theorieblog.de | Wiedergelesen: Die Geschichte vom Kampf der Giganten: Karl Polanyis „Great Transformation“

28. April 2014, August

Wiedergelesen-Beitrag zu: Karl Polanyi: The Great Transformation. Foreword by Robert M. MacIver. Farrar & Rinehart: New York 1944. (Dt. von Heinrich Jelinek: The Great Transformation. Politische und Ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. 10. Aufl. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2013 [1978].)

 

Karl Polanyi erzählt die Geschichte eines Kampfes zwischen Markt und Gesellschaft. Es fällt daher nicht schwer, die Aktualität seiner inzwischen klassischen Analyse der liberalen Marktwirtschaft zu behaupten: Wie in den 1920er Jahren hat auch die Weltwirtschaftskrise seit 2009 unübersehbar gemacht, was sich im Prinzip vorher anbahnte. Die neoliberale Wende lässt sich als eine „Revolution der Reichen gegen die Armen“ an, in der alles zur Ware wird, während der Staat die vermeintlich freie Marktwirtschaft aufrechterhält. Dabei erscheint inzwischen „kein privates Leid, keine Verletzung der Souveränität […] als ein zu großes Opfer“ für die „Wiederherstellung monetärer Bonität“. – Die Kritik des heutigen Wirtschaftssystems funktioniert bestens im Vokabular Karl Polanyis.
Allerdings schreibt Polanyi mit seiner 1944 erschienenen Studie über die „große Transformation“ eine Geschichte der liberalen Marktwirtschaft, die Ökonomie, Soziologie und politische Theorie in einer Zeitdiagnose bündelt, die keine Aktualisierung vorsieht. Der Liberalismus habe die Gesellschaften des 19. Jh. zerstört, den Faschismus ermöglicht und im Zweiten Weltkrieg endgültig sein Ende gefunden. Mit dieser letzten Prognose lag Polanyi freilich falsch, aber auch seine Geschichte der Marktwirtschaft wurde schon in den ersten Jahren nach Erscheinen des Buches zerlegt: Chronologische Ungenauigkeiten, klare Überschätzungen bestimmter Reformeffekte und 4.000 Jahre Preis- und Marktgeschichte sprachen gegen Polanyis These vom Aufstieg und Fall der Marktgesellschaft zwischen 1830 und 1930. Man könnte auch sagen: „his history is hopelessly mistaken“.
Dieser widersprüchliche Befund ist Grund genug zu fragen, ob sich aus seiner Analyse weiterhin etwas lernen lässt. Mein Vorschlag ist, dass uns weniger Polanyis konkrete Geschichte der Marktwirtschaft als seine kaum beachtete wissenssoziologische Methode in den gegenwärtigen Herausforderungen weiterhilft. Diese verweist nicht nur auf die Relevanz aktueller Krisennarrative, sondern macht auch auf deren neuralgische Punkte aufmerksam. Doch zunächst wäre zu klären, worin eigentlich diese sprichwörtlich gewordene Great Transformation besteht.

 

