Die parlamentarische Sommerpause gilt traditionell als die halbtote Phase, in der das politische Reservepersonal seine fifteen minutes of fame aus dem Mediennirvana abrufen darf. Die Vorschläge reichen auch derzeit wieder einmal von der Ausweisung deutscher Dschihadisten bis zum Fällen solcher Alleebäume, die dem provinziellen Fahranfängerstil im Wege stehen. Die Sommerpause birgt allerdings auch gemeinhin unterschätzte Chancen für die Artikulation politischer Fragen jenseits der Berufspolitik. Die Sommerpause ist nämlich nicht zuletzt die große Zeit der Gastautoren. Ein Zeitfenster, in der Differenzierte gegen die im Routinebetrieb so schrillen Talkshow-Dampfplauderer anreden und -schreiben dürfen.
In dieser Hinsicht verdient auch eine unlängst im Deutschlandfunk ausgestrahlte „Kontrovers“-Sendung Beachtung, die sich unter dem Titel „Ecclestones Deal mit dem Gericht – ein Fall von Kassenjustiz?“ der realdemokratisch nicht eben unwichtigen Frage annahm, was an der Aufsehen erregenden, weil gegen Rekordsumme garantierten Verfahrenseinstellung und dem Zustandekommen der gegen „Formel-1-Chef“ Bernie Ecclestone erhobenen Korruptionsvorwürfe eigentlich Regel deutscher Strafrechtspraxis ist und was tatsächlich un- und außergewöhnlich (zur Erinnerung hier der Fallabschluss in Kürze). Studiogäste waren Ulf Buermeyer, Richter am Landgericht Berlin, Wolfgang Nešković, ehemaliger Bundesrichter und Rechtspolitiker der „Linkspartei“, sowie MdB Patrick Sensburg, seines Zeichens Mitglied im „Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz“.
Bemerkenswert an der (nachhörbaren) Sendung war allein schon das erfreuliche Niveau an auch für juristisch Halbgebildete nachvollziehbarer, streitfreudiger und zeitlich ausreichend gedehnter Mitteilungsbereitschaft der Geladenen. Als umso eigentümlicher erwies sich denn aber der in einem Punkt unerwartet große Konsens der berufsjuristischen Diskussionsteilnehmer, genauer: deren Einigkeit, zum Fazit der Sendung hin ein kleinkollektives Klagelied vom notorisch unterfinanzierten deutschen Gerichtswesen anzustimmen. Von der Politik im Stich gelassenen, gehöre die „seit Jahrzehnten“ bestehende „Zeitbedrängnis der Richterinnen und Richter“ verringert (Neskovic). Die „Landesgesetzgeber müssten eigentlich dafür bezahlen, indem sie die Justiz so ausstatten, dass das [Bundes-]Gesetz auch tatsächlich in jedem Fall nach seinem Buchstaben, aber auch nach seinem Geist angewendet werden kann.“ Sie seien „am Zug, die Gerichte so auszustatten, dass eben keine Kammer unter Druck gesetzt werden kann mit einer langen Verfahrensdauer“, während der „Bundesgesetzgeber“ den „Transparenzgedanken“ fördern müsse, den „Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, warum wir zu Entscheidungen kommen“ – gerade in Fällen der Verfahrenseinstellungen gegen Geldzahlungen an den Staat (Buermeyer). Sind Ecclestones hundert Millionen also letztlich nur Ausdruck richterlicher Überarbeitung, bloß Kollateralnutzen allzumenschlichen Versagens?
Einen Prozess kürzer machen…
Nun sind Kommerzialisierung und Überrationalisierung des deutschen Gerichtswesens, der vermeintliche oder tatsächliche Austausch der Strafprozessordnung gegen höchstmögliche Auflagen seit geraumer Zeit Gegenstand rechtspraktischer und demokratietheoretischer Kritik. Hohe und höchste Jurist_innen, amtierende und ehemalige Justizminister_innen und viele andere mehr haben sich mittlerweile ausführlich zur Frage eingelassen, inwiefern die Zunahme sogenannter „Deals“ und geldbewährter Verfahrensabbrüche für Prozesse, die längst nicht mehr nur lästige Bagatelldelikte Halbstarker oder notorischer Kleinkrimineller betreffen, eine Paralleljustiz installiert haben. In ihr würden eher kameralistische Finanz- als liberaldemokratische Justizministerien den Richtern Wort und Feder führen, während ein Joint Venture aus klammem Fiskus, kollabierenden Rechtspflegeorganen und finanziell kooperativen bis phantasiereich geständigen Straftätern Gerechtigkeit und Rechtstreue verhöhnt.
