Wiedergelesen-Beitrag zu Ingeborg Maus: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp 2011.
Frankfurter Sozialwissenschaft ist ein weites Feld. Auch in „linker“ Auslegung darf sie nicht auf „Frankfurter Schule“ strikt nach Horkheimer oder Adorno verengt werden. Ingeborg Maus promovierte (1971) und habilitierte (1980) sich auch in Frankfurt und lehrte dort als Professorin für Politikwissenschaft bis zu ihrer Emeritierung (2003). Vier größere Publikationen liegen bislang vor. Die Aufsatzsammlung Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus (1986) treibt die Frage nach dem Verhältnis von Bürgerlicher Rechtstheorie und Faschismus (1976) weiter in die kritische Analyse der Rechtstheorie und Verfassungsstruktur der Bundesrepublik voran. Die neuere Sammlung überarbeiteter Aufsätze Über Volkssouveränität (2011) kehrt nun mit den positiven Resultaten der Monographie Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992) zur frühen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zurück. Ein zentrales Anliegen ist es dabei, die Demokratietheorie der Aufklärung gegen Schmitt und die Folgen zu aktualisieren.
Der Links-Schmittianismus formierte sich in den 60er Jahren neu. Otto Kirchheimer, Franz Neumann und die „andere“ Tradition „linker“ Juristen wurden wieder entdeckt. Schmitts scharfe Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie wurde neu gelesen und gegen die liberale Engführung der Bundesrepublik in Stellung gebracht. Während der sozialdemokratische Staatsdiskurs sich nach 1949 zunächst auf Hermann Heller bezog, knüpfte Maus mehr an Kirchheimer und Neumann an, die stärker von Schmitt geprägt waren. Von der Auseinandersetzung mit Schmitt ausgehend fand sie schon früh ihr zentrales demokratietheoretisches Thema.
Schmitt versuchte die Rezeption seines Werkes immer wieder intensiv zu steuern. Noch im hohen Alter suchte er auch die Korrespondenz mit Maus. Wohl mit keinem anderen Kritiker korrespondierte er über einen längeren Zeitraum derart intensiv und freundlich. In der Korrespondenz wirft er seine Stichworte „Politische Theologie“ und „Walter Benjamin“ zwar in das Ringen um die Tendenz der Arbeit. Maus ließ sich vom Charismatiker aber nicht einfangen und begegnete ihm niemals persönlich. Zu sehr missfielen ihr die theologischen Mucken feingeistiger Schmitt-Rezeptionen im Umkreis des Benjamin-Kultes.
Die Sammlung Über Volkssouveränität basiert „auf überarbeiteten, aktualisierten und zum Teil erheblich ergänzten Einzelbeiträgen“ (20) und ist monographisch lesbar. Maus verbindet differenzierte Argumente und pointierte Lesarten mit einer starken Linienführung und plädiert für einen interdisziplinären Anschluss der Politikwissenschaft an die Rechts- und Verfassungstheorie. Sie beginnt mit einführenden Darlegungen zu neueren Fehlrezeptionen der Volkssouveränität nach Schmitt und profiliert den konstitutiven Konnex von Freiheitsrechten und Volkssouveränität dann in mehreren Kapiteln. Sie kritisiert die „Resubstantialisierung“ der Grundrechte qua Trennung von Freiheit und Volkssouveränität und macht Schmitt für die Abspaltung der Grundrechte von der Volkssouveränität verantwortlich, die einen Pakt von Exekutive und Justiz gegen die Volkssouveränität initiierte. Man kann hier von einer idealisierenden Rekonstruktion sprechen, die eine Problemgeschichte jenseits des Selbstverständnisses der Akteure rekonstruiert. Dann trägt man die Brille Carl Schmitts, auch wenn man ihn niemals gelesen hat. Anders als klassische Ideengeschichtsschreibung rekonstruiert rationale Theoriegeschichte Idealtypen und Paradigmengeschichten. Obgleich Carl Schmitt Kant fast niemals erwähnt, kann er deshalb bei Maus als ein Vater der Legende auftreten, dass „Kant kein echter Demokrat“ (119) war. Hobbes, Kant und Schmitt werden in dieser Lesart zu geschichtsmächtigen Autoren, an denen die Geschichte und Zukunft der Demokratie hängt.