Liberalismus: Der Kampf zwischen Markt und Gesellschaft

Entgegen der Suggestion des Titels spannt sich Polanyis Ursachensuche für den zivilisatorischen Kollaps zwischen zwei großen Transformationen auf: Beginn und Ende der liberalen Marktwirtschaft, deren Geburtsfehler zugleich der Grund für ihren Untergang gewesen sei.
Für Polanyi stellt der Liberalismus ein „neues Glaubensbekenntnis“ dar, das „alle menschlichen Probleme […] durch das Vorhandensein einer unbeschränkten Menge materieller Güter“ lösen wollte. Dies bedeutete zwangsläufig, dass menschliche Arbeit, die natürlichen Gegebenheiten des Bodens und das Symbol Geld güterförmig gemacht und in Waren transformiert werden mussten. Die Durchsetzung dieser Warenfiktion führte für Polanyi zu einer „katastrophalen Erschütterung des Lebens der einfachen Menschen“, in der ihre sozialen Beziehungen zersetzt und neu am Markt ausgerichtet wurden.
Neben Anfangs- und Schlusspunkt fängt der Prozessbegriff „Transformation“ also die permanente Umwälzung ein, die der Liberalismus der Gesellschaft in seinem Willen zur Intensivierung und Ausbreitung ‚antut‘. In traditionellen Ökonomien sei der Tausch von Waren stets durch soziale Fragen um Prestige, Werte und Selbsterhalt motiviert gewesen. Die Idee der Marktwirtschaft habe mit dieser gesellschaftlichen Einbettung der Ökonomie gebrochen und die Menschen aus dem Schutz ihrer soziokulturellen Verwurzelung gelöst.
Diese Rodung sei aber nicht folgenlos geblieben. Weil sich die Ökonomie gegen die Grundlagen der Gesellschaft wandte, brachte diese laut Polanyi immer neue Schutzmechanismen hervor. Gegen den liberalen Arbeitsmarkt wehrte sich die Gesellschaft mit umfangreichen Sozialgesetzgebungen, gegen den Freihandel wurden Schutzzölle für bestimmte Wirtschaftszweige erlassen und gegen den Goldstandard, der regelmäßig zur Abwertung der nationalen Währungen führte, entstanden Zentralbanken, die die nationale Wirtschaft protegierten.
Diese charakteristische Doppelbewegung der Marktgesellschaft führte laut Polanyi in eine „Sackgasse“: Zum einen reagierte der Staat auf die Marktutopie mit immer neuen Protektionen, die im Widerspruch zum liberalen Außenhandel standen. Ein „abgekapselte[r] Typus der Nation“ geriet in Spannung zum internationalen System. Zum anderen wurde dies durch die Polarisierung der sozialen Akteure unterfüttert: Die Arbeiter verteidigten die nationale Politik, die Großunternehmer die internationale Ökonomie. Die marktliberale Trennung von Ökonomie und Politik führte letztlich dazu, dass beide aufeinander losgingen. Hierfür habe der Faschismus einen Ausweg geboten, indem er die gesellschaftliche Einheit zum Programm erhob.

 