Tatsächlich ist die vertraute Phrase der „Paralleljustiz“ für beide Seiten der Medaille – die der rechtspolitisch gewünschten Vollausstattung des Justizwesens einerseits, die der finanzpolitisch willkommenen Kommerzialisierung der Justizwesens andererseits – nicht zu kurz gegriffen. Immerhin muss man sich klar machen, dass „Deals“ (also die gerichtsseitige Vorabgarantie eines geringfügigen Strafmaßes im Tausch gegen ein prozessverkürzendes „Geständnis“ Angeklagter ungeachtet der Frage, inwieweit diese tatsächlich schuldig sind) ebenso wie die dem verwandte Einstellung von Verfahren gegen Geldauflage gemäß § 153a der Strafprozessordnung selbst kein Recht setzen und ihrerseits selbst von Karlsruhe aus nicht mehr anfechtbar sind: Wo in vordergründig allseitigem Einvernehmen kein klassisches Urteil auf Basis einer signifikanten Beweislage gesprochen wird, entsteht kein Präzedenzfall und nichts, was von höherer Stelle kassiert werden könnte. Bei (laut besagter Sendung) mittlerweile über 180.000 beklagtenseitig bezahlten Verfahrenseinstellungen pro Jahr allerdings stellt sich die Frage nach Regel und Ausnahme dessen, was offiziell gelten soll und dem, was tatsächlich gilt.
„Kassenjustiz“?
Die Sache ist freilich komplexer, als es die Assoziation vom schnöden Mammon suggeriert. Schon seit geraumer Zeit ist die postdemokratische Diagnostik und Prognostik von dem Neo-Schmittianischen Theorem durchzogen, die klassische Gewaltenteilung würde durch die technokratischen Gewalten, das heißt durch Judikative und Exekutive ausgehebelt und das repräsentierende Hauptorgan der Volkssouveränität, die Legislative, zwischen ihnen zerrieben. Gelegentlich ließen sich Legitimität verheißende Verfahren – so etwa Caspar Hirschi im Anschluss an Luhmanns Idee, der Schauprozess sei der mythische Bruder des geordneten Verfahrens – kaum noch von Demokratiesimulationen im Dienste projektbezogener Legitimitätsbeschaffung unterscheiden.
Die Art der im Fall Ecclestone beklagten Defizite scheint insofern gerade wegen der darin elaboriert zum Ausdruck kommenden postdemokratischen Positionen ein exemplarischer Fall fadenscheiniger Sonderabschöpfungslegalität zu sein, konkurrieren hier doch zweierlei institutionelle Schuldzuweisungen, die sich ihrerseits des verbreiteten Eindrucks einer „Entdemokratisierung“ und „Kapitalisierung des Rechtsstaates“ gar nicht mehr erst zu erwehren versuchen: Während die Justiz mangelnde Ausstattung durch Landes- und Bundesregierungen moniert, um die zunehmende Ersetzung von rechtsstaatlichen Verfahren durch Profitprozesse zu begründen, scheint regierungsseitig bundes- wie länderweit schlechterdings kaum ein exekutives Eigeninteresse an der Dekommodifizierung der Strafprozesspraxis denkbar. Denn immerhin wird durch massenhaft erkaufte Verfahrensverkürzungen nicht nur die beklagte personelle Unterausstattung der Gerichte praktisch kaschiert. Just in dieser Unterausstattung liegt gemäß Selbstaussage der formal verantwortlichen Gerichte zugleich deren wesentlich binnenorganisatorischer Antrieb, von Wahrheit und Gerechtigkeit auf Effizienz und Gewinn umzurüsten. Durch die informelle Auspreisung von Freisprüchen zweiter Klasse erspart man sich die Mühe tatsächlich bis in die letzten Instanzen hinein gesicherter Legalität. Anders gesagt: Finanzpolitik, Justizverwaltung, Richtern, Klägern und nicht selten auch Verteidigern und Angeklagten nutzt es, wenn unter Wahrung des Scheins widerstreitender Interessen Beschuldigte in einer für sie selbst immerhin außeralltäglichen Stresssituation dazu angehalten werden, einen sonderprozeduralen Gnadenakt zu ertragen, dem Fiskus Extraprofite zuzuschanzen und damit unter Verzicht auf spätere Revisionsmöglichkeiten am Verfahrensschauspiel teilzunehmen.
