theorieblog.de | Wiedergelesen: Politische Theorie des Besitzindividualismus

3. März 2014, Huhnholz

Wiedergelesen-Beitrag zu C. B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke, Oxford UP 1962 (dt. v. Arno Wittekind, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973).

 

Dieses Hauptwerk des kanadischen Politologen Macpherson (1911-1987) kann als Idealtyp einer Klassikerrezeption gelten, die ihrerseits den Status des Klassikers erlangte. Das gilt nicht allein für die Leitthese, nach der die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert eine „politische Theorie des Besitzindividualismus“ hervorgebracht hätten, in der der noch naturrechtlich beeinflusste Anspruch auf Leben schrittweise als individualistisches Eigentumsrecht interpretiert und schließlich auf die Tätigkeit des Arbeitens übertragen werden konnte, sodass im Effekt Arbeitskraft aufgewertet, Privateigentum legalisiert und individuelle Widerstandshandlungen gegen Willkür aller Art legitimiert werden konnten.

Der Klassikerstatus gebührt Macpherson auch, da er zumal John Lockes Werk weniger erläutert als es vielmehr zwischen dem Hobbes’schen Absolutismus und dem Harrington’schen Republikanismus so kontextualisiert, dass klarer wird, was der angeblich legitime Stammvater des demokratischen Liberalismus alles noch nicht sein konnte – z.B. Demokrat, Gründer, Liberaler. Paradigmatisch dafür sind Aussagen wie die, historisch habe niemand länger unter Liberalismus zu leiden gehabt als Locke, oder der Aphorismus Macphersons, dass die noch heute hegemoniale Rezeption, nach der Locke „ein ‚Demokrat des Mehrheitsprinzips’ gewesen [sei], alle Beweise dafür [übersehe], daß er überhaupt kein Demokrat war.“

 

Von Hobbes zu Locke?

Nun ist das ideenhistorische Wunschdenken, das Rückprojizieren und Eingemeinden politisch innovativer Gedanken Unterpfand politischer Theorie. Insofern können historische Kritiken nicht entkräften, dass Locke ein Liberaler sein soll, das heißt: ein Verfechter der Idee, soziale Beziehungen seien letztlich Tauschbeziehungen und damit marktanalog.

Jedoch – Macphersons Buch ist keine Biographie zu Locke. Schon der Untertitel kündet von einem Prozess von Hobbes zu Locke. Just darin liegt ein Motiv der Aufnahme Macphersons in den Kanon der hiesigen Wiedergelesen-Sparte: denn was bedeutet „von … zu …“ eigentlich? Die mit dem berühmten Untertitel suggerierte ideenhistorische Transition von Hobbes zu Locke ist so gängig geworden, dass man vergessen könnte, dass Macpherson eine ideenpolitische Transposition beschreibt. Denn es geht nicht darum, Hobbes einmal mehr als Frühliberalen zu interpretieren, auf dem Locke über Umwege lediglich aufbaut. Macpherson vollzieht vielmehr nach, wie bei Hobbes ein frühliberales, staatlich geschütztes, egoistisches Lebensrecht kontraktualistisch begründet wird, im Zuge der englischen Bürgerkriegswirren des 17. Jahrhunderts zu Locke wandert, bei diesem aber in vertragstheoretisch umgekehrter Form ankommt.

Hobbes’ Vertragstheorie gründete auf der indirekten Konsequenz optionaler Wehrdienstverweigerung: War der Leviathan um des Lebensschutzes willen inthronisiert, durfte er seinen Untertanen das Opfer des Lebens nicht abverlangen – die Bürger schuldeten dem Staat Gehorsam, nicht Leben. In Anlehnung an die Levellers radikalisiert Locke diese politische Idee und transplantiert sie ins Ökonomische: Der Einzelne schuldet einem Staat nichts, der des Eigentumsschutzes wegen gegründet wurde. Folglich schuldet der Bürger auch keinem Staat Gehorsam, der die freie Aneignung und den Gebrauch von Eigentum ohne Zustimmung behindert. Locke also schlägt Hobbes’ Staatssouveränitätslehre mittels deren eigener Methodik und unterstellt seine Regierungslehre letztlich ökonomischen Zwecken. Dies ist, folgt man Macpherson (und ignoriert Polanyis Gegenstudie The Great Transformation (die in dieser Rubrik bald folgt)), der Beginn der Herrschaftsübernahme durch die liberalbürgerliche Marktgesellschaft.