Ökonomische Erzählungen: Polanyi als Wissenssoziologe

Karl Polanyis Detailstudie ist aber keine bloß historische Betrachtung. Der Titel der britischen Erstausgabe, Origins of Our Time, macht klar, dass das Buch seine Gegenwart erklären und daraus die Konsequenzen für eine soziale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ziehen will. Neben die historische Frage ‚Warum zerfiel das 19. Jahrhundert?‘ und die Antwort ‚Wegen der selbstzerstörerischen Effekte des Liberalismus‘ rückt in dem Buch daher eine zweite Frage: Wie war es überhaupt möglich, dass sich der Liberalismus als normative Leitvorstellung durchsetzen konnte, wenn er doch so viel Elend mit sich brachte? Oder anders: Warum machen die Menschen das mit?
Polanyis Antwort auf diese Frage richtet den Blick auf die Gesellschaft als ein Erzählsystem. Freilich findet sich dieser Begriff nicht in seinem Buch, wohl aber die Vorstellung, dass die narrative Interpretation von Vergangenheit und Gegenwart maßgeblich die strukturelle Organisation der Zukunft bestimmt. Die allgemeine Anerkennung der Erzählung hängt für Polanyi dabei von drei Faktoren ab: der Situationsbeschreibung bei den Arbeitern, einer plausiblen Deutung dieser Situation, die alle Faktoren integrieren kann, und einer dazu passenden attraktiven Alternative. In dieser Hinsicht ist die liberale Erzählung für ihn ein Meisterstück: Immer wenn das soziale Elend noch größer wurde und der Staat mit Sozialgesetzgebungen gegensteuerte, setzten die liberalen Ökonomen auf einen „Mythos [!] von der antiliberalen Verschwörung“, der die staatlichen Interventionen als den eigentlichen Grund für die sozialen Missstände verkaufte. Da die Arbeiter das zeitliche Zusammentreffen von Intervention und Elend beobachteten und vom Staat mehr und mehr enttäuscht waren, wandten sie sich der liberalen Deutung und seiner Alternativerzählung zu. Nach dieser ist es die natürliche Eigenschaft des Menschen, nach Profit zu streben, die – sobald der Staat sich einmal zurückgezogen habe – in ein ebenso natürliches Gleichgewicht mit wachsendem Wohlstand für jeden Einzelnen münde.
Für seine eigene Gegenwart befürchtete Polanyi, dass dieser narrative Coup des Liberalismus „im Wettbewerb der Argumente weiterhin seine Position halten“ und Organisationsprinzip der Gesellschaft bleiben würde, wenn „diese Meinung nicht widerlegt wird“. Die Möglichkeit einer Neuordnung nach dem Krieg hing also davon ab, die liberale Erzählung zu dekonstruieren und für die Deutungsmacht der eigenen Erzählung zu sorgen. In diesem Sinne stellt Karl Polanyis Geschichte vom Kampf der Giganten Markt und Gesellschaft die Marktwirtschaft als Auslöser der Schutzbewegungen an den Beginn. Er fügt der liberalen Argumentationskette also lediglich ein Glied an und invertiert damit die Rollen der Akteure: Jetzt intervenierte zuerst die Marktwirtschaft mit ihrer Warenfiktion in die Gesellschaft und forderte die staatliche Durchsetzung des Marktes. Erst gegen diese systematischen marktliberalen Interventionen habe sich die angegriffene Gesellschaft zwangsläufig und unkoordiniert zur Wehr gesetzt, was dann durch die gestörte Selbstregulierung des Marktes automatisch zum Kollaps führte.
Schließlich nimmt Polanyi auch die liberale Metaphorik des Organischen und Natürlichen auf und verkehrt diese: „Nichts war natürlich an der Praxis des Laissez-faire“, sondern sie „applizierte“ dem „Gesellschaftskörper künstliche Anreize“. Nicht mehr – wie in liberalen Texten – ‚Doktor Staat‘, sondern die Marktwirtschaft nimmt nun eine „Vivisektion des Gesellschaftskörpers“ vor. Für seine eigene Erzählung ‚recycelt‘ Polanyi also sowohl die Argumentationskette als auch die Symbole der liberalen Erzählung. Stimmt seine Analyse, waren diese ja schon in den Köpfen der Menschen verankert, sodass seine Neubewertung der Geschichte für ein breites Publikum potenziell anschlussfähig wurde.
Dass Polanyi auch bis heute in immer neue Kontexte eingebettet werden kann, liegt vermutlich nicht zuletzt an dieser Anschlussfähigkeit und Zitierbarkeit von Argumentation und Metaphorik. Im Kampf um die Neustrukturierung der sozialen Ordnung nach dem Krieg aber sollte dies seinem Vorschlag Nachdruck verleihen, die Warenfiktionen und die Idee monetärer Souveränität aufzugeben, um Lohnhöhe, Lebensmittelpreise und Geldpolitik zu öffentlich zu entscheidenden Fragen zu machen. Der Liberalismus hatte versagt und sollte abdanken – dafür musste dieser seiner Erzählung beraubt werden.

 