Somit drohen denn gerade nicht, wie in besagter Sendung prognostiziert, „amerikanische Verhältnisse“, in denen diejenigen mit den teureren Advokaten auf deren elitäre Kompetenz vertrauen, überforderten Mittelmaßgerichten glaubhaft mit elend lang und aussichtslos erscheinenden Hauptverhandlungen zu drohen. So solle die Wahrscheinlichkeit genutzt werden, dass aufstiegswillige, entnervte und nach Fallzahlerfolgen bewertete Staatsjuristen lieber frühzeitig finanzpolitisch erwünschtes Geld fordern als langwierige prozessorganisatorische Risiken einzugehen oder gar ihren kaum minder karrieristischen Nachfolgern späte Verurteilungserfolge in die Wiege zu legen. Kreative Neologismen wie Heribert Prantls „Kassenjustiz“ (in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 6. August 2014) übertünchen daher durch ihre gewollte Assoziation zur amerikanischen „Klassenjustiz“, dass die Kommerzialisierung der Justiz, anders als Prantl suggeriert, gerade kein elitäres Gentleman’s Agreement zwischen ominösen Staats- und Geldbonzen ist, sondern täglich Brot innerhalb deutscher Strafgerichtsverfahren.
Der um keinen derben Vergleich verlegene Bundesgerichtshofrichter Thomas Fischer, nach bezeichnenden Intrigen nunmehr Vorsitzender des zweiten Strafsenats und integrer Guru der deutschen Strafrechtkommentatoren, geißelte die gängige Massenpraxis der Absprache zwischen Anklägern, Angeklagten und Richtern längst als „Schande der Justiz“. Man muss vielleicht noch nicht von einer systematischen Rechtsbeugungspraxis der juristischen Staatsklasse ausgehen, doch bleiben DDR-Assoziationen nicht aus, wenn Fischer seine Kolleg_innen wie von einem anderen Stern kommend gegen den Handel mit fingierten bis herbeigenötigten „Geständnissen“ ermahnt, dass „wer einer Straftat beschuldigt wird, schweigen darf oder die Tat bestreiten. Er hat das Recht auf einen Verteidiger, der ausschließlich seine und nicht heimlich die Interessen der Justiz vertritt. Er hat das Recht, Zeugen zu benennen und gegen ihn sprechende Beweise zu prüfen. Diese Rechte hat er unabhängig davon, ob Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht dies für ‚sinnvoll’ halten oder für Zeitverschwendung, unabhängig davon, ob er dem Richter sympathisch ist, ob er sich reuig und unterwürfig zeigt“. Denn seit in „den sechziger und siebziger Jahren erstmals ernsthaft gefragt wurde, warum das Strafrecht nur die Dummen und Hoffnungslosen, Randständigen und Verlierer treffe“, sollte sich doch eigentlich „[s]either […] viel geändert“ haben.
Das Boulevard-Narrativ von den Kleinen, die man hängt, und den Großen, die man laufen lässt, kann also nicht einfach auf hiesige und heutige Verhältnisse adaptiert werden. Denn gerade weil hierzulande vom kleinsten Gauner bis zum größten gefälligst alle mitspielen sollen und jedermann ‚Bescheid weiß’, ist der Dumme nicht mehr nur der Arme und der als behindert, krank oder gemeingefährlich Abgestempelte, sondern offenkundig gerade derjenige, der Geist und Text der Gesetze kompetent befolgt wissen will. Dabei mag es ja vielleicht sein, dass der „Deal“ der Tendenz nach eher von den Minderbemittelten und die für den Staat ungleich lukrativere und für seine Verwalter effiziente Verfahrenseinstellung gegen Bezahlung vorzugsweise von Wohlhabenden beansprucht wird. Der Fall Ecclestones indes zeigt einmal mehr, dass es darauf gar nicht so sehr ankommt: Die Sache bleibt, gleich aus welcher Perspektive, ein moderner Ablasshandel, indem sich wider Willen schuldig spricht, wer ganz rational das informell garantierte Optimum zwischen zwei angstverheißenden formellen Optionen sucht. Wer hingegen auf den ordentlichen Rechtsweg setzt, gilt als renitent und teuer, als jemand, der gegen die informellen Spielregeln verstößt, die Rendite schmälert und die eifrigen Prozessmanager in ihren effizienten Eilentscheidungsfabriken sabotiert.
