Unter der Überschrift »Wir wollen mehr Hannah Arendt wagen« hat Christine Landfried gestern am 4. Februar im Feuilleton der FAZ einen Artikel (derzeit hinter Paywall) veröffentlicht. In diesem wird unter Berufung auf Hannah Arendt eine Reform der Europäischen Union vorgeschlagen. Da ich mich in meiner Dissertation »Republikanismus und die Europäische Union« genau mit dieser Konstellation beschäftigt habe, möchte ich an dieser Stelle einige Anmerkungen zum Argument Landfrieds machen. Mein Einwand ist, dass der Versuch, eine politiktheoretische Perspektiven in den öffentlichen Europadiskurs einzubringen, zwar absolut begrüßenswert ist, die Art aber, wie Landfried mit Arendt als Blaupause und Legitimierungsinstanz umgeht, der analytischen Schärfe sowie den Intentionen von deren Denken gerade nicht gerecht wird.
Politische Theorie und Europäische Union
Politische Theorieperspektiven spielen in der Forschung zu Europa kaum eine Rolle. Politische Theoretiker (oder Politikwissenschaftler im Allgemeinen) sind in der öffentlichen Debatte um das Thema – anders als beispielsweise Juristen oder Historiker – wenig bis gar nicht präsent. Ein Umstand, der weder auf mangelnde fachliche Kompetenz noch auf fehlende Relevanz des Themas zurückzuführen sein kann. Vielmehr hätte man seit dem normative turn der Europaforschung – meist festgemacht an den Legitimitätsdebatten im Anschluss an das Scheitern des Maastricht-Vertrages – eine weitaus selbstbewusstere Positionierung normativ-politiktheoretischer Ansätze erwarten dürfen. Sieht man aber von den Interventionen Habermas und einigen wenigen löblichen Ausnahmen ab, sind politiktheoretische Reflexionen im öffentlichen wie akademischen Europadiskurs selten gesehen und noch seltener beachtet. Schlimmer noch: Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und dem Ausbrechen der Eurokrise hat die Zahl und Prominenz der Vorschläge sogar abgenommen. Fast scheint es, als werde das europäische Projekt von der Politischen Theorie als hoffnungsloser Fall betrachtet; ein Fall zudem, der zu kompliziert und ambivalent erscheint, als dass man dazu anspruchsvolle normative Theoretisierung erwarten dürfte. Das ewige Argument des fehlenden demos und das larmoyante Wehklagen angesichts eines wünschenswerten, aber doch entgleisten Integrationsprojekts werden weder der Sache gerecht noch im öffentlichen Diskurs als interessant wahrgenommen.
Wenn Christine Landfried sich also in ihrem Artikel offensiv auf Hannah Arendt bezieht und deren Politikverständnis für die Situation der EU zu aktualisieren versucht, so ist dies spannend und findet hoffentlich Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung. Zu problematisieren aber bleibt, wie Landfried hier Politische Theorie einzubeziehen versucht:
Landfrieds Artikel beginnt mit einer Vergewisserung des Vokabulars Arendts, konkret: Sie legt deren Denken via Vita Activa und dem als kanonisch geltenden Interview mit Günter Gaus auf den Begriff des »Handelns« und die Formel »Wagnis der Öffentlichkeit« fest. Sodann folgt eine Analyse der europäischen Situation, die ohne Verweis auf Arendt auskommt und diagnostiziert, dass es in der EU immer exekutivlastiger zugeht. Es folgt ein langer propositionaler Teil, der fünf allgemeine Reformvorschläge postuliert, die diesem Mangel abhelfen sollen: die Verknüpfung der Wahl des Kommissionspräsidenten mit der Wahl zum Europaparlament, die Einberufung eines Konvents für die Änderung der Verträge, die Angleichung der föderalen Unterschiede, den Aufbau eines europaweiten öffentlich-rechtlichen Mediensystem und die Einrichtung einer Informationsstelle zur Krisenpolitik. Erst im letzten Absatz wird dann wieder mit Arendt gesprochen, die Mut machen soll, diese Reformen anzugehen und trotz der Ungewissheit allen Handelns Öffentlichkeit und Demokratie in Europa zu etablieren.
