Piketty-Buchforum (4): Warum die Steuerpolitik der letzten drei Dekaden die Ungleichheit befördert hat und wie man dagegen vorgehen sollte

Im vierten und letzten Teil seines Buches entwickelt Piketty Vorschläge, wie man der zunehmenden Ungleichheit und Kapitalkonzentration entgegen wirken kann. Da er der Auffassung ist, dass wir es nicht mit einem eisern gültigen ökonomischen Bewegungsgesetz zu tun haben (auch wenn er nicht ganz unschuldig daran ist, dass sein r>g von manchen als Gesetz missverstanden wurde), sondern mit einer historisch kontingenten und politisch herbeigeführten Entwicklung, ist für ihn klar, dass die Politik im Prinzip auch über Möglichkeiten und Instrumente verfügt, für eine Umkehr des Trends zu sorgen. Ich will im Folgenden seine Vorschläge knapp skizzieren und erläutern, wie er sie begründet, um anschließend ein paar Überlegungen zu ihrer Umsetzbarkeit anstellen.

Steuerpolitik als zentraler Teil des Problems und der Lösung
Für Piketty ist klar, dass in der Steuerpolitik sowohl die Ursache der Probleme als auch der Schlüssel zu Ihrer Lösung liegt. Dass diese Fokussierung auf Steuern einseitig ist, darauf hat Lisa Herzog zu Recht hingewiesen, allerdings hat Piketty durchaus ein paar Argumente dafür, dass die Steuerpolitik eben besonders wichtig ist. Er zeigt zum Beispiel, dass die Staaten, in denen die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer seit den 1980er Jahren am meisten gesenkt wurden, auch diejenigen sind, in denen der Anteil der obersten 10% der Einkommensbezieher am Volkseinkommen am stärksten gestiegen ist. Ebenso ist die gestiegene Kapitalkonzentration zu einem erheblichen Maße auf die steuerliche Entlastung von Kapitaleinkommen zurückzuführen.
Begründet wurden diese Steuerreformen, die in allen OECD-Ländern in variierendem Ausmaß vorgenommen wurden und zu einer abnehmenden Progression der Besteuerung und einer steuerlichen Entlastung des Kapitals (und damit der Gutverdiener) führten, mit dem internationalen Steuerwettbewerb. Dieser Steuerwettbewerb führte aber nicht zu einem Rückgang der Staatseinnahmen, sondern vor allem zu einer Verschiebung der Steuerlast. Die Steuereinnahmen konnten zumindest in den entwickelten Ländern stabilisiert werden, indem man eine steuerliche Lastenverschiebung auf Arbeitnehmer, die Mittelklasse und Konsumenten (durch erhöhte indirekte Steuern) vornahm. Mit anderen Worten, der Steuerwettbewerb führte nicht zu einem „race to the bottom“ bei den Staatseinnahmen. Dies kann aber nicht, wie manche Politikwissenschaftler meinen, als Indiz dafür genommen werden, dass der Steuerwettbewerb unschädlich sei. Vielmehr trifft er den Wohlfahrtsstaat in seinem Kern, indem er nämlich die Ungleichheit verschärft und die wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungsziele (zumindest auf der Einnahmenseite) unterminiert.
Um Ungleichheit zu bekämpfen, setzt Piketty daher ebenfalls auf Steuerpolitik (daneben diskutiert er kurz Reformen des Bildungswesens und der Sozialsysteme). Er plädiert für stark progressive Einkommen- und Erbschaftsteuern, wie es sie vor dem Zeitalter des Steuerwettbewerbs in vielen Ländern gab, und zusätzlich für die Einführung einer globalen, progressiven Vermögensteuer. Es finden sich nur wenige Details zur Ausgestaltung der Steuern. Piketty betont wiederholt, dass dies im Zuge eines demokratischen Verfahrens festzulegen wäre, dem nicht vorgegriffen werden soll. Dennoch vertritt er die Position, dass der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer (im OECD-Durchschnitt) bei rund 80% liegen könne. Die Vermögensteuer solle einen hohen Freibetrag von einer Million Euro haben, zwischen 1 und 5 Millionen soll ein Steuersatz von 1 Prozent gelten, darüber 2 Prozent. Bei extrem hohen Vermögen von mehreren 100 Millionen Euro könne auch eine Steuer von 5 bis 10 Prozent erhoben werden.

