theorieblog.de | „Identität ist etwas, das einen greift“ – Psychologie und Politische Theorie

18. August 2014, Spohn

„Man kann die Welt weder von einem beliebigen noch von gar keinem Standort aus betrachten, sondern nur aus der eigenen, besonderen Position heraus.“ Mit diesen Worten beginnt der Aufsatz Globalisierung, Migration und Psyche des indischen Psychoanalytikers und Schriftstellers Sudhir Kakar. Dessen Buch Kultur und Psyche. Psychoanalyse im Dialog mit nicht-westlichen Gesellschaften (Psychosozial-Verlag 2012) geht der Frage nach, welche Bedeutung der Kultur im Prozess der Konstituierung der menschlichen Psyche zukommt. Dabei diskutiert er in den einzelnen Kapiteln ein breites Themenspektrum, das den Einfluss von Kultur auf so verschiedene Bereiche wie Theorie und Praxis der Psychotherapie, Konzepte von Liebe und das Verständnis von Religion umfasst. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Beschäftigung mit Identitätsbildung und Migration im Zuge von Globalisierungsprozessen. Die anregende Lektüre Kakars wirft die Frage auf, ob psychologischen Beschreibungs- und Erklärungsmustern in der Politischen Theorie nicht (wieder) mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Eine interdisziplinäre Öffnung für Perspektiven der Psychologie könnte das Verständnis politischer (Gruppen-)Dynamiken vertiefen und Fehlentwicklungen in der politischen Theoriebildung entgegenwirken.

Kakar beginnt seinen Text zu Globalisierung, Migration und Psyche mit einem Überblick über die politische Situation in Indien. Er identifiziert zwei sehr unterschiedliche ideologische Reaktionen des Widerstands gegen die mit der Globalisierung einhergehenden Transformationsprozesse. Auf der einen Seite stehen die „linksorientierten Liberalen“, auf der anderen Seite „Hindu-Nationalisten und Traditionalisten anderer Glaubensrichtungen“ (137). Beiden Oppositionsgruppen ist gemeinsam, dass sie auf den kulturell partikularen Charakter der Globalisierung aufmerksam machen: „Das Problem der Globalisierung ist, dass sie keine Universalisierung ist“ (137). Dieser Befund ist mit Blick auf die beiden Gruppen jedoch jeweils unterschiedlich zu verstehen. Die linksliberale Kritik bezieht sich darauf, „dass die Globalisierung nicht von universeller Wohlfahrt angetrieben wird, sondern von westlichen, ökonomischen Interessen“ (138). Angeprangert wird hier vor allem, dass sich die westlichen Länder durch eine restriktive Einwanderungspolitik abschirmen, der freie Güter- und Kapitalverkehr also nicht von entsprechenden Freiheiten im Bereich der Arbeitsmigration vom globalen Süden in den globalen Norden begleitet wird. Dies widerspricht nach Ansicht der linksliberalen Globalisierungskritiker/innen in Indien der Idee einer globalen, wirklich universellen Ethik. Die gegenwärtige Ausgestaltung der Globalisierung diene vor allem den ökonomischen Interessen westlicher Länder. Während die liberale Kritik also auf ökonomische Ungleichheiten abzielt und auf die Einlösung einer Ethik universeller Inklusion statt der derzeitigen Vorteilsnahme westlicher Länder dringt, richtet sich die hindunationalistische Globalisierungskritik stärker auf im engeren Sinne kulturelle Aspekte. Ihr geht es um ein Gefühl der Bedrohung tradierter Werte und Lebensstile durch die Globalisierung, die als westlicher Kulturexport wahrgenommen wird. Als besonderer Brennpunkt erweist sich hierbei die westliche Sexualmoral, vom freien und offenen Umgang der Geschlechter miteinander bis hin zu den stark auf Körperlichkeit und Freizügigkeit ausgelegten Fernseh- und Werbeformaten. Das Feindbild dieser Globalisierungskritik ist der globalisierte bzw. verwestlichte Inder, der gewissermaßen die eigenen Traditionen verrät (vgl. 138ff.).