Angst vorm Rechtsstaat
So zeigt sich unbeschadet der konkreten Person und der (nunmehr ungeklärt bleibenden) Frage ihrer Korruptionsneigung am Fall Ecclestones vielleicht nur sehr augenscheinlich eine gewisse Binnenkorruptibilität des derzeitigen Strafrechtswesens. Wie sonst soll man ein Gericht verstehen, das einem Angeklagten ganz gezielt kommuniziert, dass ihm aller Wahrscheinlichkeit gemäß zwar nichts rechtskräftig Verwertbares nachzuweisen sein wird, theoretisch also mit einem Freispruch zu rechnen ist – wenn, ja, wenn da nicht das hohe Alter des Beschuldigten wäre. Der über achtzigjährige Ecclestone hat sich insofern mitnichten, wie nun in diversen Selbsterregungsforen zu lesen ist, im strafrechtlichen Sinne „frei“ gekauft. Ecclestone hat sich rare Qualitätszeit gekauft, idyllische Restlebenszeit, um genauer zu sein, Zeit jedenfalls, die er sicher nicht mit deutschen Staatsjuristen in der abgekaterten Atmosphäre eines Gerichtssaals vergeuden will. Du, reicher Opa, kalkulierte das Gericht offenkundig, kannst noch ein paar schöne Jahre haben oder ein paar mit uns. „Das Urteil“, heißt es in Franz Kafkas „Der Prozess“, „kommt nicht mit einem mal. Das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.“
Plausiblerweise wurde denn auch in besagter Sendung auf den Fall Christian Wulffs als jüngstes großes Gegenbeispiel zum Trend verwiesen, sich die eigene Freiheit vor anscheinender Rechtbeugungsroutine über Schleichwege ersteigern zu müssen: Wulff hatte auf einen „Freispruch zweiter Klasse“ verzichtet, wollte nicht durch Geldzahlung eine Verfahrenseinstellung riskieren, die das Stigma eines passiven Schuldeingeständnisses trägt. Für Wulffs Person muss man heute vielleicht eher von Glück als von Recht sprechen, dass seinem zunächst als naive Trotteligkeit verhöhntem Stolz, seinem Beharren auf einem vollgültigen Freispruch letztlich stattgegeben wurde. Doch unangenehmer ist sodann die Erinnerung, was Wulff erst alles verlieren musste, um den auf ihn angesetzten Rechtsvertretern zu trotzen und, bald nur noch sich selbst verantwortlich, auf ein hinreichend reallegales Verfahren zu bestehen.
Für die meisten, die sich in eine ähnliche Zwangslage wenigstens hineinfühlen können, dürfte es ungleich erträglicher erscheinen, sich, ihrer Familie und ihrer gefährdeten Zukunft derlei Bohei zu ersparen und stattdessen besser schnell eine in Sachen Deal und Freikauf merkwürdig krokodilstränig selbstgerechte Jammerjustiz zu bezahlen. Auch dies freilich lässt an Kafkas „Prozess“ denken, trifft der durch die Institutionen irrende K. doch allerorts auf gutwillige Helfershelfer, die ja wollten, wenn sie nur dürften wie sie könnten… Fehl geht daher das dieser Tage einmal mehr zu vernehmende 5-vor-12-Gerede vom „Vertrauen in den Rechtsstaat“, das eine beutestaatliche Abzockerei im Fall Ecclestone beschädigt habe. Denn ist der Fall Ecclestone die nur ob der gigantischen Einstellungssumme und der Sommerpausenleere besonders publik gemachte Regel, kann da kein Vertrauen sein, das zu beschädigen wäre.
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