Ab dem 22. Januar sollen auf internationale Vermittlung hin in der Schweiz neue Gespräche zwischen syrischer Regierung und Opposition über eine politische Lösung des nun schon fast drei Jahre währenden Bürgerkrieges in Syrien beginnen. Diese Gespräche möchte ich zum Anlass für den Versuch nehmen, die verschiedenen Dimensionen des Konflikts in Syrien aufzuzeigen und vor diesem Hintergrund über die moralische Verantwortung der deutschen Außenpolitik im Umgang mit diesem Konflikt nachzudenken. Dazu gehe ich in vier Schritten vor: Erstens skizziere ich den normativen Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Zweitens erinnere ich kurz an den bisherigen Verlauf der Ereignisse in Syrien seit 2011. Drittens unterscheide ich drei Dimensionen des Konfliktes in Syrien, die in je unterschiedlicher Weise moralische Fragen aufwerfen. Viertens diskutiere ich vor diesem Hintergrund, welche moralische Verantwortung der deutschen Außenpolitik mit Blick auf diesen Konflikt zukommt.
I.
Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Idee einer natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit (vgl. hierzu auch Jacob et al 2012). Ursprünglich wurde diese Idee von Rawls (unter Rückgriff auf Kant) eingeführt, um jene gerechtigkeitsbezogenen Pflichten zu erfassen, die uns allen in gleicher Weise zukommen und sich so von jenen spezifischeren Verpflichtungen unterscheiden, die wir erst durch eigenes Handeln oder besondere Beziehungen zu anderen Menschen eingehen (1975, 135-136). Allen Buchanan verbindet die Idee der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit direkt mit den Menschenrechten und beschreibt sie demnach als „the limited moral obligation to contribute to ensuring that all persons have access to just institutions, where this means primarily institutions that protect basic human rights” (2004, 86).
Gewöhnlich gilt der Staat als die Institution, die am besten geeignet ist, diese Art von Menschenrechtsschutz zu gewährleisten. Weil umgekehrt Staaten aber auch eine der größten Bedrohungen für die Menschenrechte und die von ihnen geschützten Güter bedeuten, lässt sich die natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit als Aufforderung an einen jeden von uns verstehen, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass Staaten ihrer menschenrechtlichen Verantwortung gerecht werden. Dies betrifft dabei sowohl das Verhältnis der Staaten zu ihren eigenen Bürgern, als auch das Verhältnis eines Staates zu anderen Staaten und deren Bürgern. In diesem Sinne kommt uns als Bürgern demokratischer Staaten so auch die Pflicht zu, darauf hinzuwirken, dass die Staaten, die in unserem Namen handeln, ihren Beitrag dazu leisten, dass alle Menschen Zugang zu Institutionen haben, die ihre grundlegenden Menschenrechte schützen. Die Frage nach der moralischen Verantwortung der deutschen Außenpolitik verweist somit letztlich auf die Frage, was wir als Bürgerinnen und Bürger eines Staates wie Deutschland tun können, um unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Syrien gerecht zu werden.
II.
Als im Frühjahr 2011 der „arabische Frühling“ ausbrach, kam es auch in Syrien zu Demonstrationen gegen die Regierung von Baschar al-Assad. Mit Hilfe von Polizei und Militär versuchte die Regierung Assads, die sich rasch auf weite Teile des Landes ausbreitenden Demonstrationen zu unterbinden. Bald kam es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften der Regierung und den Demonstranten, die sich im Laufe der folgenden Monate zu einem Bürgerkrieg steigerten. Der militärische Teil der Oppositionsbewegung setzte sich dabei zu Beginn ganz überwiegend aus ehemaligen Angehörigen des syrischen Militärs zusammen, die desertiert waren, um sich der Opposition anzuschließen. Berichte über „befreite“ Städte und Zerfallserscheinungen im syrischen Regierungsapparat nährten bei vielen Beobachtern die Hoffnung, der syrischen Opposition könne es wie andernorts in der arabischen Welt gelingen, die Regierung zu stürzen. Durch den Einsatz von schwerem Militärgerät und insbesondere mithilfe der Luftwaffe gelang es der Regierung von Assad jedoch, die Opposition zurückzudrängen. Zwar ist es der Regierung bis heute nicht gelungen, den Widerstand der Opposition zu brechen oder eine landesweite Kontrolle wiederherzustellen, doch scheint umgekehrt heute ebenso ausgeschlossen, dass es der Opposition gelingen könnte, aus eigener Kraft die Regierung zu stürzen. Obschon bis heute laut UN-Berichten mehr als 100.000 Menschen in diesem Krieg gestorben sind, ist ein Ende des Konflikts nicht in Sicht. Im Gegenteil droht vielmehr eine Ausweitung der gewaltsamen Auseinandersetzungen auf die Nachbarländer, insbesondere auf den Irak und den Libanon. Zugleich verstärkt sich die religiöse Dimension des Konfliktes und mehren sich die Berichte über Versuche islamistischer Gruppen, die Ziele und Strategien der Opposition in ihrem Sinne zu prägen (für einen aktuellen Überblick über die Ereignisse in Syrien siehe Perthes 2013).
