theorieblog.de | Kanonisierung als Form des Vergessens. Bericht von der Herbsttagung der DVPW-Theoriesektion vom 16. – 18. September in Göttingen

25. September 2014, Förster

Das Tagungszentrum an der Historischen Sternwarte war als Veranstaltungsort äußerst symbolträchtig gewählt, denn was symbolisiert die Ausleuchtung der verborgenen Winkel und die Suche der Grenzen besser als der Blick in die Sterne? Das Tagungsthema lenkte den Blick in selbstkritischer Absicht auf die Prozesse der Kanonbildung in der politischen Theorie, die sich in den letzten Jahren bedingt durch die Bologna-Reform verstärkt abzeichnen. Wie konstituiert sich ein Mainstream? Wie bilden sich kollektive Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstrukturen heraus? Was macht eine Autor_in zur Klassiker_in oder einen Text klassisch? Entscheidet darüber das Genie der Autorin/des Autors, die Qualität der Werke oder ein Prozess machtförmiger „Kanonpolitik“? Oder ist es ‚lediglich’ Zufall bzw. eine Frage knapper Ressourcen, die uns zur Auswahl und Beschränkung zwingt?

Diese Fragen bildeten den Kern des begrifflichen Strangs der Tagung. Walter Reese-Schäfer gestand zu Beginn der Tagung freimütig, dass er, vor die Frage gestellt, ob er Xenophon in sein Klassikerbuch aufnehmen soll, sich doch für Platon und Aristoteles entschieden habe, weil sie im Vergleich die „Kammhöhe der Reflexion“ bestimmten. Das Motto der Tagung wies jedoch in eine andere Richtung. Es stammt aus Freuds Zukunft der Illusion: „Die Stimme des Intellekts ist leise; aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch“ (Freud 1978, 132). Demnach wären Kanonisierungsprozesse als Herrschaftsprozesse zu verstehen. Als solche sind sie ambivalent, sie schaffen einerseits Ordnung, Orientierung und Identität, andererseits beruhen sie auf Verdrängung und Exklusion kritischer Stimmen oder unliebsamer Konkurrenz. Die Klassiker_innen dominieren die Aufmerksamkeit, allerdings immer mit der Gefahr der Erstarrung und Dogmatisierung.

Schaut man aus der Perspektive der postkolonialen und genderkritischen Diskurse auf den Kanon, wird diese Vermutung bestärkt. Die postkoloniale Sichtweise nahmen Alexander Weiß, Ina Kerner, Björn Goldstein und Sybille De La Rosa ein. Für die genderkritische Perspektive standen die Vorträge von Harald Bluhm und Elisabeth Conradi. Sie bedienten neben den Beiträgen von Sebastian Edinger, Antonia Schmid, Paul Sörensen, Hannah Bethke und Daniel Schulz, die an (vermeintlich) vergessene Theoretiker_innen erinnerten, die nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Gruppe marginalisiert wurden, den zweiten Strang der Tagung: die tastende Suche nach unterschätzten oder vergessenen Autor_innen an den Rändern des Mainstreams. Diese Suche sollte keinen Gegenkanon etablieren, sondern als „supplement“ dienen, „um […] das Bewusstsein für die Fragilität, Dynamik der permanenten Konsensfindung […] zu schärfen“, so Reese-Schäfer. Gerade in diesem Bereich wurde eine konzeptionelle Ungenauigkeit der Tagung deutlich. Stellte sich doch beständig die Frage, ob diese Denker_innen in den Rang eines Klassiker_in erhoben werden könnten. Marginalisierung allein rechtfertigt noch nicht den Status eines Klassikers. So überraschte es beispielsweise, dass Schmid an Hanna Pitkin und ihr Werk The Concept of Representation erinnerte, das doch für Forschungen im Themenfeld der Repräsentationstheorie ein Standardwerk ist.

