Wiedergelesen: Die Theorie der Hegemonie

Wiedergelesen-Beitrag zu Ernesto Laclau und Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London, New York: Verso 1985 (dt. v. Michael Hintz, Gerd Vorwallner. Wien: Passagen 1991).

 

Oft hat der Tod eines Autors den bemerkenswerten Effekt, sein Werk erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Im Falle des jüngst verstorbenen Ernesto Laclaus ist zu erwarten, dass das Interesse an seiner posthumen Monographie The Rhetorical Foundations of Society besonders groß sein wird. Doch Laclaus Tod gibt auch Anlass dazu, den Blick in die Vergangenheit zu richten. Wie steht es um die Aktualität jenes Werkes, das den Startpunkt für den Postmarxismus Laclaus und Chantal Mouffes bedeutete? Die bald 30 Jahre, die seit der Veröffentlichung von Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics im Jahr 1985 zurückliegen, wirken im kurzlebigen Archipel der politischen Theorie wie eine kleine Ewigkeit. Zuletzt ist es um Hegemony ruhiger geworden. Jedoch sind die Anliegen, die Laclau und Mouffe vor einer Generation beschäftigten, längst nicht von der Tagesordnung. In diesem Beitrag plädiere ich thesenhaft dafür, dass Hegemony and Socialist Strategy ein moderner Klassiker der Sozial- und politischen Theorie ist. Laclau und Mouffe entwerfen in diesem Buch erstmals eine poststrukturalistische Diskurstheorie als umfassende Gesellschaftstheorie; sie legen die Pfeiler für eine postfundamentalistische politische Ontologie; letztlich relancieren sie das sozialistische Projekt in neuartiger Weise als Projekt der radikalen Demokratie. Poststrukturalistische Gesellschaftstheorie, politische Ontologie und politisches Projekt, dies ist die Erbschaft, die Hegemony and Socialist Strategy für die Gegenwart hinterlässt.

 

I          Diskurstheorie als Gesellschaftstheorie

Hegemony bedeutete den Startschuss für einen Ansatz, in dem sich gramscianische und poststrukturalistische Kategorien zu einer neuartigen Theorieoption verschränken. Laclau und Mouffe setzten in Hegemony die konzeptuellen Pfeiler der Hegemonietheorie, um die sich ihre Überlegungen in den folgenden drei Jahrzehnten drehen sollten und die mittlerweile in der Essex School of Discourse Analysis – zu der Laclau-Schüler wie Norval, Howarth, Glynos, Stavrakakis oder Marchart gehören – schulbildende Wirkung entfaltet hat. Freilich versteht sich der Ansatz, den dieses Werk ausarbeitet, nicht außerhalb der Fragen seiner Zeit. Mitte der 1980er Jahre befand sich kritische Theorie in einer paradoxen Konjunktur: Zum einen verlor der Marxismus mit seinem Plädoyer für die Primatstellung von Ökonomie und Klassenkampf zusehends seine einstige Rolle als kreativer Theoriegenerator. Ihm entglitt das neue politische Klima, das die 68er Revolten eingeleitet hatten – von der New Left über die Neuen Sozialen Bewegungen (Studenten-, Bürgerrechts-, Frauen-, Ökologiebewegung, etc.) bis hin zu den undogmatischen sozialistischen Revolten des Pragers Frühlings. Zum anderen formierten sich jenseits des Marxismus neue kritische Theorien, welche die Achsen von Ungleichheit und Herrschaft über die Konfliktlinie Arbeit vs. Kapital hinaustrieben. Insbesondere die Arbeiten Foucaults und Derridas, aber auch die Wiederentdeckung Gramscis sorgten dafür, das Soziale in seiner Gesamtheit als Macht- und Herrschaftsterrain zu lesen.

Die Erschöpfung des Marxismus und die Formierung neuartiger kritischer Theorien sind der doppelte Startpunkt, von dem aus Laclau und Mouffe ihren Ansatz lancieren. Wollte man ihr Vorhaben mit einem Label versehen, so bietet es sich am ehesten an, ihn als poststrukturalistische Überarbeitung und Radikalisierung von Gramscis Hegemonietheorie zu bezeichnen. Tatsächlich entfalten die Autoren von Hegemony weniger einen von Grund auf eigenständigen Kategorienapparat, vielmehr tätigen sie eine poststrukturalistische redescription gramscianischer Konzepte – und geben ihr mit dem Schlüsselbegriff des Antagonismus eine konflikttheoretische Volte.