III.
Aus moralischer Sicht liegt es zunächst nahe, das Geschehen in Syrien als einen Krieg des Staates gegen einen Teil seiner Bürger zu verstehen. Für diese Sichtweise spricht, dass auch die Mitglieder und Anhänger der Opposition syrische Staatsbürger sind, und dass die Gewalteskalation zunächst vom Staat ausging. Der militärische Widerstand der Opposition ließe sich demnach als Versuch der Selbstverteidigung gegen diese staatliche Gewalt verstehen. Von dieser Sichtweise aus lässt sich dann relativ schnell die Verbindung zur umfangreichen Debatte um „humanitäre Interventionen“ ziehen, die mittlerweile in Form der „Responsibility to Protect“ sogar Eingang ins Völkerrecht gefunden hat (vgl. hierzu Murray/Mackay 2014). Der syrische Staat verletzt demnach ganz grundlegend seine menschenrechtliche Verantwortung gegenüber seinen Bürgern – und der Staatengemeinschaft kommt die Verantwortung zu, durch geeignete und notfalls auch militärische Mittel die Menschenrechtsverletzungen des syrischen Staates zu unterbinden. Das Ziel deutscher Außenpolitik müsste es also sein, im Rahmen der UN auf Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta hinzuwirken, die geeignet wären, um die Gewalt seitens der Regierung zu unterbinden. Falls dies nur durch den Sturz der Regierung von Assad möglich wäre, würde dies auch einen Wandel des Regimes beinhalten, doch wäre das primäre Ziel nicht ein solcher Wandel, sondern das Ende der Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung. Als im Sommer des letzten Jahres Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen bei Kämpfen rund um Damaskus bekannt wurden, schien es für einen Moment so, als wären die USA zu einer solchen Intervention bereit. Nach dem von Russland vermittelten Zugeständnis Syriens, sein Chemiewaffen-Arsenal im Ausland vernichten zu lassen, verzichteten die USA jedoch auf eine, nicht zuletzt auch in den USA selbst hoch umstrittene militärische Intervention.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Krieg des Staates gegen seine Bürger deutlich erkennbar zu einem genuinen Bürgerkrieg entwickelt. Aus dem improvisierten Versuch der Selbstverteidigung gegen die Gewalt des Staates wurde so eine Auseinandersetzung zwischen zwei, wenn auch sehr ungleichen Kriegsparteien. Neben der zunehmenden Militarisierung der Opposition zeigt sich dies nicht zuletzt daran, dass diese schon sehr bald nicht mehr auf begrenzte Zugeständnisse der Regierung von Assad, sondern auf deren Sturz abzielte. So wenig Klarheit über die genauen Ziele der verschiedenen Gruppierungen innerhalb der syrischen Opposition besteht, so geeint scheinen sie doch in ihrem Ziel, die Regierung von Assad zu stürzen. Versteht man den Konflikt in Syrien als Bürgerkrieg, so scheinen die üblichen Kategorien der Debatte um humanitäre Interventionen als ungeeignet. Ins Zentrum rückt so die Frage, ob es für einen Staat wie Deutschland zulässig oder gar moralisch geboten sein kann, sich in einen solchen Bürgerkrieg zugunsten einer der beiden Kriegsparteien einzumischen. Die Antwort auf diese Frage wiederum scheint ganz unmittelbar auf die Frage zu verweisen, unter welchen Umständen es für die Bürger eines Staates zulässig ist, sich mit Gewalt gegen die eigene Regierung aufzulehnen (Buchanan 2013).
Doch auch diese Sicht auf den Konflikt in Syrien bleibt noch unvollständig. Denn anders als die Rede von einem Bürgerkrieg suggeriert, handelt es sich bei dem Krieg in Syrien schon von Anbeginn an nicht um eine rein syrische Auseinandersetzung. Obschon die genauen Zusammenhänge von außen wenig transparent sind, besteht doch wenig Zweifel daran, dass der Iran und Russland die syrische Regierung unterstützen, während Saudi Arabien, aber auch Frankreich und die USA die syrische Opposition mit Ressourcen und Waffen ausstatten. Nur knapp unterhalb der Oberfläche ist der syrische Bürgerkrieg somit ein in hohem Maße internationaler Konflikt.
IV.
