In diesem, das Buchform zu Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert beschließenden Beitrag möchte ich den Blick auf die Frage richten, warum gerade dieses Buch so viel Aufmerksamkeit unter politischen Theoretikern und der breiten Öffentlichkeit erzielt hat, und damit weggehen von der Diskussion spezifischer Aspekte von Pikettys Argument wie der Implikation seiner Erkenntnisse für Theorien der Verteilungsgerechtigkeit. Ich hoffe, dass dies nur teilweise einer Nabelschau gleich kommt. Kurz gesagt habe ich die Vermutung, dass einer der Gründe für die berechtigte Faszination von politischen Theoretikern für das Werk Pikettys darin liegt, dass es – wenn auch streckenweise widerwillig – aufzeigt, dass sich die Sozialwissenschaften an einem Scheideweg befinden.
Es gibt natürlich zwei sehr naheliegende Gründe für die hohe Aufmerksamkeit für Pikettys Buch: Zum einen liegt es ganz einfach daran, dass seine Behauptungen umfassende und beispiellose Aufmerksamkeit in öffentlichen Debatten im Allgemeinen, und in akademischen Debatten im Besonderen, erfahren haben. Als Teilnehmer an beiden Konversationen haben politische Theoretiker den allgemeinen Enthusiasmus geteilt. Zum anderen, dass das Buch Wasser auf die Mühlen der Gerechtigkeitstheoretiker zu sein scheint. Endlich argumentiert ein Wirtschaftswissenschaftler – mit Datenmaterial das bisher niemand hat widerlegen können – dass unverhältnismäßige Ungleichheit in kapitalistischen Ökonomien der Normalfall ist und Wohlstand eher Folge von Vererbung als von Verdienst oder Anstrengung. Egalitaristen müssten nicht mehr fürchten, sich mit Forderungen nach weitreichender Umverteilung lächerlich zu machen – nun, da ein anerkannter Mainstream-Ökonom das gleiche fordert.
Ich denke jedoch, dass es einen weiteren (weniger expliziten) Grund gibt, warum politische Theoretiker Pikettys Bestreben so faszinierend finden. Pikettys Buch führt Ansatz und Stil der etablierten Sozialwissenschaften an ihre eigenen Grenzen, akzeptiert die Konsequenzen aber nur sehr ungern. Er setzt gewissermaßen dazu an, ein „grand narrative“ – in Form einer fundamentalen Kapitalismuskritik – zu erzählen, ohne es je wirklich zu tun. In diesem Sinne ist es vielleicht mehr als eine selbstironisches Anspielung, das Buch in Analogie zu dem Marx’schen Opus Magnum Kapital zu nennen. Während Piketty Daten äußerst vorsichtig einsetzt und mit großem Bedacht mit ihnen umgeht, ist er gleichzeitig zu weitreichenden Behauptungen über die Natur des Kapitalismus und seiner (In)Kompatibilität mit der Demokratie versucht – ohne der Versuchung jemals explizit nachzugeben. Das Buch argumentiert, dass der weitverbreitete Eindruck, Demokratien hätten es in den Nachkriegsjahrzehnten vermocht den Kapitalismus zu zähmen, eine Illusion sei. Piketty Behauptung, besonders in den Kapiteln 3 bis 6, ist, dass es allein die schiere Zerstörung von Wohlstand durch den 2.Weltkrieg war, die während der Bretton Woods Ära für eine Weile den Eindruck hat entstehen lassen, die Ungleichheit sei unter Kontrolle. Der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates und seiner regulatorischen Policies – kurz gesagt, die demokratische Kontrolle des Kapitalismus – spielen hingegen in seiner historischen Analyse dieser Jahren nur eine untergeordnete Rolle. Das erklärt denn auch seine Aussage, das Kapital sei, sobald die Auswirkungen des 2. Weltkriegs abgeebbt seien, allmählich wieder auf den Stand des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt: die innere Struktur des Kapitals (zum Beispiel bezüglich der Rolle von Landbesitz und Finanzkapital) damals und heute ist zwar sehr verschieden, das Verhältnis von Kapital und Einkommen bleibt jedoch über den Zeitverlauf hinweg, mit der einzigen Ausnahme der Trente Glorieuses, historisch überraschend konstant. Weite Teile des Buches scheinen nahezulegen, dass sich langfristig, ungeachtet externer Schocks, die „fundamentalen Gesetze des Kapitalismus“ Bahn brechen – und dass solche Gesetze zum Aufstieg einer patrimonialen und weitgehend unverantwortbaren Aristokratie führen.
Zusammengefasst, im Hintergrund scheint die Annahme zu schwelen, dass das Problem allein der Kapitalismus ist (und weder der deregulierte Kapitalismus, noch der globalisierte Kapitalismus, noch der Austeritätskapitalismus). Solche Behauptungen werden jedoch nie explizit ausgesprochen, obwohl es an allgemeinen Belehrungen nicht fehlt. Piketty argumentiert beispielsweise, dass “die Entwicklung hin zu ökonomischer und technologischer Rationalität […] nicht zwangsläufig eine Entwicklung hin zu meritokratischer und demokratischer Rationalität [bedeutet] (p.310); oder dass es “ein Bündel von divergenzfördernden Kräften [gibt], die sich aus der Akkumulation und Konzentration von Vermögen in einer Welt ergeben, die von einem schwachen Wachstum und einer hohen Kapitalrendite gekennzeichnet ist” (p. 42). Aber diese sind stets mit äußerster Vorsicht formuliert. Des Weiteren macht Piketty im letzten Teil des Buchs einen Lösungsvorschlag: eine hochprogressive, globale Vermögenssteuer. Anders gesagt, er scheint den Hut des Mainstream-Sozialwissenschaftlers wieder aufzusetzen: haben wir das Problem erst einmal identifiziert, müssen wir nur noch die „optimale Policy“ finden, die es löst. An diesem Punkt werden einige Leser (unter ihnen Thomas Polley und, in gewissem Maße, sogar Paul Krugman) wohl stutzig. Wenn der patrimoniale Kapitalismus zurück ist, dann doch bestimmt auch seine Fähigkeit auf politische Macht Einfluss zu nehmen? Und falls das der Fall ist, dann liegt das Problem mit Sicherheit nicht darin, eine gute Policy zu formulieren, sondern darüber nachzudenken wie hinreichende politische Gegenmacht erzeugt werden kann, um eine Politik der Umverteilung überhaupt erst wieder auf die Agenda zu bringen. Und das wiederum könnte bedeuten, ein hohes Maß an politischem Konflikt in Kauf zu nehmen.