Erstens arbeiten Laclau und Mouffe die gramscianischen Begriffe in eine poststrukturalistische Diskurstheorie ein, die im Zeichen von Konstruktivismus und Antiessentialismus steht. Jedes Subjekt, Praxis oder Kollektiv entsteht im Gewebe der Diskurse und erlangt (und verändert) seine Identität durch Diskursverschiebungen. Das bedeutungsschwere Subjekt Proletariat beispielweise ist für Laclau und Mouffe keine objektive Kategorie, sondern ein kontingentes diskursives Produkt: „Political practice does not recognize class interests and then represent them: it constitutes the interests which it represents“ (120). Die Klasse als handlungsfähiges Kollektiv entsteht durch langwierige diskursive Prozesse, die schrittweise die proletarische Identität in all ihren Facetten und Idiosynkrasien erschaffen haben. Waren also bei Gramsci festgefügte Klassen (oder Klassenbündnisse) die Subjekte politischer Kämpfe, so übernehmen in Hegemony Diskursformationen diese Rolle.

Zweitens zeichnen Laclau und Mouffe ein hochdynamisches Bild des Sozialen, in dem sich „politische Einheiten und Frontlinien unaufhörlich etablieren, auflösen und neu bilden“ (Saar). Der Artikulationsbegriff fungiert als konzeptuelle Ressource für diese Perspektivierung des Sozialen. Was bei Gramsci der Stellungskrieg um die hegemoniale Deutungshoheit war, wird bei Laclau und Mouffe zur Artikulation von Diskursmomenten. Sie bezieht diese Momente aufeinander und fixiert ihre Beziehungen, ohne dass aber diese Verbindung „für alle Zeiten notwendig, determiniert oder wesentlich [sei]“ (Hall). Jedoch wohnt Artikulationen ein Grundmechanismus inne, dem Laclau und Mouffe in Anlehnung an die Sprachtheorie Saussures universelle Gültigkeit zusprechen. Artikulationen folgen der binären Logik von Differenz und Äquivalenz. Die Differenzlogik unterscheidet Diskursmomente, die Äquivalenzlogik dagegen setzt sie gleich. Dabei ist die Logik der Äquivalenz die eigentlich politische Logik. Nur wenn es Diskursen gelingt, breite Äquivalenzketten zu schmieden und damit schrittweise ihren Bedeutungshorizont zu universalisieren, können sie hegemonial werden. Doch dasjenige, auf das sich Diskursmomente beziehen, um sich einander anzugleichen, ist nicht ein positives Moment, sondern eine negative Instanz, die außerhalb des diskursiven Innenraumes steht. Wie es in Hegemony heißt: „certain discursive forms, through equivalence, annul all positivity of the object and give a real existence to negativity as such“ (128f).

Dies führt, drittens, zur konflikttheoretischen Zuspitzung poststrukturaler Diskurstheorie mit dem Schlüsselbegriff des Antagonismus. Er ist für Laclau und Mouffe eine paradoxe, sowohl diskursblockierende als auch konstituierende Instanz: Der Antagonismus blockiert den Diskurs, indem er ihn auf das bezieht, was außerhalb von ihm steht. Auf der anderen Seite konstituiert der Antagonismus den Diskurs. Durch die Abgrenzung zum konstitutiven Außen (Derrida) des Antagonismus entsteht ein stabilisierter innerdiskursiver Raum. Der Antagonismus ist also die Figur der Grenzziehung zwischen dem Diskursinnen und seinem Außen. Die antagonistische Grenze ist dabei stets mit dem Diskursinneren verschränkt. Einem nationalistischen Diskurs etwa kann die Figur des Ausländers als Kontrastfolie dienen, um die Vorstellung der ethnokulturell homogenen Nation zu konstruieren. Aber gleichzeitig rückt der „Ausländer“ dieses Ideal in unerreichbare Ferne, konfrontiert er doch den nationalistischen Diskurs unablässig mit dem, was er nicht ist. Pointiert gesprochen, legt der Antagonismus offen, das Macht- und Ausschlussakte jede soziale Identität durchziehen.

