Er galt als einer der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Großbritanniens und war in Deutschland dennoch nur einem – allerdings nicht unbedeutenden – Teil des Publikums bekannt. Stuart Hall, der am 10. Februar im Alter von 82 Jahren gestorben ist, war gerade im angelsächsischen Raum ein großer Inspirator ganzer Generationen von Kulturwissenschaftlern, für die Culture als Praxis keineswegs die kanonbeflissene Exegese der Klassiker bedeutete, sondern – mit den Worten von Raymond Williams – „a whole way of life“ darstellte. „Culture is ordinary“, diese Losung von Williams, der zusammen mit Richard Hoggart das „Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) an der Birmingham University gründete, war ein Leitmotiv der Cultural Studies. Diese ebenso weitverzweigte wie widersprüchliche Theorierichtung wollte auch die Niederungen der vermeintlichen Trivialkultur ernst nehmen und dabei die „Kunst des Eigensinns“ (Rainer Winter) der Rezipienten betonen. Die Cultural Studies schärften den Blick auch für die kreative und widerspenstige Kraft jugendlicher Subkulturen, während in den Hörsälen mitunter noch über Schundliteratur und Kulturverfall räsoniert wurde.
Hall, zunächst ein Mitarbeiter Hoggarts, gehörte zu den führenden Repräsentanten der zweiten Generation des CCCS. Mehr noch als die durchaus kulturkonservativen und zugleich der Arbeiterbewegung verpflichteten Literaturwissenschaftler Hoggart und Williams übte Hall Einfluss auch außerhalb der Universitäten aus. Nach 1956 gehörte der aus Jamaica stammende Soziologe zu den führenden Autoren der New Left Review, dem Hausorgan der Neuen Linken in Großbritannien. Der Sinai-Krieg und die Niederschlagung des „Ungarischen Volksaufstands“ waren der konkrete Anlass für die Herausbildung einer Linken, die sich weder dem sozialdemokratischen Reformismus noch der sowjetischen Orthodoxie verpflichtet fühlte. Eric J. Hobsbawms Autobiografie „Gefährliche Zeiten“ gibt ebenso wie Lin Chuns „Wortgewitter. Die britische Linke nach 1945“ Auskunft über die richtungsweisenden Fraktionskämpfe auf der Insel. Der junge Hall spielt hier eine zentrale Rolle. Den damaligen Protagonisten gelang ohnehin ein Kunststück, das hierzulande seinesgleichen sucht. Die New Left Review ist heute die internationale Zeitschrift der akademischen Linken und erreicht eine Leserschaft auch außerhalb der klassischen Zielgruppe. Und nicht zuletzt Halls in Marxism Today – einer der wichtigsten Theoriezeitschriften jener Jahre – erschienene Aufsätze analysierten entlang einer an Gramsci geschulten Perspektive den „autoritären Populismus“ der Ära Thatcher als ein Erfolgsmodell, das von der Linken zunächst verkannt wurde. Zu bequem war die Haltung einer linken „Avantgarde“, die den Anhängern des „Thatcherismus“ – eine Wortschöpfung, die Hall in dieser Debatte prägte – vor allem „falsches Bewusstsein“ attestierte. Hall interessierte sich aber für den „wahren“ Kern des Thatcherism – er wollte zeigen, warum dessen Anrufung „britischer“ Werte samt sinisterer Law-&-Order-Ideologie einem breiten Teil der Wählerschaft einleuchtete. Die Great Moving Right Show der Tories schritt energisch voran und zertrümmerte die Traditionen der working class, während die Labour Party in jenen Jahren mit ihrem erzlinken Wahlprogramm den „längsten Selbstmörder-Abschiedsbrief in der Geschichte“ verfasste.
Für nicht wenige anglophile Cultural-Studies-Anhänger in Deutschland, die in den frühen Achtzigern via Popkultur sozialisiert wurden, waren die Auseinandersetzungen in der britischen Linken prägend. Während weite Teile der deutschen Linken zu den Klängen vollbärtiger Barden der Friedensbewegung schunkelten, zeigte sich auf der Insel ein radikal anderes Bild. Klassenkampf war Pop. Und Pop war vor allem Stil. Musiker wie Paul Weller von The Style Council und andere Sozialisten in Savile-Row-Anzügen, das kannte man hierzulande nicht. Die Gegnerschaft zu Thatcher war auch ein popkulturelles Statement und die militanten Bergarbeiterstreiks in den Achtzigern wirkten somit auf das Festland. Platten, Zeitschriften, Fanzines und Filme stellten, wie Billy Bragg, auch hier die Frage: Which side are you on? Über „Subculture. The meaning of style“ schrieb Halls Mitstreiter Dick Hebdige; auch er ein Autor von Marxism Today. Die Texte der Cultural Studies waren die Werkzeuge zum Verständnis der politischen Dimension einer modernen Pop-Kultur – und der zwischen Marx und Miles (Davis) changierende Stuart Hall zählte als Theoretiker der Hybridität zu den exponierten Denkern, die es zu entdecken galt.
