer jeden politischen Ordnung verweist der Antagonismus auf den hegemonialen Charakter dieser Ordnung. „Antagonismus“ als ontologische Kategorie öffnet also die politische Theorie für das Problem der Kontingenz und damit praktisch für die Möglichkeit der Veränderung durch Politisierung. Im Sinne einer Analyse des Politischen im Rahmen der Hegemonietheorie ist daher klar, dass auch Mouffes „agonistic pluralism“ diesem analytischen Anspruch gerecht werden muss, also die antagonistische Seite betont werden muss. Dies wird in der Lesenotiz deutlich.

    Was aber bei Mouffe nach wie vor unterbelichtet bleibt, ist die Ausarbeitung der genauen Differenz zwischen „Antagonismus“ und „Agonismus“. Ich halte es für offensichtlich, dass die Differenz eine ethisch-normative ist. Laut Mouffe zeichnet sich der agonistische Pluralismus dadurch aus, dass er von einem common sense ethisch-politischer Werte liberaler Demokratien („liberty and equality“) getragen wird, der als Zustimmung zu einer gemeinsamen politischen Lebensform („common forms of life“) zu verstehen ist. Die Kategorie des Gegners liegt also zwischen der des existenziellen Feindes und der des konsensorientierten Diskursteilnehmers. Die theoretisch interessante Figur des Gegners vereint daher ethische und ontologische Elemente: Ein Gegner darf legitimerweise abweichende Meinungen vertreten und antizipiert damit schon die prinzipielle Möglichkeit des politischen Anders-Seins. Doch diese Möglichkeit soll ihre Grenzen in den erwähnten ethisch-politischen Werten finden, dies zeigt sich noch am deutlichsten in „On the Political“.

    Mouffes agonaler Pluralismus ist also ein beschränkter Pluralismus. Seine Schranken ergeben sich nicht aus der Analyse des antagonistischen Charakters des Politischen selbst, sondern aus einer Ethik etablierter, demokratischer Praxen. (Deshalb vermute ich, dass Mouffes linke Utopie einer „Möglichkeit einer grundsätzlich anderen sozialen Ordnung“ [I.H.] nicht etwas gänzlich Neues und Unerwartetes verspricht, sondern vielmehr die institutionelle Hegemonie bereits teilweise anerkannter, emanzipatorischer Bewegungen erhofft.) Daher wäre es wünschenswert, wenn Mouffe den agonalen Charakter des demokratischen Antagonismus weiter explizieren und die ethische Differenz zwischen Agonalität und Antagonismus eindeutiger kennzeichnen würde als bisher. Vielleicht wird dann auch klarer, ob Mouffe tatsächlich eine ethische Fundierung der Demokratie im Sinn hat, wie Dirk Jörke meint („Die Agonalität des Demokratischen“, 2004).

  3. Noch eine kurze Anmerkung zur empirischen Anschlussfähigkeit von Mouffes Theorie:

    Besonders überprüfbar halte ich ihre These, dass eine „Politik der Mitte“, die jenseits der Rechts-Links-Alternative eine alternativlose und sachlogische Politik jenseits politischer Antagonismen vertritt, rechtspopulistische Parteien und Bewegungen hervorbringt und deren Erfolg bei Wahlen erklärt. Nicht etwa, weil sich ein Großteil dieser WählerInnen mit allen inhaltlichen Punkten der RechtspopulistInnen identifizieren würde, sondern, weil diese als vermeintlich einzige Alternative eine andere hegemoniale Ordnung antizipieren, selbst wenn sie die Demokratie in Frage stellen. (vgl. „UKIP, die Partei zum Fürchten“, Le Monde diplomatique, 11/14). Daher Mouffes Appell an linke Parteien, alternative demokratisch-egalitäre Gesellschaftsmodelle zu entwerfen, die als nicht-natürlich, sondern politisch und daher als machbar gekennzeichnet werden.

  4. Hallo! Ich wundere mich, wieso es offensichtlich irgendeinen pseudo-universalistischen Konsens darüber gibt, dass Agonismus oder/und Antagonismus unvermeidlich sei. Wenn ich bei Google „Antiagonismus“ eingebe, erscheint jedenfalls genau nichts. Bin ich also der einzige existierende Antiagonist? Besteht ein quasi-absolutes Tabu darin, einfach mal zu überlegen, ob es da, wo es nicht möglich ist, Nullsummenspiele in Win-Win-Spiele zu transformieren, Verteilungsgerechtigkeit zu etablieren? Warum, in aller Welt, sollte das mit Teilnehmer*innen, die denken und reden können, nicht möglich sein? Homo Sapiens hat es in der Geschichte doch schon geschafft: Jäger-und-Sammler*innen-Gemeinschaften waren/sind akephal und egalitär. In späteren Entwicklungen gab es jedoch Rückfälle in prähumane Muster, bis heute. Die Unvermeidlichkeit des Wettstreites ist also jedenfalls nicht nur logisch (Naturalistischer Fehlschluss), sondern auch geschichtlich widerlegt. Interessante Argumente liefert auch das Buch des Biologen Peter Kropotkin: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Und wieso Hegemonie? Diejenigen, die kämpfen möchten, können das ja weiter untereinander tun, aber sollen die, denen das zu blöd ist, nicht nerven.

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