Während also Hobbes’ Leviathan Eigentum erst begründet, in dem er es als Beiprodukt der vertraglichen Sicherheitsgarantien den einzelnen Vertragsunterworfenen fungibel macht, ist Lockes Eigentumsverständnis wieder vorvertraglich: Der Staat hat das Eigentum nicht zu schaffen, er hat es lediglich zu schützen. So wird ersichtlich: Das Wesen des bürgerlichen Staates selbst begründet sich hier, und es begründet sich in frühliberaler Opposition zum alten Aristotelismus und zum Klassischen Republikanismus. Denn „von Hobbes zu Locke“ wird zwar deutlich, dass Leben, Eigentum und Freiheit allesamt beginnen, individuelle Rechte zu werden. Doch wird dabei immer fraglicher, was der Staat sein soll: gesellschaftsermöglichende politische Herrschaftsform, sittlicher Verfassungs- und Lebenszusammenhang oder lediglich noch ein Rest- und Rechtskorsett seiner „Gesellschafter“ (lies: seiner Eigentümer).

 

Eigentumsmarktgesellschaft oder Frühkapitalismus?

Was im Nachhinein daher wirken mag wie ein ideenpolitisch interessanter historischer Streit um Details einer zukunftstauglichen Bürgerverbandsform, ist tatsächlich die materialistische Rekapitulation der Weichenstellung zum weltanschaulich liberalen Rechtsstaat. Hobbes hatte hemmungslos mit der alten Moralphilosophie gebrochen, wenn er die Schutzbedürftigkeit des Individuums zum bloß noch rationalen Eigeninteresse an staatlicher Autorität erklärte. Wie Macpherson allerdings im Laufe seiner Arbeit argumentiert, war damit der Boden bereitet worden, das Theorem der bei Hobbes primär körperlichen Schutzbedürftigkeit auszuweiten auf die Koordinierung diverser Interessen, die aufgrund von Knappheit, sozialer Ungleichheit oder Verderblichkeit in Konkurrenz stehen könnten. Wie der eigene Körper bei Hobbes als unverletzliches Eigentum definiert wurde, setzte Locke das Eigentum im Allgemeinen als ebenso unverletzlich an. Beide, Hobbes und Locke, bezogen von je dieser Position her das Maß individueller Rechte.

Das damit vorweggenommene Modell der „Eigentumsmarktgesellschaft“, so Macphersons Begriff, legte die Schwachstelle von Hobbes’ Vertragstheorie frei: Dauerprobleme waren nicht durch einen einmaligen Herrschaftsvertrag zu lösen, sondern nur durch die Überführung der staatsvertraglichen Souveränitätsgrundlagen in eine kontinuiert Recht sprechende Regierungsform. Mithin galt es Locke, die historische Entwicklung des 17. Jahrhunderts von der Monarchie zum Parlamentarismus theoretisch zu flankieren. Anders als von Hobbes beabsichtigt, sollten Einzelinteressen nicht mehr anthropologisch zementiert oder paternalistisch delegiert werden, sondern dauerhaft verhandelbar bleiben. Der Schutz des Lebens, den der dafür legitimierte Leviathan garantierte, wurde so zum Recht auf staatlich geschützte Verhandlung aller konkurrierenden Lebensführungsinteressen der Eigentümer.