Es ist dieses Nutzen der theoretischen Referenz Arendt als substanzloses Schmuckwerk für ein völlig unverbundenes Argument, welches mir missfällt, und gegen das ich im Folgenden zwei Einwände vorbringen will: Erstens ließe sich mit Arendt – wenn man ernsthaft an ihrem Denken interessiert wäre – eine gehaltvolle und originelle Diagnose und Kritik der Entwicklung europäischer Politik formulieren; zweitens hätte Arendt zwar wohl kaum etwas gegen eine allgemeine Beschwörung von Öffentlichkeit gehabt (wer hat das schon?), mit der Art, wie hier Reformvorschläge gemacht werden, hätte sie sich aber wahrscheinlich doch schwerer getan.
Arendts Republikanismus als analytisches Instrument
Hannah Arendt als Gallionsfigur für Öffentlichkeit und Partizipation zu benennen, ist naheliegend. Doch sind es wirklich allein diese Begrifflichkeiten, die Arendt für eine aktuelle Bezugnahme relevant machen? Wohl kaum. Vielmehr kann ein an Arendt geschulter republikanischer Blick sehr viel spezifischer die Situation europäischer Politik reflektieren, wenn er zum einen die Komplexität von Arendts Argumenten ernst nimmt, zum anderen zeigt, wo die republikanische Diagnose sich von anderen demokratietheoretischen Ansätzen unterscheidet.
Zunächst ist hierfür wichtig, Arendts Ansatz nicht mit der Karikatur zu verwechseln, nach der sie die Nostalgikerin der griechischen Polis und die naive Vorkämpferin eines basisdemokratischen Rätesystems gewesen ist. Die moderne Arendt-Forschung hat vielmehr herausgearbeitet, dass für Arendts politische Theorie das Denken der institutionellen Ordnung der Freiheit zentral ist. Arendt sieht den Menschen nicht als ein Wesen, das sich nur im Politischen selbstverwirklicht, sondern sie hat einen genauen Blick für die Bedingungen von Politisierung in modernen Gemeinwesen. Ein Blick, der sich zudem nicht in der Forderung nach tugendhaftem Einsatz für das Gemeinwesen erschöpft, sondern der für das Wechselspiel von Institutionen und Partizipation sensibel ist und gesellschaftliche Bedingungen von Partizipation ernstnimmt.
Mit einem solchen Verständnis von republikanischer Theorie als Theorie der Politisierung lassen sich sodann die Unterschiede zu liberalen und deliberativen Ansätzen benennen, die den Mainstream der Europadiskussion ausmachen. In jenen Ansätzen wird bürgerliche Beteiligung eher als Mittel zum Zweck kleingeredet und aus den Interessendifferenzen der Bürger heraus erklärt. Eine republikanische Analyse hingegen untersucht die Sinnhaftigkeit politischen Engagements und hebt daher insbesondere auf jene Mechanismen ab, die politischen Widerspruch ermöglichen und die Veränderbarkeit der Ordnung symbolisieren. Nicht das pauschale Einfordern von Öffentlichkeit war daher Arendts Sache, sondern die Analyse der Faktoren, die die Bezugnahme von Bürgern zum politischen System unterminieren.
Politische Intervention und Reform: Top-down vs. bottom up
Während eine an Arendt orientiere Diagnose europäischer Integration also vielschichtiger ausfallen würde, so wäre die von Christine Landfried angemahnte Exekutivlastigkeit des europäischen Projekts doch auch mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Kritikpunkt Arendts gewesen (eine schon etwas ältere, an Foucault und Arendt geschulte Analyse des europäischen Kommissionswesens von Sonja Punscher Riekmann, die zu den wenigen substantiellen Bezugnahmen auf Arendt im Kontext der Europadiskussion gehört, unterstreicht dies). Die von Landfried gegen die Exekutivlastigkeit vorgeschlagenen Abhilfen sind in ihrer Art und Anlage jedoch schon wieder kaum als im Geiste Arendts zu kennzeichnen.