Hall hat seit den Fünfzigern eine umfangreiche Bibliographie erarbeitet, aber im klassischen Sinne kein „Werk“ hinterlassen. Sein Opus Magnum sind die vielfältigen Aufsätze und Arbeitspapiere, die er in Sammelbänden und Zeitschriften veröffentlicht hat, zuletzt in Soundings zum Beispiel über den Neoliberalismus. Auch sein berühmtes „Encoding-Decoding-Modell“, das die Bedeutung der abweichenden Rezeption betont, zeugte von dieser Kunst zur Reduktion. Als Professor an der Londoner Open University war er ein im doppelten Sinne medien-bewusster Intellektueller, der sich außerhalb des Hörsaals souverän bewegen konnte. Wer ihn in den Radio- und Fernsehprogrammen der BBC erlebte, konnte sich der warmherzigen Ausstrahlung dieses umfassend gebildeten Theoretikers kaum entziehen. Hall, ein „organischer Intellektueller“ par excellence, dozierte nicht staubtrocken über Race, Class & Gender und blickte wohl mit Ironie auf den Jargon der Dekonstruktion, der durch die bloße Aufrufung von Namen wie Derrida oder Deleuze dem dürftigen Gedankengang Bedeutungsschwere verleihen will. Halls Auseinandersetzungen mit Foucault, Althusser oder Gramsci waren dagegen bestechende Übersetzungsleistungen, die diese Theoretiker beispielsweise für die Fragen nach den kulturellen Identitäten in modernen Einwanderungsgesellschaften produktiv machte.
Stuart Hall berichtete in Interviews gerne über seine ungemeine Freude an der Lehrtätigkeit oder seine Leidenschaft für Musik, für Miles Davis zumal. Diese Leidenschaft war ein Hauptgrund, weshalb die Cultural Studies gerade unter seiner Ägide eine solche Kraft entwickeln konnten. Wenn Hall über „Multikulturalismus“ sprach, sprach er nicht über Forschungsberichte, sondern auch über seine eigene Biografie. Dass der Alltag und die eigene Biografie Wissensbestände eigener Gewichtung sind, musste ihm niemand erklären. Und die Behauptung, dass die Populärkultur nur den Kitt für den kulturindustriellen Verblendungszusammenhangs liefert, wäre aus der Perspektive der Cultural Studies alberner Snobismus. Wenn Hall über Jazz sinnierte, sezierte kein Professor eine ihm eigentlich fremde kulturelle Praxis. Hier reflektierte ein Liebhaber über seine Passion.
Dem Projekt der Cultural Studies sind nach dem Boom in den neunziger Jahren empfindliche Niederlagen nicht erspart geblieben. Dass Theorien zu Moden degradiert werden können, haben die Cultural Studies mit allen großen Strömungen gemein. Die Fallstricke der Identitätspolitik hat Hall ohnehin schon früh erkannt. Und dass das CCCS den Evaluierungsfetisch nicht überlebt hat, ist nicht ehrenrührig. Wer sich in den letzten Jahren mehrfach in Birmingham aufgehalten hat, musste jedoch die ernüchternde Erfahrung machen, dass die jungen Studenten der Sozial- und Kulturwissenschaften mit den Namen Hoggart, Williams oder Hall nichts anfangen konnten. Auch die Curricula der dortigen Universitäten folgen den Moden. Der Zwang zur Reproduktion der Lerninhalte, unter dessen Fuchtel die ausgiebige Reflexion des eigenen kulturellen Tuns nur stört, ist lediglich eine davon. Wer sich dem entziehen will, kann sich von Hall inspirieren lassen.
Selbst nachdem er sich aufgrund seiner Krankheit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, blieb Hall etwa in der Zusammenarbeit mit jungen Filmemachern noch agil. In „The Stuart Hall Project“, dem im vergangenen September in den britischen Kinos gezeigten eindrucksvollen Porträt, spielt auch Musik eine zentrale Rolle. Statt eines Buches sei die jüngst erschienene DVD des Films zur Einführung empfohlen. In Deutschland kommt dem Argument-Verlag das Verdienst zu, dass die Arbeiten von Hall auch der hiesigen Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Debatten auf der Insel wurden und werden hier allzu oft ignoriert. Die Redaktion von Das Argument hatte dagegen schon vor Jahrzehnten die Bedeutung der Arbeit des CCCS erkannt. Unlängst erschien mit „Populismus, Hegemonie, Globalisierung“ der fünfte Band der „Ausgewählten Schriften“, die einen vorzüglichen Überblick bieten.
Richard Gebhardt lebt und arbeitet in Aachen. Er war bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und forscht u.a. zur extremen Rechten, Ideologietheorie und zum politischen System der USA.
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