Das hat etwa zur Folge, dass Hobbes Besteuerung nennt, was Locke schon als Enteignung gilt, und Bürgerkrieg, was für Locke Freiheit ist. Zu den wirkmächtigsten Konsequenzen von Lockes Eigentumstheorie zählt denn auch, dass sie unter dem Label der Freiheit einem Landnahmeimperialismus in der Neuen Welt das Wort redete, der für Hobbes nichts anderes als „Naturzustand“ war, also hemmungsloser Krieg der Stärkeren. Macpherson resümiert denn auch, dass es „die Besitzenden“ waren, die sich für die frühkapitalistisch „genehmere Doktrin Lockes“ entschieden statt für den demgegenüber politisch autoritären und sozial egalitären Abschöpfungs-, Selbstbegrenzungs- und Umverteilungsstaat des Leviathan. Zwischen Hobbes und Locke vollzieht sich mithin eine Transposition der für beide noch sehr neuen bürgerlichen Freiheitsidee vom Staatsrecht zum Bürgerrecht und von der feudalistischen Implosion zur liberalistischen Expansion. Damit aber vollzieht sich gleichursprünglich die liberale Kopplung aller Bürgerrechte an den Status, volles Mitglied einer eigentümersouveränen Tauschgesellschaft zu sein. Locke war geworden, was Marx erst den Physiokraten bescheinigte: erster „Dolmetscher des Kapitals“.

 

Vom Frieden zur Freiheit?

Entsprechend ist nun Macphersons Arbeit als eine zu lesen, in der Hobbes ein künstliches Eigentumsverständnis aus dem natürlichen Lebensinteresse des Einzelnen heraus argumentierte, es aber dem staatlich garantierten (inneren) Frieden unterordnete, wohingegen Lockes Ergänzung natürliches Eigentum vom Staat sofort wieder entfesselte und folglich nachvertragliche Freiheit als künstlich zu garantierenden Rechtsfrieden zwischen legitimen Eigentümern konturieren konnte. So wandelt sich der Staatszweck radikal von politischer Sicherheit zu ökonomischer Freiheit.

Das dahingehend von Macphersons Buch ausgehende Faszinosum ist offensichtlich: Seine von mehreren Ansätzen her konsistent erscheinende Argumentation hat für jeden etwas im Angebot. Eigentumstheoretiker aller Länder und Lager können aus dem Buch eine ideenhistorische Linie herauslesen, die von Hobbes über Locke bis zu Smith, Kant, Hegel, Marx, Proudhon und Nozick reicht. Revolutionshistoriker mögen erkennen, welche radikale Modernität das 17. Jahrhundert entfaltete. Selbst Liberalismuskritiker können Macpherson als einen der ihren lesen, zumal Souveränitätstheoretiker schnell erkennen, dass Macpherson dem Hobbesschen Souveränitätsverständnis ähnlich nahe steht wie Carl Schmitt, der Locke rundherum absprechen würde, eine demokratische Politiktheorie zu liefern, und ihm ja überhaupt attestierte, mehr die Nachhut mittelalterlichen Denkens zu bilden als die Avantgarde neuzeitlicher politischer Theorie zu vertreten.

Doch das Problem liegt noch tiefer. Hatte der Antiaristoteliker Hobbes gewissermaßen einen nüchternen und für Freiheit nicht eben empfänglichen Eigentumsbegriff entwickelt, wurde durch Lockes Ergänzung eine staatstragende Moralisierung protokapitalistischer Eigentumsgenerierung denkbar, da grundlegende Rechte nun ihrerseits als eine „Funktion“, so Macpherson, des Eigentums zu werten waren. Wenn Locke Aneignungsschranken aufhebt, gilt als legitimes Eigentum alles, was anderen freien Eigentümern nicht illegal genommen worden ist. Die Vermehrung des Reichtums und die Vermehrung der Freiheit wurden damit verwechselbar; die Fähigkeit und das Recht, Eigentum beliebig zu verwenden und ungehemmt zu vermehren, galten fortan als Leitwert des liberalen Freiheitsbegriffs. Damit wurde freilich auch Arbeit von einem ideenhistorischen Unwert und Inbegriff der Armut zu einer Norm individueller und kollektiver Nutzenmehrung. Mehr noch aber sah sich Kapital zur Naturgewalt erklärt, die gerade die liberale Staatsmaschinerie um ihrer selbst willen um jeden Preis zu schützen habe, ohne daraus noch Loyalitätsansprüche, Gemeinschaftsbande oder ethische Verpflichtungen gegenüber Ungleichen ableiten zu dürfen.

 

Befreien versus Liberalisieren?