Aus Polanyis Erzählung lernen: Vier Problemfelder

Die Konstruktionslogik von Polanyis eigener Erzählung folgt seiner zentralen Einsicht, dass Erzählungen der Vergangenheit Orientierung für das politische Handeln der Gegenwart geben und damit die soziale Struktur der Zukunft vorprogrammieren. Dem unterschwelligen Determinismus „Idee = Struktur“ kann man sich getrost entziehen – er ist Teil von Polanyis Erzählstrategie. Die grundsätzliche Einsicht in die konstruktive Kraft von Narrativen ist aber auch für die Krisen- und Lösungsnarrative unserer Gegenwart mehr als relevant. Die kritische Lektüre der Great Transformation legt uns zusätzlich einige problematische Punkte nahe, denen es in diesen aktuellen Erzählungen nachzuspüren gilt.
Da wäre zunächst die narrativ hergestellte Trennung von Ökonomie und Politik. Für Polanyi wird sie zwangsläufig zu einer strukturellen Realität mit katastrophalen Folgen. Interessanter für die Gegenwart wäre eher, inwiefern und mit welchen Interessen sich Unternehmen und öffentliche Institutionen dieses Narrativs bedienen oder es zumindest unterschwellig reproduzieren. Thomas Biebricher und Frieder Vogelmann haben kürzlich nahegelegt, dass Nationalstaaten schon länger „schlicht kein Interesse zeigen“, ihren Machtanspruch gegenüber den Finanzmärkten anzumerken, geschweige denn auszunutzen. Die große Sorge Polanyis um die Wirkmacht der liberalen Erzählung könnte zumindest Biebrichers und Vogelmanns Verdacht stützen, dass insbesondere die ordoliberale Erzählung im Hintergrund der zwanglosen Kapitulation von Parteien und Regierungen steht.
Ihr Beitrag und Polanyis Analyse verweisen jedoch noch auf einen anderen Akteur, und zwar den Theoretiker. Folgt man dieser Suggestion, wäre nämlich zu fragen, inwiefern und warum die Trennung von Ökonomie und Politik auch in der aktuellen Demokratietheorie weitergetragen wird. Diese ist insbesondere in Deutschland und, darauf verweisen Vogelmann und Biebricher, in der Folge von Jürgen Habermas in der Tat weit entfernt von einer Verbindung von ökonomischer und politischer Theorie. Vielleicht wäre aber gerade diese Anstrengung für eine kritische Analyse der Gegenwart nötig.
Eng damit verwoben ist ein zweites Problemfeld, nämlich der Bürgerbegriff. Polanyis Begriff des Bürgers läuft im Prinzip darauf hinaus, ihn mit dem Arbeiter zu identifizieren. Besonders deutlich wird dies, wenn er das Recht „auf Arbeit unter akzeptablen Bedingungen“ als oberstes Bürgerrecht einfordert. Die angemahnte Anerkennung der Verflechtung von Ökonomie und Politik gerät in Polanyis eigener Erzählung durch die Verkürzung des Politischen potenziell aus dem Blick: Obschon Figuren wie ‚der Staat‘ in seiner Analyse auftauchen, spielen doch die Handlungen und Handlungsoptionen verschiedener politischer Akteure kaum eine Rolle. Analytisch hat dies auch den Nachteil, dass sowohl Anforderungen als auch Einflussmöglichkeiten der Menschen nicht angemessen ausgelotet werden können, solange diese weiterhin in Konsumenten, Arbeiter, Bürger etc. getrennt werden, anstatt die angestellten Einzelanalysen erneut in Bezug zu setzen.
Drittens wäre die Begriffspolitik um den Liberalismus zu hinterfragen. Auch hier lässt sich mit dem Wissenssoziologen Polanyi gegen den politischen Theoretiker Polanyi argumentieren: Die Pauschalkritik des liberalen Denkens geht nur auf, solange man Polanyis Konzept eines rein ökonomischen, gesellschafts- und politikfernen Liberalismus folgt. Wie Matthias Bohlender bereits bemerkte, lässt sich nur dann alles nicht-ökonomische Handeln als eine Reaktion der Gesellschaft verstehen, sodass die Geschichte als eine Konfrontation von liberaler Marktutopie und gesellschaftlichen Realität erzählt werden kann. Diese Giganten stellen sich aber bei genauerem Hinsehen vielfältiger dar als Polanyi sie gezeichnet hat, und ihr Kampf ist dann nur eine Variante ihres Zusammenlebens. Auch für die gegenwärtigen Diskurse wäre daher die häufig pauschale Disqualifizierung oder Verengung des Liberalismus zu hinterfragen, ideengeschichtlich eine facetten- und spannungsreiche Theoriefamilie freizulegen und die Relevanz ihrer normativen Bestände zu prüfen.
Schließlich legt der wiederholte Blick auf die Probleme, die Polanyis Erzählung mit sich bringt, eine Forschungsstrategie nahe, die mehrere Narrationen auseinandernimmt und auf ihre Konsequenzen befragt. Auf diese Weise lässt sich ein Arsenal an Analyse- und Handlungsoptionen erarbeiten, statt an einer starren Perspektive festhalten zu müssen. Dabei zerstört Polanyi aber selbst die Hoffnung, über die Dekonstruktion von Rhetorik und Beweisführung zu einer einzigen gültigen Wahrheit zu gelangen: „Macht und wirtschaftlicher Wert [sind] Musterbeispiele gesellschaftlicher Realität. Sie entspringen nicht dem menschlichen Willen, und man kann sich ihnen nicht entziehen“. Gerade deshalb ist es laut Polanyi aber notwendig, attraktive Erzählungen zu entwickeln, wenn man denn eine gesellschaftliche Wirkung erzielen will. Dass es sich dabei um Konstruktionen handelt, die regelmäßig zu überprüfen und neu zu verhandeln sind, ließe sich ja ergänzen.

 

Vincent Rzepka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kürzlich erschien sein Buch „Die Ordnung der Transparenz. Jeremy Bentham und die Genealogie einer demokratischen Norm“.


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