Ich will mich an dieser Stelle natürlich nicht auf eine sinn- und witzlose Debatte darüber einlassen, was Arendt gesagt oder gedacht haben würde. Die Diskrepanz, auf die ich hinweisen will, ist vielmehr eine des Stils und des Fokus der Intervention. Landfrieds als im Geiste Arendts apostrophierter Vorschlag schlägt institutionelle Reformen vor, die bei Umsetzung dazu führen sollen, dass die EU vom Bürger besser verstanden und vielleicht mehr geliebt wird. Die genannten Punkte mögen dabei gut und richtig sein, jeder ihrer fünf Vorschläge verdient zweifelsohne der ernsthaften Erwägung.
Ein solcher im Top-down-Modus ansetzender Reformvorschlag ist jedoch weit entfernt von Arendts eigener Art der Einmischung in politische Debatten. Als politische Denkerin, die sich mit nicht zu knapper Streitlust in einer Vielzahl von Kontroversen gerade auch an ein nicht-akademisches Publikum wandte, ging es ihr in ihren Positionierungen stets darum, aktuelle politische Ereignisse in deren Bedeutung für das Politische zu reflektieren. Ob Arendt in den Pentagon Papers die Entfremdung der politischen Klasse analysiert oder im »Zivilen Ungehorsam« den Ort und die Bedingungen von Gegenmachtbildung reflektiert – sie generierte ihre Forderung nicht aus hehren normativen Prinzipen, sondern aus der Anschauung politischer Kontroversen. So sucht sie nicht nach abstrakten systemischen Lösungen, sondern generiert stattdessen spezifische, an der Geschichte orientierte und aus den Praktiken politischer Kräfte selbst hervorgehende Ideen zur Verwirklichung normativer Prinzipien. Insofern ist ein Ansatz wie jener, den James Tully in »A new kind of Europe« vertritt, wo er die Rolle von transnationalen Initiativen im Gegensatz zur etablierten europäischen Politik formuliert, weit mehr im Geiste Arendts als Landfrieds Versuch, diese zur Gewährfrau einer demokratisch reformierten EU zu erklären.
Abschließend: Natürlich ist mir klar, dass die beiden nun vorgebrachten Punkte, der Intention Landfrieds nicht gerecht werden. Weder behauptet sie an irgendeiner Stelle, eine adäquate Rekonstruktion der Politischen Theorie Arendts vorzunehmen, noch wird sie im Sinne gehabt haben, wie Arendt zu schreiben. Ihr durchaus verdienstvoller Anlauf, politische Alternativen zu einer sich alternativlos gerierenden Politik vorzuschlagen, wird aber durch das plakative Verknüpfen mit dem Namen und der Aura Arendts – zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die FAZ den Artikel mit der unvermeidlichen großformatigen Reproduktion des Fotos der rauchenden Arendt illustriert –nicht gerade gestärkt. Ein solch oberflächlicher Einsatz politiktheoretischer Referenz vergibt vielmehr die Chance, die darin gelegen hätte, unter Rückgriff auf ‚klassische‘ Positionen in der Politischen Theorie eine begrifflich reflektierte und doch eigenständige Analyse der europäischen Integration zu leisten.
Besten Dank für den Beitrag. Auch ich finde es gut, wenn der Diskurs um Europa mit politiktheoretischen Reflexionen bereichert wird – und Arendt kann sicherlich hierzu den einen oder anderen Anstoß liefern. Du hast das in deiner Arbeit ja auch sehr schön gezeigt.
Der Beitrag von Frau Landfried, so gut ich das Unterfangen finde, hat mir Arendt aber nicht viel zu tun. Es mag eine dumme Ironie des Schicksals sein, dass selbst die Wendung vom „Wagnis der Öffentlichkeit“ sich gegen Frau Landfried verschworen hat. Denn diese Wendung stammt überhaupt nicht von Arendt; sie stammt von Karl Jaspers. Sicherlich, Arendt übernimmt diese Wendung im Gaus-Interview, in ihrer Laudatio auf Jaspers etc.. Und klar, Arendts Denken hat auch was mit Öffentlichkeit zu tun. Aber Öffentlichkeit spielt bei anderen DenkerInnen auch eine Rolle. Indem hier die falsche Referenz gewählt wird, deckt man unfreiwilliger Weise die Beliebigkeit des Gedankens auf. Die Frage aus politiktheoretischer Sicht wäre doch daher, ob es einen Unterschied macht, ob wir beim Nachdenken über Europa mehr Arendt wagen sollen oder doch mehr Jaspers – oder mehr Habermas oder mehr Tully oder mehr Fraser oder mehr Forst… – und warum!
macht Arendt Mitsprache von aktiver Partizipation abhaengig und das als Teil eines muendigen Wesens und nicht als Teil institutioneller Prozesse. Mitreden und Abstimmen kann nur, wer aktiv politisch arbeitet und die Sicht stellt den Einzelnen ueber jede Institution.