Diese Unsicherheit hätte durch eine Reflexion des Klassikerbegriffs und eine Differenzierung der verschiedenen Bezugsebenen begegnet werden sollen. Cord Schmelzle empfahl zu Recht zwischen umfassenden und Bereichs- bzw. Begriffsklassiker_innen zu unterscheiden. Eine solche Differenzierung hätte erklären können, warum manche nicht in den Kanon der Klassiker_innen aufgenommen wurden, da ihre Arbeit schlicht keine Relevanz für die Reflexion des Politischen/Politischer Theorie insgesamt besitzt. In diesem Sinne blieben die Aktualisierungsversuche unbefriedigend, wenngleich sie inhaltlich und in der Performanz oft spannend und unterhaltend waren. Beispielsweise wenn Harald Bluhm an Harriett Martineau und Sophie de Grouchy erinnerte, die beide ausgehend vom Sympathiebegriffs Adam Smiths eigenständige und originelle Varianten des Republikanismus erarbeiteten, die Rousseau und Tocqueville in nichts nachstehen. Beide hätten die Aufnahme in den Kanon der Politischen Theorie und Ideengeschichte verdient. Oder der von Paul Sörensen erinnerte Cornelius Castoriadis: Sein „Entwurf einer politischen Philosophie“ besitzt durchaus das Potenzial zu einem Klassiker der Politischen Theorie. Bei ihm stellt sich aber die Frage nach dem Verhältnis von Klassikerstatus und radikalkritischem Denken. Ist es überhaupt erstrebenswert, den Klassikerstatus zu erlangen, wenn man die Gesellschaft revolutionieren möchte? Sörensen wollte ihn auch nicht als potentiellen Klassiker empfehlen. Aber als Ideengeber einer kritischen Politischen Theorie konnte Sörensen Castoriadis überzeugend positionieren.

Die Frage der Qualität der klassischen Werke wurde selten berücksichtigt und wurde erst am Ende der Tagung explizit diskutiert. Frauke Höntzsch machte einen Vorschlag, diese schwierige Frage zu beantworten. Marcus Llanque hatte zu Beginn der Tagung den Fokus von Autor_innen auf Texte verschoben und klassische Texte durch das Kriterium der „permanenten Rezeption“ bestimmt. Er erläuterte dies mit der spannungsreichen Beziehung zwischen Archiv und Arsenal, die er exemplarisch an der Lektüre des ersten Alkibiades-Dialogs von Platon durch Michel Foucault und Xenophons durch Leo Strauss verdeutlichte. Höntzsch gab eine ergänzende Antwort. Sie plädierte dafür, die Lektüre von Klassiker_innen im Anschluss an die Rezeptionsästhetik als ein Bergen und Rekontextualisieren von Unbestimmtheitsstellen zu verstehen. Mit dem Ansatz der Rezeptionsästhetik verschiebe sich der Fokus auf den Leser, der sich Texte durch Kontextualisierung und Sinngebung aneigne. Entscheidend seien hier die Unbestimmtheits- und Leerstellen, die durch theoretische Abstraktion, durch Lösung vom historischen Kontext entstehen. Sie etablieren eine Appellstruktur, die die Leser_in zur Rekontextualisierung auffordern. Klassische Texte zeichnen sich demnach durch ihre Abstraktheit, Offenheit und Unbestimmtheit aus. Diese Sichtweise brachte Frauke Höntzsch von Sybille de la Rosa, die eine Verbindung des ideengeschichtlichen Ansatzes von Quentin Skinner mit der Genealogie von Michel Foucault forderte, die Kritik der Machtvergessenheit ein. Und Alexander Weiß bemerkte, Klassiker werden gemacht; Texte sagen uns nicht, ob sie Klassiker sind.

Die Tagung lenkte die Aufmerksamkeit auf ein schwieriges Grundproblem der Politischen Theorie, das jenseits von Bologna virulent ist und das jede politische Ordnungsstiftung betrifft: das Problem der Exklusion. Drängend wird es aber nur für die Demokratie. In Bezug auf die Tagung entsteht es an den Zugängen zum Archiv und besteht im „Unvernehmen“ (Rancière). Wie müssen die Filter und Schleusen des Archivs konstituiert sein, um das Meer der Unsicht- und Unhörbaren wahrnehmbar zu machen? Um am Ende nochmals auf Freud zurückzukommen: Fraglich ist, ob eine „Sublimation ohne Verdrängung“ (Klaus Heinrich) und eine Ordnung ohne Ausschluss denkbar sind. Auch wenn die Frage keine Antwort findet, ist das Nachdenken über sie, auch und vor allem jenseits von Tagungen, keinesfalls müßig.

Jürgen Förster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Hannah Arendt, Kritische Theorie und Demokratietheorie.


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