Progressive Steuern auf Einkommen und Kapital erhöhen Gleichheit und Effizienz
Piketty begründet diese Vorschläge nicht nur damit – und dieser Punkt ist zentral – dass sie zu einer stärkeren Umverteilung führen würden, sondern dass sie außerdem eine effizientere Allokation begünstigten. Einer der wichtigsten Beiträge, die Piketty und seine Kollegen geleistet haben, bezieht sich genau darauf, theoretisch und empirisch zu zeigen, dass die Steuern auf Spitzeneinkommen im Zuge des Steuerwettbewerbs auf ein ineffizient niedriges Maß gesenkt worden sind. (Ein Überblick zu dieser aktuellen Debatte in der Finanzwissenschaft findet sich hier).
Ebenso begründet Piketty ausführlich, warum eine progressiv ausgestaltete Vermögenssteuer auf sehr hohe Vermögen aus Effizienzgründen wünschenswert ist. Wie er anschaulich schildert, ist es nur durch eine Vermögensteuer möglich, das gesamte Einkommen der Reichen und Superreichen steuerlich zu erfassen. Die Vermögensteuer erfüllt eine Schutzfunktion für die Einkommensteuer und deren progressive Wirkung. Außerdem setzt die Vermögensteuer Anreize, effizientere Anlageentscheidungen zu treffen, um den jährlichen Substanzverlust des Vermögens auszugleichen. Damit schildert Piketty wichtige Argumente aus der ökonomischen Fachdiskussion in allgemeinverständlicher Form, die in der öffentlichen Diskussion einen Gegenpol zur derzeit weit verbreiteten Ablehnung einer Substanzbesteuerung darstellen.
Die niedrigen Steuern verleiten Spitzenverdiener zu Aktivitäten, die zwar ihr individuelles Einkommen steigern, aber (makro-)ökonomisch nutzlos sind, zum Beispiel knallhart übertrieben hohe Managergehälter auszuhandeln, oder als Banker wegen versprochener Bonuszahlung exzessiv riskante Finanzprodukte zu verkaufen. Es geht also nicht darum, wie es im bekannten Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gleichheit der Fall ist, das Zweite zu Lasten des Ersten zu kaufen, sondern die Gesellschaft kann beides auf einmal haben: Mehr Effizienz durch mehr Gleichheit. Es geht Piketty nicht um die Erdrosselung produktiver Tätigkeiten und Investitionen, sondern im Gegenteil um deren Ermöglichung. Insofern ist es nicht zutreffend, dass er sich von bekannten Steuerklugheitslehren verabschiedet, wie Sebastian Huhnholz vermutet. Der Zweck seiner steuerpolitischen Vorschläge ist eine Begrenzung und Einbettung des Marktes für (und nicht gegen) dessen besseres Funktionieren. Es geht ihm – wie allen guten Linksliberalen – darum, den Kapitalismus vor den Kapitalisten zu retten (was natürlich marxistische Kritiker auf den Plan ruft.