Mit den Grundbegriffen Diskurs, Artikulation und Antagonismus nimmt das gesellschaftstheoretische Grundanliegen von Hegemony Gestalt an. Es geht letztlich um nichts weniger als die Behauptung, dass alle sozialen Phänomene auf politische Bewegungen zurückführbar sind und im Kern eine politische Verfassung aufweisen. Am Grund aller sozialer Verhältnisse steht eine politische Logik, d.h. die Logik von diskursiven Äquivalentsetzungen und antagonistischen Grenzziehungen. Die Geschlechtsidentitäten „Mann“ und „Frau“ etwa, vermeintlich gänzlich unpolitisch und natürlich gegeben, sind in einer heteronormativen Matrix (Butler) eingefasst, die sich erst konstituiert, wenn sie Grenzfiguren wie Homosexualität, Intersexualität oder Perversion aus ihrem Sinnhorizont verdrängt – und als untergründige Gefahrenzonen brandmarkt. Jede Identität enthält derartige „Spuren des Ausschlusses, der ihre Konstitution begleitet“ (Mouffe). In diesem Sinne ist die Hegemonietheorie nicht eine Gesellschaftstheorie klassisch soziologistischen Zuschnittes. Laclau und Mouffe tätigen nicht „objektive“ Zustandsbeschreibungen von Gesellschaft, sondern fördern ihre politischen Konstitutionsbedingungen zu Tage. So unbeweglich, festgefügt oder selbstbezüglich Gesellschaft scheinen mag, an ihrem Grund stehen stets kontingente politische Bewegungen.

 

II      Politische Ontologie

Die poststrukturalistische Radikalisierung Gramscis hat tiefgreifende sozialontologische Konsequenzen. Hegemony inauguriert eine neuartige Perspektive des Sozialen, die sich durch die drei Momente von Kontingenz, Konflikt und Ordnung auszeichnet.

Erstens rücken Laclau und Mouffe die Kontingenz des Sozialen in den Vordergrund. Für sie hat, genauso wie für andere poststrukturalistische Autoren, das Soziale kein essentielles Fundament, das soziale Ordnung a priori mit einem Grund ausstatten könnte. Zweitens geht Kontingenz stets mit Konflikt einher. Wie festgehalten, ist die Konstitution sozialer Objektivität mit antagonistischen Grenzziehungen verwoben. Die Konfliktgeladenheit sozialer Verhältnisse ist für Laclau und Mouffe, anders als für viele herkömmliche Theorien, kein Sorgengrund. Im Gegenteil, Konflikte müssen ausgetragen werden. Sie treiben den sozialen Wandel an und bürgen dafür, dass soziale Verhältnisse offen und „unvernäht“ bleiben, dass sie also niemals restlos verhärten und zur alternativlosen Faktizität gerinnen. Aber Hegemony offeriert, drittens, nicht bloß eine Kontingenz- und Konflikt-, sondern auch eine Ordnungstheorie. Politische Artikulationen, antagonistische Grenzziehungen und diskursive Hegemonialwerdungen hinterlassen Spuren, sie schaffen dort Ordnung, wo zuvor keine war. In gramscianischer Tradition konstituiert sich die Ordnung des Sozialen durch hegemoniale Artikulationen. Gelingt es einem Diskurs, seine partikularen Gehalte in umfassende Sinnhorizonte auszudehnen, dann vollendet sich die Bewegung der Hegemonie. Eine partikulare Macht hat sich den Schleier universeller Objektivität umgeworfen. Denken wir nur daran, wie das Projekt der sozialen Marktwirtschaft seit der Nachkriegszeit zum selbstverständlichen common sense aufgestiegen ist und mittlerweile die natürliche und gerechte Ordnung der Bundesrepublik in fragloser Weise symbolisiert.

Hegemony inauguriert auf diese Weise eine Perspektive, die Oliver Marchart in seiner Studie Die Politische Differenz (2010) als Postfundamentalismus popularisiert hat. Ihr geht es nicht darum, alle sozialen Fundamente aufzulösen, sondern darum, die strittige und umkämpfte Natur jedes Fundaments in den Vordergrund zu stellen. So denkt Hegemony die Kontingenz und Konflikthaftigkeit des Sozialen und das Moment der Ordnung (= Hegemonie) als zwei Momente einer Bewegung. Keine Hegemonie ohne Kontingenz, keine Kontingenz ohne Hegemonie!, so könnte der sozialontologische Grundsatz Laclaus und Mouffes lauten. In dieser Pendelbewegung zwischen Kontingentwerdung und Ordnungsstiftung tritt die gründende Kraft des Politischen zutage: Das Politische ist der unaufhörliche und letztlich stets scheiternde Versuch, das Grundlose mit einem Grund auszustatten. Kurz: Das Politische ist das Moment der Instituierung des Sozialen.