Das eigentliche Thema des Psychoanalytikers Kakar ist jedoch die Frage nach den Auswirkungen der Globalisierung bzw. der damit zusammenhängenden Migrationserfahrungen auf die Psyche der Migrant/innen. Zunächst zeigt er auf, in welchen kleinen, scheinbar unbedeutenden, aber doch prägenden Begebenheiten sich eine tiefgreifende Erfahrung der Demütigung von Migrant/innen vom globalen Süden (hier: Indien) in den globalen Norden (hier: USA) manifestiert. So berichtet Kakar von den Nöten des jungen Akash, der davon träumt, in einem Call-Center zu arbeiten und in Internetforen nach Rat sucht, wie er sein „MTI“-Problem – d.h. seine mother tounge influence – loswerden kann. Ein anderer indischer Forenteilnehmer sorgt sich darum, ob es „‚als unzivilisiert betrachtet‘“ wird, „‚wenn man ohne Gabel und Messer isst? […] Ich liebe Roti und Butterhuhn, aber ich weiß einfach nicht, wie ich es anders als mit den Händen essen soll‘“ (141). Weiter ist da Gurcharan, der von seinen amerikanischen Freund/innen nur „Tony“ genannt wird, oder der indischstämmige Schriftsteller, der sich von seinen amerikanischen Kolleg/innen immer wieder fragen lassen muss, ob er auf Englisch oder auf „Hindu“ (statt Hindi) publiziere (143). Alle diese scheinbar trivialen Begebenheiten lassen sich als direkter oder indirekter Ausdruck der Geringschätzung bzw. Ignoranz gegenüber der Heimatkultur indischer Migrant/innen interpretieren.

Kakar reflektiert solche alltäglichen Kränkungserfahrungen psychologisch im Kontext der übergeordneten Frage, welche „Identitätsmöglichkeiten“ (146) Migrant/innen haben. Die Migrationserfahrung löst demnach typischerweise Empfindungen von Verlust und Trauer sowie in vielen Fällen Gefühle der Erniedrigung aus. Diese erschüttern das Identitätsempfinden der Betroffenen und stellen sie vor die Herausforderung, ausgehend von diesem Zustand bedrohter Identität einen neuen Identitätsbildungsprozess zu durchlaufen (vgl. 141). Es kommt zunächst zum Phänomen der „Spaltung“, definiert als „eine psychologische Abwehr, mit der der Migrant seine beiden Länder – das alte und das neue – in gut und schlecht aufspaltet“ (144). Dabei kann das Heimatland gegenüber der zweiten Heimat entweder auf- oder abgewertet werden. Im ersten Fall wird das Heimatland idealisiert und die Aufnahmegesellschaft als verachtenswertes, feindliches ‚Außen‘ perhorresziert – die Migrantin flüchtet sich in eine ethnisch dem Heimatland ähnelnde Umgebung (z.B. ein entsprechendes Stadtviertel), um so „das Mutterland symbolisch zurückzugewinnen“ (145). Die umgekehrte Variante des Spaltungsprozesses führt dagegen zu der Distanzierung von den Gebräuchen der Heimatkultur und dem Versuch vollständiger Assimilation an die dominante Kultur des Aufnahmelandes. Psychoanalytisch gesprochen liegt dann eine „Identifizierung mit dem Aggressor“ oder „‚Überidentifizierung‘ mit der dominanten Kultur“ (143) vor. Eine gelingende Bewältigung der Spaltung mündet demgegenüber Kakar zufolge „in einer Art Synthese oder ‚Bindestrich-Identität‘, die sich im Idealfall durch eine humorvolle Ambivalenz gegenüber beiden auszeichnet – der alten und der adoptierten Heimat“ (145).