So besteht Macphersons bleibende Leistung in zwei gewichtigen Kontextualisierungen. Die vielleicht wichtigste Einordnung bietet er, wo er zeigt, was Locke ablöste. Macpherson lässt keinen Zweifel daran, dass die von ihm verhandelten Vorläufer Lockes im englischen Revolutionszeitalter stets bemüht waren, adäquate Antworten auf drängende politische Fragen zu geben. Hobbes’ Souveränitätslehre reagierte auf den Bürgerkrieg, die Levellers versuchten, dem Besitzbürgertum Macht zu verschaffen, Harrington strengte sich an, ein Balancemodell für die englische Mischverfassung zu finden, das sozialen Ausgleich, Umverteilungserbrecht, Chancenfairness u.a. vorsah. Andernfalls, fürchtete Harrington, würde das in den Städten aufstrebende Kapitalbürgertum den gemäßigten Landadel verschlingen und eine Spaltung Englands in zwei Klassen begünstigen – eine heute als „Verschwinden der Mitte“ wieder häufiger und auch damals aus der Empirie abgeleitete Idee, die im 18. Jahrhundert David Hume aufgriff, im 19. schließlich Karl Marx.

Ausnahmslos alle Vorläufer Lockes also, so darf man Mapherson lesen, hatten versucht, die zunehmende ökonomische Spaltung durch politische Arrangements zu schlichten und dadurch den blutigen Revolutionszirkel des 17. Jahrhunderts in den Griff zu bekommen. Locke verzichtete darauf. Sein Werk wurde damit zur konsequentesten Legitimationstheorie frühkapitalistischer Appropriationsgelüste und lenkte die freigesetzten Aneignungsaggressionen in den Entlastungsraum der Neuen Welt.

Zweitens daher vermag Macpherson zu zeigen, warum mit Lockes Eigentumslehre nicht einfach eine liberal begründete Weltaneignung möglich war – mithin: Kapitalismus –, sondern die dazugehörige Staatslehre darüber hinaus einen hegemonialen Liberalismus hervorbrachte. Macphersons Locke liest sich wie ein weltanschauliches Virenprogramm, das im Zuge seiner Verbreitung nicht einfach expandiert, um Güter anzueignen, sondern zugleich den dazugehörigen Rechtscode der individualistischen Eigentumsmarktgesellschaft in den Ausbreitungszonen zurücklässt. Auch die dorthin verbrachte, neue Individualität aber würde, ganz so, wie sie selbst erzeugt worden war, durch Ausbeutung getragen, würde bald „von der Aufzehrung der Individualität der anderen erzeugt“.

Hier also kommt die tragische Bedeutung der politisch-ökonomischen Doppelsemantik von „befreien“ und „liberalisieren“ zum Tragen. Und erst hierin zeigt sich die politische Kraft des Liberalismus, der, weil Hobbes ihn von moralischen und theologischen Verpflichtungen entbunden hatte, gewissermaßen eine bürgerliche Geschichtsphilosophie ohne Heilserwartung hatte werden können, ein Programm ohne höhere Weihe, ohne soziale Verantwortung und ohne tieferen Zweck als den Selbstzweck. Das freilich kann nicht in Abrede stellen, dass, anders als es bei Macpherson zuweilen wirkt, der unbedingte Lebensschutz noch Voraussetzung und  Folge des Lockeschen Verständnisses war, ein Merkmal also, dass der spätere Liberalismus nicht nur in Ausprägung seiner ökonomistischen Theoriezweige allzu häufig wieder aufgab; und man muss darüber streiten, ob die mit Macpherson gut verstehbaren illiberalen Anteile des späteren Liberalismus direkt aus der Asozialität Lockescher Überlegungen resultieren, oder ob sie geradewegs im Widerspruch zu Locke stehen. Der aus Enttäuschung bald neokonservativ gewordene Liberale Francis Fukuyama jedenfalls hat den Code des Liberalismus nach seinem letzten großen Sieg hegelianisch „Ende der Geschichte“ genannt und ihm jene Selbstverschlingungsdynamik Tocquevilleschen Ausmaßes attestiert, in der die massenhaft erzeugte „Individualität“, so wieder Macpherson, „zugleich eine Negierung der Individualität“ nach sich ziehen musste. „Ja, wir sind alle Individuen!“, ruft ein Menschenchor in Monty Pythons Leben des Brian.


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