Wünschbar! Aber auch umsetzbar?
Gabriel Wollner hat Recht: eine genaue Beantwortung der Frage, ob und warum diese steuerpolitischen Umverteilungsziele wünschenswert sind, benötigt eine klare gerechtigkeitstheoretische Fundierung. Diese liefert Piketty nicht. Trotzdem soll für den Moment einfach angenommen werden, dass es sie gibt. Die Frage ist sodann, wie sie umsetzbar wäre.
Piketty selbst ist skeptisch. Damit die Staaten ihre Steuern in dem gewünschten Umfang anheben könnten, müssten Sie den Steuerwettbewerb untereinander beenden oder zumindest begrenzen. Dass sie daran in der Vergangenheit kein Interesse hatten, und auch gegenwärtig nur ein sehr begrenztes, ist bekannt. In der Theorie ist es zwar möglich, dass sie sich auf eine kooperative Lösung für dieses collective action Problem einigen, realiter gelingt ihnen dies jedoch kaum. Gründe dafür liegen unter anderem darin, dass sie unter einem übermäßigen Einfluss partikularer Interessengruppen stehen und sich auf eine falsch verstandene Steuersouveränität berufen. Voraussetzung jeglichen steuerpolitischen Fortschritts in die von Piketty präferierte Richtung ist es, diese Blockaden aufzulösen. Das wird so oder so schwer (unabhängig davon, welche steuerpolitischen Vorschläge man macht). Ich glaube aber, dass die von Piketty vorgeschlagenen Politiken auf besonders große Umsetzungsprobleme stoßen werden. Der Grund dafür ist, dass er einerseits zu viel will und andererseits zu wenig.
Zu viel will er mit seinem Vorschlag einer globalen Vermögenssteuer. Er ist zwar nicht sehr präzise, was an dieser Steuer genau „global“ sein soll. Soll sie von einer globalen, supranationalen Institution verwaltet und eingetrieben werden? Oder soll es sich lediglich um eine international konzertierte Einführung auf nationaler Ebene handeln? Aus seinen Ausführungen lässt sich aber entnehmen, dass er die zweite Variante präferiert. Es soll eine national administrierte Steuer sein, wobei sich die Regierungen verbindlich auf eine Harmonisierung der Besteuerungsregeln (Bemessungsgrundlage, Sätze, Progressivität etc.) einigen sollten. Die Steuern werden dann von den Nationalstaaten eingetrieben und die Einnahmen stehen diesen zur freien Verfügung. Unter Umsetzungserwägungen ist es nachvollziehbar, dass Piketty keine echte internationale Steuer, die von einer internationalen Institution eingezogen wird, vorschlägt. Allerdings beinhaltet sein Vorschlag, dass die Besteuerungsregeln zwischen den Staaten harmonisiert werden, und auch dies wird starken Bedenken begegnen.
Dabei ist gar nicht ersichtlich, dass eine solche Harmonisierung überhaupt notwendig und wünschenswert wäre. Sobald die nationalen Steuerverwaltungen tatsächlich, wie es von Piketty richtiger Weise gefordert wird, Zugriff auf alle Informationen zum Vermögen der Steuerpflichtigen hätten und diese Informationen automatisch austauschten, kommt es gar nicht mehr darauf an, dass die Steuer in allen Ländern gleich hoch ist. Die Steuerpflichtigen müssten dann schon ihren Wohnsitz ändern, um Steuern sparen zu können, was sie selten tun. Und wenn sich zeigen sollte, dass sie es tun, dann könnte man gegebenenfalls in einem zweiten Schritt über Mindeststeuersätze oder eine Angleichung der Steuerlast nachdenken. Es besteht aber kein Grund, etwaige Verhandlungen über die Einführung einer Vermögensteuer und einen umfassenden automatischen Informationsaustausch mit dem Ansinnen der Harmonisierung zu belasten. Und auch an der Wünschbarkeit der Harmonisierung sind Zweifel angebracht. Denn weder stellt sich die Konzentration des Kapitals in allen Ländern gleich (stark) dar, noch sind die sonstigen wirtschaftlichen Strukturen und Bedingungen überall gleich.
Wenn man sich die bisherige Geschichte des Kampfes gegen schädlichen Steuerwettbewerb, Steueroasen und Steuerflucht anschaut, dann wird jedenfalls deutlich, dass all jene Initiativen, die auf eine Angleichung des Steuerrechts zielen, nicht sehr weit gediehen sind, während jene Maßnahmen, die „nur“ auf administrative Kooperation zwischen Steuerbehörden setzen, weiter fortgeschritten sind. Gerade diese Woche wurde in Berlin ein Abkommen zum automatischen Informationsaustausch zwischen rund 50 Staaten abgeschlossen. Auch wenn es noch verschiedene Lücken enthält, ist dies ein sehr entscheidender Schritt. Zumal einer, der vor drei Jahren noch undenkbar schien. Solche administrative Kooperation, die noch weiter zu intensivieren wäre, ist die wesentliche Voraussetzung für eine nationale Umsetzung von Vermögensteuern; die Steuer selbst muss dann gar nicht global oder harmonisiert sein.
Zu wenig will Piketty hingegen in Bezug auf die Unternehmensbesteuerung. Den Wettbewerb der Staaten um Unternehmen bzw. deren Buchgewinne thematisiert er gar nicht, dabei ist es derjenige Teil des Kapitalsteuerwettbewerbs, der am intensivsten geführt wird. Solange dieser Wettbewerb aber ungehindert weitergeht, wird es schwer werden, höhere und progressivere Einkommensteuern in den Staaten durchzusetzen, denn es gäbe dann einen Anreiz persönliches Einkommen als Unternehmenseinkommen zu tarnen. Die Unternehmenssteuern übernehmen in ganz ähnlicher Weise eine Schutzfunktion für die persönliche Einkommensteuer wie dies auch für das Verhältnis von Vermögen- und Einkommensteuer gilt. Fortschritte in der Begrenzung bzw. Regulierung des Unternehmenssteuerwettbewerbs wären also eine wichtige Voraussetzung zur Durchsetzung der von Piketty vorgeschlagenen höheren und progressiveren Einkommensteuern. Vorschläge, wie das gehen könnte, finden sich zum Beispiel hier. Empirisch zeigt sich, dass man in diesem Bereich, bei dem tatsächlich eine zumindest teilweise Harmonisierung nationaler Steuergesetze notwendig wäre, bisher kaum echte Fortschritte erzielt hat.