Im quantitativen Hauptteil „Zur Begründung von Volkssouveränität“ skizziert Maus dafür einen paradigmatischen Wandel „vom materialen Naturrecht des Mittelalters zum prozeduralen Naturrecht der Moderne“. Die scharfe Kritik an Fehlrezeptionen nach Kant präludiert dem positiven philosophischen Zentrum der Studien: der Auseinandersetzung mit Habermas. Lassen sich Kant und Hobbes im „nachmetaphysischen“ Paradigma als „Klassiker“ aktualisieren? Das geht nach Maus nur mit Habermas. Sie geht damit über den Rahmen der analytischen Rechtstheorie hinaus und betritt den Grundlegungsboden der Philosophie. Demokratie setzt Freiheit voraus. Ohne die Klärung dieser menschlichen „Natur“ ist keine vernünftige Demokratietheorie möglich. Maus nähert Kant und Habermas hier einander an und schließt sie kurz.
Von den „Perversionen“ Schmitts und der Bundesrepublik geht Maus also mit Habermas bis auf die Demokratietheorie der Aufklärung zurück. Die Aufklärung hat noch gewusst, dass Volkssouveränität nicht nach dem Modell der Fürstensouveränität zu denken ist und eine klare Trennung von Legislative und Exekutive erfordert. Grundrechte bedürfen der gesetzesförmigen Formulierung. Ein Durchgriff des Justizstaates und der Verfassungsgerichtsbarkeit installiert dagegen eine undemokratische „Gerechtigkeitsexpertokratie“. Justizstaat und Exekutivstaat wirken dann bei der Entmächtigung und Entmündigung des Volkes zusammen. Maus findet die Aufklärung der Demokratietheorie dagegen mit und auch gegen Habermas in der Demokratietheorie der Aufklärung. Deren Klassiker haben den liberaldemokratischen Konnex von Freiheitsrechten und Volkssouveränität noch richtig gesehen und wirksam formuliert. Die Depotenzierung der Volkssouveränität geht heute nach Maus mehr von der Justiz als von der Exekutive aus. Diesen Kampf gegen den Justizstaat gilt es mit scharfen Positionen und Begriffen im Rückgriff auf die „Klassiker“ zu führen. Über Volkssouveränität verteidigt mit „Volk“ und „Souveränität“ zwei problematische und flüchtige Größen. Maus rekonstruiert das reine Argument einer Theorie oder eines politischen Projekts. Zurecht stellt sie die Frage nach dem disziplingeschichtlichen Ort ihres Ansatzes. Weshalb schrieb sie, wie sie schrieb?
Das junge Fach der Politikwissenschaft lässt sich nach Ansätzen und Methoden, Debatten, Schulen und akademischen Orten historisieren. Die Historisierung der „Frankfurter Schule“ ist heute ein weltweites Großunternehmen. Das seinerseits fragwürdige und längst differenziert beschriebene Konstrukt einer „Frankfurter Schule“ reicht aber zur Erfassung der Gesamtkonstellation und intellektuellen „Szene“ bei weitem nicht aus. In der Frankfurter Politikwissenschaft wirkten lange beispielsweise auch Carlo Schmid, Iring Fetscher und Christian von Krockow. „Fetscher“ und „Habermas“ stehen für unterschiedliche Typen politischer Theorie und Ideengeschichte. Eine tiefenscharfe Konstellationsanalyse der Frankfurter Szene muss auch die eigenständige Ingeborg Maus und deren akademische Wirkung angemessen würdigen. Der historische Ort ihrer Demokratietheorie ist den Studien deutlich abzulesen. Vor 1968 rekonstruierte die deutsche Politikwissenschaft die Aktualität eines Theorieprojekts nicht derart emphatisch in neuerer Theoriesprache. In den 70er Jahren wäre die Theorie schwerlich so eigenlogisch und abstrakt ohne nähere Referenzen an „Soziologie“ und „Sozialgeschichte“ ausgekommen. Heute hat sich das empirisch-sozialwissenschaftliche Selbstverständnis des Faches weithin durchgesetzt. Wo das Eigenrecht der starken Theoriegeschichte kaum noch vernommen wird, möchte man die Akteure und Träger der Theorie sozialwissenschaftlich genauer sehen. Über Volkssouveränität ist die reife Summe gründlicher Theoriearbeit. Die Askese dieser Theoriegeschichte und disziplingeschichtlichen Schelte fachlicher Fehlentwicklungen lädt zu Betrachtungen über die „geistesgeschichtliche Lage“ der heutigen Politikwissenschaft ein. Der Idealismus der Theoriegeschichte tritt bei Ingeborg Maus deutlich hervor. Sie erinnert mit ihren glänzenden Studien und ihrem eindrucksvollen Gesamtwerk nicht nur an die Volkssouveränität, sondern auch an die Kraft einer Theoriegeschichte jenseits persönlicher Motive und Parteiungen.
Prof. Dr. Reinhard Mehring lehrt Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sein Beitrag entstand auf Bitten der Redaktion im Nachgang der umfänglichen Auswertung des Schriftwechsels zwischen Maus und Schmitt, die in Der Staat, Jg. 52 Heft 3 (2013) erschien.
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