In anderen Worten, es scheint eine Spannung zu geben zwischen dem radikalen kritischen Potential einiger Elemente der Piketty’schen Analyse und dem Vertrauen, das er gutgemeinter demokratische Politik entgegenbringt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Pikettys Optimismus recht substantiell von anderen hoch kritischen (und dunkleren) Reflexionen über den Zustand des Spätkapitalismus – wie Wolfgang Streecks Gekaufte Zeit (oder, in geringerem Maße, Peter Mairs Ruling the Void). Dies scheint mir der Kern der Faszination der Lektüre zu sein: der bei ihm so offenbar zutage tretende Zwiespalt zwischen den Methoden und dem Habitus der Sozialwissenschaften und der Anziehungskraft von radikaler und kontroverser Gesellschaftskritik, zu der ihn seine eigenen Erkenntnisse drängen. (Man könnte selbstverständlich einwenden, dass ich Piketty missverstanden habe und entweder zu viel oder zu wenig in ihn hineinlese. So sehen manche in ihm einen biederen Sozialdemokraten. Seine einzige Behauptung sei, dass die regulatorischen Policies des Nachkriegsbooms ohne die dramatischen Auswirkungen der Kriegszerstörung niemals ausgereicht hätten. Was wir daher heute benötigen sei eine radikale Umverteilungsagenda. Aber als ein guter Sozialdemokrat sei Piketty optimistisch, dass die Öffentlichkeiten für diesen Weg gewonnen werden können. Ich denke diese Interpretation übersieht einfach die Spannungen, auf die ich hinzuweisen versucht habe).
Die analytische politische Theorie scheint mir an einem ähnlichen Scheideweg zu stehen. Ungeachtet aller substantiellen und methodischen Unterschiede zu den Mainstream-Sozialwissenschaften, weist die normative politische Theorie zwei wichtige Ähnlichkeiten auf: einerseits ihre intellektuelle Bescheidenheit; andererseits, die Befürwortung eines fundamental liberalen politischen Paradigmas. Mit Bezug auf Ersteres zeigt die politische Theorie ein hohes Maß an Umsicht, die eigenen Behauptungen zu qualifizieren, die Grenzen deren Reichweite zu klären und sich nicht auf kontroverse und unbelegte empirische Annahmen zu stützen. Darin ist eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen mit dem Widerwillen der etablierten Sozialwissenschaften, über die mittlere Theorieebene hinauszugehen und in das unsichere Terrain der weitreichenden erklärenden Paradigmen vorzustoßen. Beide Arten der Bescheidenheit bringen einen gewissen Widerstand gegenüber „grand narratives“ hervor. Mit Bezug auf die zweite Ähnlichkeit, so ist die Grundorientierung der politischen Theorie nicht nur in ihren fundamentalen Grundüberzeugungen liberal, sondern auch in ihrem Vertrauen in ein konsensuelles Verständnis von Politik – als auf gegenseitiger Rechtfertigung und der Anerkennung eines vernünftigen Pluralismus basiert. Der Knackpunkt liegt darin, das richtige normative Rezept zu haben und es erfolgreich zu erklären – der Glaube, dass die politische Umsetzung dann schon irgendwie folgt, wird oft – wenn auch zugegebenermaßen nicht immer – als gegeben angenommen. Beide Elemente sind jüngst in Frage gestellt worden, am prominentesten (doch nicht ausschließlich) von den Vertretern des „politischen Realismus“. Diese sehen die Disziplin ihres kritischen Potentials beraubt. Es erscheint jedoch schwierig, sich vorzustellen, wie die analytische politische Theorie eine solche Aufgabe bewältigen kann, ohne ihre Identität aufzugeben.
Piketty kann also als Bruder im Geiste derjenigen politischen Philosophen gesehen werden, welche die methodische Stringenz des analytischen Ansatzes aufrecht erhalten wollen, gleichzeitig aber das Gefühl haben, die Welt bedürfe dringend einer radikaleren Gesellschaftskritik. Er bringt einen analogen intellektuellen Konflikt aufs Papier den ebenjene durchmachen – und mittels dieser Ähnlichkeit lassen sich Faszination und Begeisterung erklären.
(Ich bedanke mich bei Jakob Huber für die Übersetzung dieses Textes.)
Miriam Ronzoni ist Senior Lecturer (W2/assoziierte Professorin) für Politische Theorie an der University of Manchester. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der internationalen politischen Theorie und in den normativen Aspekten der Volkswirtschaft.
Miriam Ronzonis Beitrag beschließt unser Buchforum. Alle bisher erschienenen Beiträge sind hier nachzulesen.
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