Öffnung der Debatte
Allerdings ist fraglich, ob man von einem Buch, das sich an eine breite Öffentlichkeit richtet, tatsächlich einen vollständig ausgearbeiteten Reformplan erwarten sollte. Wichtiger als die Schwächen bei den genannten Detailfragen scheinen mir Pikettys Versuche, die wissenschaftliche und öffentliche Debatte zu forcieren: für die Idee, dass eine hohe und progressive Einkommensteuer auch effizienzsteigernd wirken kann, dass eine Substanzbesteuerung nicht automatisch wirtschaftsfeindlich ist, und dass eine rein formalistische und ahistorische ökonomische Theorie geringen Nutzen hat. All das wurde auch vorher schon gesagt, aber erst durch Pikettys Buch findet es ein breites Publikum. Es ist zu hoffen, dass der Erfolg des Buches einen Wandel in Wirtschaftswissenschaft und Politik vorwegnimmt.

 

Thomas Rixen ist Professor für Politikwissenschaft, insbes. international vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Bamberg.

 

Weiteres zu unserem Piketty-Buchforum sowie die bisher erschienenen Beiträge sind hier nachzulesen.

2 Kommentare zu “Piketty-Buchforum (4): Warum die Steuerpolitik der letzten drei Dekaden die Ungleichheit befördert hat und wie man dagegen vorgehen sollte