Die Lektüre Kakars regt dazu an, Perspektiven aus der Psychologie, die derzeit in weiten Teilen der Politischen Theorie eher wenig Beachtung finden, (wieder) stärker in das politiktheoretische Denken zu integrieren. Dies soll abschließend an zwei Punkten verdeutlicht werden. Erstens erscheinen psychologische Perspektiven für das Verständnis politischer (Gruppen-)Dynamiken aufschlussreich. So analysiert Kakar Fundamentalismus und Fanatismus als zwei verwandte, aber voneinander zu unterscheidende Bewältigungsstrategien zur Bearbeitung der durch die Migrationserfahrung hervorgerufenen Identitätsspaltung. In beiden Wegen manifestiert sich der Versuch, durch den Anschluss an eine Gruppe von Gleichgesinnten und die dadurch erlangte Selbstbesttätigung eine Festigung der irritierten Identität zu erreichen. Der Unterschied zwischen Fundamentalismus und Fanatismus liegt Kakar zufolge darin, dass die Gefühle von Trauer, Verlust und Erniedrigung im ersten Fall durch eine Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft bearbeitet werden, wohingegen sie im zweiten Fall in der wütenden Aggression gegen diese feindliche ‚Außenwelt‘ Ausdruck findet (vgl. 144).

Zweitens können psychologische Perspektiven auf der Ebene politischer Theoriebildung ein wichtiges Korrektiv bilden. Mit Blick auf das Thema Identität ist gerade im Feld der transkulturell und vergleichend arbeitenden Politischen Theorie ein postmoderner, auf Multiplizität und Fluidität abhebender Diskurs dominant. Dieser ist als Reaktion auf statisch und essenzialistisch gedachte Identitätsbegriffe zu verstehen und hat als solcher seine Berechtigung. Er bildet offenbar, wie Kakar anmerkt, auch speziell im Fachdiskurs der Psychoanalyse eine wichtige Gegenbewegung (vgl. 148). Gleichwohl birgt die Überbetonung dieser postmodernen Aspekte gewisse Gefahren, wie die, „den psychischen Schmerz des Migrationsprozesses und das Fortdauern der Vergangenheit in der Gegenwart herunterzuspielen oder gar zu leugnen“ (148). „Die Betonung der Multiplizität“, so Kakar, „kann davon ablenken, was im Menschen fortdauernd ist“ (148). Weiter „scheint der Begriff der multiplen Identitäten – des ‚dezentrierten Selbst‘ – die Rolle der persönlichen Wahl überzubewerten und die unbewussten Faktoren herunterzuspielen, insbesondere die der Kindheit, die in der Herausbildung und in der Erfahrung unserer Identität so wichtig sind“ (149). Diese Überbetonung des voluntaristischen Aspekts im Zusammenhang mit Identität führt zu einem elitären Bias des postmodernen Denkens: „Mit Ausnahme einiger Privilegierter wie zum Beispiel reisende Geschäftsleute, Diplomaten und international gefragte Wissenschaftler sind diese Wahlmöglichkeiten des Identitätswechsels für die meisten Migranten sehr begrenzt“ (147).

Kritiker/innen des postmodernen Diskurses um Identität leugnen nicht eine gewisse psychische Flexibilität von Menschen und ihre Fähigkeit, sich in unterschiedlichen Arten und Weisen wahrzunehmen (vgl. 148). Ihre für die postmoderne Position wohl provokative These lautet jedoch: „Veränderung ist […] begrenzt, sie ist ein flexibler Wandel um unveränderliche Fixpunkte“ (148). Ebenfalls provokant für das postmoderne Multiplizitäts- und Fluiditätsdenken ist Kakars Behauptung, Identität sei „nicht etwas ‚Fließendes‘“, sondern werde „durch ein Gefühl der Kontinuität und Gleichheit bestimmt“ (147). Eine kritische Perspektive auf eine allzu starke Betonung von Dezentrierung in Bezug auf menschliche Identität findet sich in der Politischen Theorie zum Beispiel bei Charles Taylor. Sein Denken, das im Anschluss an Heidegger kulturelle ‚Rahmen‘ oder Horizonte als zentrale Konstitutionsbedingung menschlicher Identität hervorhebt, bietet Anknüpfungspunkte für Kakars anschaulich formulierte Sichtweise, wonach Identität „nicht etwas [ist], das man sich aussucht, sondern etwas, das einen greift“ (147).

 

Ulrike Spohn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster.


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