Das institutionalisierte und buerokratisierte Europa hat damit ueberhaupt nichts mehr zu tun. Arendts Politikverstaendnis ist organisch jenseits von bottom up und top down.
Es stellt sich auch die Frage, ob in heutiger Komplexitaet der Fragen der Einzelne nicht partiell entmuendigt ist, weil er ueber Spezifisches Wissen gar nicht mehr verfuegt. Wichtiger i Z Arendt sind ihre Buecher Between Past and Future, The Life of the Mind und Wahrheit und Luege etc auf dem Level.
Was helfen Abstimmungen, wenn die Abstimmer gar nicht das volle Wissen ueber den Gegenstand haben. Es geht gar nicht mehr um Luege, sondern auch um strukturelles Nichtwissen. Letztlich aber kritisierte Arendt bereits in die Richtung, indem Wissen auch als Gelaender kritisiert wurde, daraus die Forderung Denken ohne Gelaender, was den Geschmack als politische Kategorie und etwas Unmittelbares mit einfuehrt. Parzizipation ist immer ein Urteilsprozess und Urteile sind immer auch Geschmacksurteile, nur, ist seit Bourdieu bekannt, dass diese Urteile nicht souveraen zustande kommen, sondern an unreflektiertem Habitus gekoppelt sind. Gerade die buergerlichen Kreise weigern sich, genau das zu realisieren, was regelmaessig zu Diskussionen wie diesen fuehrt.
Es fehlt nicht nur eine angemessene Theorie, es fehlen schlicht gute Argumente. In dem Artikel heißt es beispielsweise:
„Ein Konvent wäre der richtige Ort für die notwendige Debatte über die Zielsetzung der europäischen Integration. Zu dieser Debatte gehört die immer wichtiger werdende Frage der Verteilungsgerechtigkeit in der EU. Die Auseinanderentwicklung zwischen reichen und armen Mitgliedstaaten verhindert die Herausbildung einer bereits von Habermas geforderten „europaweiten Bürgersolidarität“. Doch nur auf der Basis ähnlicher Lebenschancen in den Mitgliedstaaten kann das positive Potential der Differenz unterschiedlicher Sprachen, Kulturen, Traditionen und Religionen in Europa zur Geltung kommen. Auch für die politische Ordnung der EU mit 28 Mitgliedstaaten sollten bewusste Entscheidungen getroffen werden. Ein politisches System mit 28 Mitgliedstaaten braucht föderale Strukturen. Das Wort „Föderalismus“ mag bei einigen Mitgliedern der EU unbeliebt sein. Aber Denkverbote können wir uns nicht leisten.“
Die Mitgliedsstaaten verfolgen seit jeher ganz unterschiedliche Zielvorstellungen mit der europäischen Einigung, weshalb soll das in einem Konvent anders sein? Weshalb führt eine Debatte über Verteilungsgerechtigkeit zu „mehr Bürgersolidarität“ und nicht zur Vertiefung des Streits oder Auflösung der Union? Gibt es irgendwelche begriffliche oder historische Belege dafür, dass Bürgersolidarität ähnliche Lebenschancen voraussetzt? Bürgersolidarität und ähnliche Lebenschancen mögen je für sich gut sein, wenn man aber zwischen beiden eine bestimmte Verbindung annehmen möchte, muss man dafür argumentieren. Wenn der Konvent nur diskutieren soll, weshalb kann dann das Ergebnis „föderale Struktur“ vorweggenommen werden? Weshalb sollen sich alle Länder an das Ergebnis gebunden fühlen, wenn Gegenpositionen von vornherein ausgeschlossen oder überstimmt werden (bei einem Referendum soll die doppelte Mehrheit gelten)? Na klar, weil Arte zu einem Erziehungsprogramm aller EU Bürger wird. So wird der europäischen Integration ein Bärendienst erwiesen.