Fassaden der Gerechtigkeit? Macht und Gewalt in der US-Philosophie

Dass die philosophische Disziplin – inklusive der Moralphilosophie – ihren abstrakten ethischen Imperativen in der Realität oft ebenso wenig gerecht wird wie den Antidiskriminierungsgeboten zeitgemäßer Arbeitsumfelder, ist nicht neu: Für den in solchen Belangen ja angeblich sogar aufgeklärteren US-amerikanischen Raum dokumentieren und diskutieren seit Jahren Blogs wie Feminist Philosophers und What is it like to be a woman in philosophy Missstände unterschiedlichen – manchmal altvertrauten, aber oft erschreckenden – Ausmaßes. Obwohl diese Mängel eine Reihe von Minderheiten betreffen, haben feministische AktivistInnen hier eine Wortführerrolle für unfair behandelte Gruppen übernommen: Es scheint nämlich , als würden gerade im Geschlechterverhältnis immer wieder eklatante Verletzungen von individueller Würde, basaler Berufsethik – aber durchaus auch der bestehenden Gesetzeslage zu sexueller Gewalt begangen werden. Die Täterschaft von Männern in etablierten Machtpositionen ist dabei eine Konstante; und Wissenschaftlerinnen in direkten und indirekten Abhängigkeitsverhältnissen werden immer wieder zur leicht verfügbaren Zielscheibe.

Soweit ist das jenseits wie diesseits des Atlantiks nichts Neues; und in ihrer ernüchternden Vorhersehbarkeit werden die erwähnten kleinen Vignetten selten außerhalb der feministisch-akademischen Blogosphäre wahrgenommen: Steter Tropfen höhlt hier keinen Stein; die Blogs haben viel zur Problemwahrnehmung der Betroffenen und auch so manch jüngerer Kollegen beigetragen, aber sicher keinen Kulturwandel in der Disziplin bewirkt. Für mehr Aufmerksamkeit bedarf es offenbar handfester Skandale unter Beteiligung hochkarätiger Prominenz. Ein neuer Vorfall, der auch etwa zu Brian Leiter und Daily Nous durchgedrungen, ist, bestätigt dies. Und dies nicht allein, weil er mit sexueller Belästigung und gescheiterten universitätsinternen Klagen zu tun hat, sondern vor allem, da sein (nicht explizit benannter) Protagonist einer der prominentesten Ethiker der Politischen Philosophie ist.

Wie Feminist Philosophers rekapituliert, hat eine junge Wissenschaftlerin einem der ganz Großen im Feld der Global Justice die sexuelle Ausnutzung seiner Machtposition vorgeworfen (auch hier). Die Gegenvorwürfe an die Autorin erschienen prompt – wie so oft in den anonymen Kommentarspalten: jugendliche Naivität, Querulanz und, auf der Sachebene, Unterschreitung der Illegalitätsschwelle. So hätte die Debatte wieder einmal enden können, hätten sich nicht andere Betroffene zu Wort gemeldet – unter anderem eine Philosophin, die in einem direkten Betreuungsverhältnis mit besagtem Professor stand, Vorwürfe der versuchten Vergewaltigung (und der darauf folgenden beruflichen Abstrafung) erhebt und somit sowohl inneruniversitäre Regeln als auch staatliche Gesetze für verletzt erklärt.

Die neuen Vorwürfe gegenüber dem Ethiker beweisen dabei eben nicht, dass nur Illegalität sanktionierbar ist und die rechtlich nicht unbedingt relevanten Vorwürfe sexueller Ausnutzung hinfällig sind; sie veranschaulichen vielmehr ein weiteres Mal, dass, wenn auch sicher nicht jeder frauenverachtende Chauvi gleich ein Missbrauchstäter ist, gerade in machtgeprägten, hierarchischen Strukturen das Spektrum zwischen harmlos flirtgeprägtem Abhängigkeitsverhältnis und sexuellem Übergriff fließend ist – und gern auch in ganzer Breite genutzt wird. Vom Parnass der academia aus erscheint die Schar junger Anwärterinnen zu Füßen des Gipfels manchen offenbar wie eine Selbstbedienungstheke. Konsequenzen scheinen nicht zu drohen. Der eigentliche Skandal ist dabei also nicht das klägliche Verhalten Einzelner, sondern das duldsame System, das dieses erst möglich macht und an der Geheimhaltung der Vorwürfe beteiligt ist.

Auch die Vorwürfe des Übergriffs durch die Studentin wären wohl im Sand verlaufen, zumal das interne Verfahren in Yale abgeblockt wurde: Die Betroffene geisterte 2011 lediglich als Case No. 2 durch die Campuszeitung.

Doch überraschenderweise zeigt sich nun so etwas wie eine philosophische Community, die nicht kollektiv schweigt. Dass der betreffende Professor nicht nur unethisch handelt, sondern offenbar schon mit mindestens zwei Verfahren wegen sexueller Übergriffe zu tun hatte und dennoch mit intaktem Renommée durch die Ivy League tourt, scheint vielen doch zu weit zu gehen. Für den Rechtsbeistand der Anklägerin wird sogar der Geldbeutel gezückt: Als materielle Unterstützung, aber vor allem als Signal des Beistands – und zwar nicht im schützenden Schatten der Anonymität, sondern unter Nennung des eigenen Namens. Eric Schliesser hat beispielsweise seine persönliche Spende mit einem Blogpost reflektiert. So transformiert sich eine Solidarität namenloser Unterstützung derer, die Angst vor der Abstempelung als troublemaker haben müssen, in die aktive, bekennende Stellungnahme solcher, die es sich leisten können, offen zu sprechen. Denn so, wie die Dinge liegen, sind wahrscheinlich sie es, die am ehesten einen Wandel der Fachkultur bewirken können.

 

 

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