  1. Hab herzlichen Dank, lieber Thomas, für deinen sehr interessanten und verständlichen Beitrag, der doch eine Reihe von im Forum bislang noch nicht aufgetauchten Ansätzen und überdies viele Vertiefungen bietet!
    Ich möchte angesichts von nunmehr schon vier Forumsbeiträgen gleichwohl etwas mehr Politisches nachfragen. Nehmen wir mit Piketty an, es gälte einen irgendwie guten, demokratischen, echten Kapitalismus gegen eine reaktionäre, neofeudalistische und produktivitätsfeindliche Abart zu reanimieren. Glauben wir also mit Piketty, sein ökonomisches Projekt diene nur der Wiederherstellung funktionierender liberaler Demokratie. Genügt es dann wirklich, vorrangig (polit-)ökonomisch zu argumentieren und überdies die herbe Kritik Pikettys gegenüber einer herkömmlich ahistorischen und trivialmathematischen Verdummungs-VWL passieren zu lassen? (Von Endlosschleifen gerechtigkeitsphilosophischer Selbstreferentialitäten ganz zu schweigen…) Müsste nicht wenigstens ansatzweise auch demokratiereferentiell argumentiert werden?
    Historisch scheint mir die Steuerprogression ein Kind der Klassischen ökonomischen Moderne zu sein, der kapitalistischen Demokratie des 20. Jahrhunderts. Ich sehe daher nicht, dass es genügt, daraus abgeleitete ökonomische Prognosen (die, pointiert gesagt, rückblickend auf die DDR genauso wie auf ein Tycoon-Amerika des 19. Jahrhunderts anwendbar gewesen wären wie eben auf das heutige Saudi-Arabien und die jetzige BRD) dem Kriterium historisch informierter und regimespezifisch konkreter Ergänzung der modelltheoretisch ökonomischen Annahmen Pikettys genügt.
    Natürlich kann man versuchen, übermäßig Wohlhabende von der prinzipiellen Kapitalismusfeindlichkeit ihres Vermögens intellektuell zu überzeugen und dafür neben makroökonomischen auch eigentumstheoretische und philosophische Aspekte in Beschlag zu nehmen. Sobald aber zugleich zudringliche Besteuerungssanktionen angedroht werden, dürfte nicht nur der nette Disput mit ‚denen da oben’ an Grenzen stoßen, sondern zugleich müsste es gelten, auch eine ganz spezifische Berufsgruppe argumentativ zu proliferieren: die Juristen. Denn wenn die progressionssteuerlich und egalitär angelegte Steuerstaatlichkeit (nicht Steuern an sich, die sind alt) tatsächlich eine historische und systematische Begleiterscheinung der liberaldemokratischen Rechtsstaatlichkeit des klassischen Wohlfahrtskapitalismus sein sollte und dieser wiederum gewisse Eigentumsrechte als Bürger- und Freiheitsrechte rechtssystematisch bedingende Grundrechte zur Voraussetzung hat, muss es dann nicht auch gelten, die dem demokratischen Verfassungsstaat verpflichteten Juristen mit entsprechend noch schärferen, nämlich grundrechtskonform anwendbaren Argumentationswaffen auszustatten?
    Ich sehe bislang in unserer gesamten Piketty-Debatte (meinen eigenen Beitrag durchaus eingeschlossen) eine Schlagseite der teils ja überaus überzeugenden, gleichwohl maßgeblich ökonomischen und gerechtigkeitsphilosophischen Schwere, die eine gewisse Selbstreferentialität notwendig nach sich zieht, wenn sie nicht entweder auch spezifisch demokratietheoretisch-liberal austariert wird (im Sinne der Erweiterung um regimetypologische Steuerstaatlichkeitsgedanken) oder aber, andere Möglichkeit, sich noch offener für politisch radikale Argumente zeigt.
    Beim letzten Punkt habe ich derzeit den Eindruck von unserem „Piketty-Buchforum“, dass wir uns alle mehr oder minder einig sind, dass die von Piketty vorgeschlagene freiheitsschonende Vermögensvernichtung weder auf den von ihm vorgeschlagenen steuerprogressiven Wegen noch durch seine kreativen Utopien zu leisten ist – jedenfalls nicht, ohne dass dadurch nicht zugleich auch eine grundsätzlich den Privateigentumsbegriff differenzierende bis revolutionierende Zusatzbedingung greifen müsste, die wiederum nicht nur die „Vermögenden“ betrifft, sondern ketteneffektiv auch sämtliche strategischen Kleinkapitalsparer, also jene pervertierte Bürgerform des Privatversicherungsrentiers vor allem, die nach Dahrendorf u.a. auch Streeck in „Gekaufte Zeit“ als „pumpkapitalistische“ Träger der westlichen Staatsverschuldungsspirale und ihrer von Lebensmittelspekulationen, land grabbing bis Mietpreisexplosion reichenden Nebenwirkungen identifiziert hat.
    Geht es also wirklich nur um die „Vermögen“? Sind es nicht auch die massenseitig genutzten Renten- und Anlagefonds, durch die eine „neofeudalistische“ „Neoliberalisierung“ des Wohlfahrtsstaates citoyen-Bürger in renditebedürftige bourgeois-Anteilseigner der Finanzkapitalkredit-hörigen Verschuldungsdemokratie ‚schizophrenisiert’, wie Streeck argumentierte? Wenn ich nicht wieder ganz daneben liege, scheint mir der internationale Steuerwettbewerb, von dem du, lieber Thomas, schreibst, in engem Zusammenhang mit dem wohlfahrtsstaatsreformerisch zuletzt geförderten Renditeinteresse der Kleinsparer zu stehen – fondsfreundliche Zinsprofitbegünstigung als Daseinsvorsorge gewissermaßen.
    Vielleicht können wir im theorieblog innerhalb dieses Leseforums daher weitere interne Zusammenhänge von Wohlfahrtsdemokratie und Steuerpolitik doch nochmal vertiefen, denn ich würde dir, lieber Thomas, ja sehr recht geben, wenn du einleitend schreibst, dass das von Piketty beschriebene Problem eine durch „Steuerwettbewerb“ steuerstaatlich „herbeigeführte[] Entwicklung“ ist, weshalb „die Politik im Prinzip auch über Möglichkeiten und Instrumente verfügt, für eine Umkehr des Trends zu sorgen“. Ich sehe aber noch nicht, dass wir bei der Diagnose des Steuerwettbewerbs als solchem stehen bleiben dürfen, wenn wir auch sehen, dass dieser Wettbewerb gewolltes Ergebnis souveräner Entscheidungen demokratischer Steuerstaaten ist.
    Da ich nicht annehme, dass Steuerwettbewerb zwischen steuerstaatlich fiskalierten Demokratien ein international klandestin koordinierter Sabotageakte sinistrer Mächte war, will ich schon eher mit Streeck annehmen, dass ein erheblicher Part des fluiden privaten und vor allem auch ‚kleinteilig’ gestreuten Finanzkapitals der Wohlstandszonen tief in diese nunmehr etablierten politikökonomischen Institutionen verstrickt ist und daher auch der „Kleinsparer“ ahnt, dass der durch Piketty u.a. so oberflächlich romantisierte Klassenhass ein Schuss durchs eigene Portfolio wäre.