 

III    Das politische Projekt der radikalen Demokratie

Schon der Buchtitel Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics verrät, dass wir hier nicht vor einer Theorieoption stehen, die als teilnahmslose „Beobachtung aus dem Krähennest“ (Luhmann) antritt. Laclaus und Mouffes Grundthese, dass alle sozialen Verhältnisse politisch gestiftet werden, ist mehr als bloß eine theoretische Verlautbarung. Vielmehr ist sie ein Plädoyer für eine Form der Politik „which is founded not upon dogmatic postulation of any ‘essence of the social’, but, on the contrary, on affirmation of the contingency and ambiguity of every ‘essence’, and on the constitutive character of social division and antagonism” (193).

Nur dem Projekt einer radikalen und pluralen Demokratie kann es, so Laclau und Mouffe, gelingen, aus dem Plädoyer für Kontingenz und Konflikthaftigkeit ein politisches Projekt zu schmieden. In der Idee einer radikalisierten Demokratie bündeln sich gleichsam die Emanzipationsbemühungen von Vergangenheit und Gegenwart. Zum einen wird durch das Projekt der radikalen Demokratie die Tradition der demokratischen Revolutionen der Moderne – von der englischen, über die französische und amerikanische bis hin zur russischen Revolution – fortgesetzt und vertieft. Radikale Demokratie zu fordern heißt, die revolutionären Forderungen nach Freiheit und Gleichheit in allen Gesellschaftsbereichen verwirklichen zu wollen. Zum anderen verstehen Laclau und Mouffe in Hegemony das Projekt der radikalen Demokratie als den allgemeinen Nenner politischen Emanzipationsströmungen. Ob Frauen-, Bürgerrechts-, Schwulen- oder Studentenbewegungen, sie alle sind radikaldemokratische Bewegungen. Ihr Plädoyer für Gleichheit, Mitbestimmung oder Umverteilung partizipiert in je spezifischer Weise an der radikaldemokratischen Forderung nach Beseitigung von Unterdrückungs- und Ungleichheitsverhältnissen.

Für Laclau und Mouffe läuft jeder Versuch, das emanzipatorische Potential des Sozialismus für die Zukunft zu erhalten, über seine Reformulierung als Projekt der radikalen Demokratie. Der Sozialismus ist nicht ohne Demokratie zu haben. Für die Autoren versteht sich von selbst, dass das radikaldemokratische Projekt klassische antikapitalistische (bzw. kapitalismuskritische) Komponenten enthält. Indes geht das Projekt der radikalen Demokratie über sozialistische Politik im engen Sinne hinaus: Radikaldemokratische Politik hört beispielsweise nicht bei der Forderung auf Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf, sondern plädiert dafür, den ökonomischen Gesamtkreislauf von Produktion, Distribution und Konsumtion demokratischen Entscheidungen zu unterwerfen. Allerdings ist bei der inhaltlichen Ausbuchstabierung des Projekts der radikalen Demokratie Vorsicht geboten. Hegemony möchte kein Rezept für die gute und richtige Gesellschaftsordnung liefern, sondern einen politischen Horizont profilieren, dessen Realisierung und Ausgestaltung Sache politischer Praxis ist. Die einzige Vorgabe, die Hegemony an radikaldemokratische Politik stellt, ist, dass sie die Vorstellung einer mit sich versöhnten und ein für allemal befriedeten Gesellschaft aufgibt. Demokratische Politik muss die Kontingenz und Konflikthaftigkeit sozialer Verhältnisse aushalten, mehr noch, sie muss Kontingenz und Konflikt immer wieder zutage fördern.

Vielleicht gründet der Klassikerstatus von Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics gerade in dieser Aufforderung, das Soziale als ein unsicheres Terrain von Kämpfen und Machtverhältnissen zu denken, dem sich keine Gesellschaftstheorie, keine Ontologie und kein politisches Projekt entziehen kann. Machen wir uns die hegemonietheoretische Perspektive von Hegemony zu eigen, dann werden Theorie, Ontologie und Politik allesamt zu einem dirty business, der im antagonistischen und hegemonial verfassten Grund des Sozialen geradezu seine Möglichkeitsbedingung hat. Es gilt der Appell Wittgensteins: „Wir sind auf Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“

 

Conrad Lluis Martell lebt in Barcelona und arbeitet an einer Dissertation über „Die Bewegung der Empörten“ im Kräftefeld der spanischen Zivilgesellschaft und Politik. 

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