  2. Hallo Sebastian,

    entschuldige meine späte Antwort, aber besser als nie.

    1) Ich würde auch nicht behaupten, dass der Steuerwettbewerb ein „klandestin koordinierter Sabotageakte sinistrer Mächte“ ist. Er ist aber im Interesse einer kleinen Gruppe von Partikularinteressen, die erfolgreich zu Lasten der Allgemeinheit davon profitieren. Das schließt auch nicht aus, dass viele BürgerInnen mit Ihren Anlageentscheidungen darin verwickelt sind. Netto – wenn man über Ihrer Rollen als Anleger, Arbeitnehmer, Konsument etc. hinweg saldiert – verlieren sie aber.
    Dass es den Steuerwettbewerb trotzdem gibt, hat m.E. und verkürzt gesprochen, damit zu tun, dass die Regierungen es (1) nicht schaffen, ihn durch effektive internationale Kooperation auszuschalten und dass damit zusammenhängend (2) liberale, plurale Demokratien nun mal die bekannten Verzerrungen zugunsten mächtiger Partikularinteressen aufweisen (näher z.B. hier: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/rego.12024/abstract). Insofern stimme ich Dir also unbedingt zu, dass es da ein Demokratieproblem gibt, um das sich die politische Theorie kümmern sollte (so jedenfalls interpretiere ich jetzt mal Deine diesbezüglichen Ausführungen).

    2) Ich stimme auch zu, dass Piketty’s Beschwörungen der Demokratie nicht besonders tiefschürfend sind, und es stimmt auch, dass Sie keineswegs integraler Bestandteil seines Entwurfs sind, sondern eher angehängt wirken. Auf diese Spannung weist ja auch Miriam in Ihrem Beitrag hin. Man könnte sagen, dass er selbst (noch) keineswegs den neuen Typ eines interdisziplinär versierten Ökonomen repräsentiert, nach dem er ruft. Wichtig ist aber, dass durch den Erfolg seines Buches die Forderung danach eine breite Aufmerksamkeit findet.

    3) Branko Milanovic hat übrigens gerade einen Re-Review zu Piketty (ein Jahr danach) gepostet. Darin auch eine interessante Diskussion der steuerpolitischen Vorschläge: http://glineq.blogspot.de/2014/11/one-year-later-few-reflections-on.html.

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