Gerade diese internationale Dimension erschwert dabei auch die Lösung des Konfliktes. Würden Staaten wie Frankreich oder die USA die syrische Opposition offen militärisch unterstützen, so würde dies aller Voraussicht nach einen erheblichen internationalen Konflikt mit den Unterstützern der syrischen Regierung bedeuten und wahrscheinlich auch die Nachbarländer Syriens weiter in den Konflikt hineinziehen. Im Lichte dieser weitreichenden Risiken ist diese Option damit weitestgehend ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass es begründete moralische Skepsis ob der Ziele und Vorgehensweise der syrischen Opposition gibt. Wie schon beschrieben sind die Ziele der Opposition zwischen den verschiedenen Gruppierungen selbst umstritten. Dokumentierte Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Einheiten der Opposition lassen deren militärisches Vorgehen zum Teil als moralisch höchst fragwürdig erscheinen. Vieles deutet zudem darauf hin, dass islamistische Gruppen – womöglich gar mit Verbindungen zu al-Qaida – innerhalb der Opposition zunehmend an Einfluss gewinnen.
In dieser Situation wäre es aus moralischer Sicht wohl am besten, durch eine vom UN-Sicherheitsrat mandatierte, international breit unterstützte und militärisch robust abgesicherte Friedensmission die unmittelbaren Kriegshandlungen zu beenden und so den Weg für eine friedliche Lösung des zugrundeliegenden Konfliktes zu schaffen. Ein solches Vorgehen würde keine eindeutige und ausschließliche Parteinahme zugunsten der syrischen Opposition bedeuten, sondern vielmehr den Versuch, durch die Unterbindung gewaltsamer Auseinandersetzungen die Form des Konfliktes zu verändern. Unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen scheint diese Lösung jedoch ausgeschlossen. Um eine solche Friedensmission mit Erfolg durchzuführen, wären erhebliche militärische und nicht-militärische Ressourcen notwendig. Von den hierfür in Frage kommenden Staaten – etwa die USA, Frankreich oder Großbritannien – scheint im Moment jedoch keiner über den politischen Willen zu verfügen, diese Art von Ressourcen aufzubringen. Hinzu kommt, dass eine breite internationale Unterstützung für eine solche Mission unerreichbar erscheint. Im UN-Sicherheitsrat würde Russland aller Voraussicht nach eine Mission die Zustimmung verweigern, und auch unter den Nachbarstaaten Syriens wäre eine solche Friedensmission wahrscheinlich hoch umstritten.
Da auch die syrische Regierung um diese Konstellation weiß, ist mehr als fraglich, welche Ergebnisse von den anstehenden Gesprächen in der Schweiz zu erwarten sind. Die syrische Regierung, die nach allen Berichten anscheinend derzeit militärisch deutlich überlegen ist, wird kaum zu ernsthaften politischen Zugeständnissen bereit sein. Die in sich zerstrittene Opposition hingegen hat kaum noch etwas zu verlieren und wird sich zugleich nach den bisherigen Erfahrungen weder auf Zusagen der Regierung von Assad noch auf die westlichen Staaten verlassen wollen. Selbst wenn es gelingt, die Opposition zur Teilnahme an den Gesprächen zu bewegen, scheint somit schwer vorstellbar, wie es unter diesen Bedingungen zu einer Einigung zwischen den beiden Bürgerkriegsparteien kommen könnte.
Im Ergebnis scheint Syrien gefangen in einem Netz internationaler Verflechtungen und Konflikte, das heute kaum noch zu entwirren scheint. Die düstere Aussicht für die nahe Zukunft Syriens besteht somit darin, dass sich die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf unabsehbare Zeit fortsetzen. Um die eigenen Interessen zu wahren, wird die Unterstützung für die beiden Bürgerkriegsparteien durch das Ausland nicht völlig versiegen – und so den gewaltsamen Konflikt verstetigen (vgl. hierzu auch Walter 2013).
Wenn überhaupt scheint ein Ende des Krieges nur dann absehbar, wenn es gelingt, eine Einigung zwischen den entscheidenden internationalen Akteuren – also insbesondere den USA, Russland und dem Iran – zu erreichen. Dass es im vergangenen Sommer binnen kürzester Zeit gelang, auf internationaler Ebene eine allgemein akzeptierte Lösung im Streit um die Chemiewaffen zu finden, zeigt, dass eine solche Einigung zumindest nicht vollkommen ausgeschlossen ist. Ohne Zweifel wäre eine solche Einigung weit entfernt von einem „gerechten Frieden“ und könnte so auch den Opfern dieses Konfliktes nicht vollständig gerecht werden. Moralisch wäre eine solche Lösung daher nur eine second-best-solution – und doch einer Fortsetzung der Gewalt, die noch mehr Leid hervorbringen würde, vorzuziehen. Die deutsche Außenpolitik darf darum auch in dieser so aussichtslos erscheinenden Situation nicht untätig bleiben und sollte alle ihre Möglichkeiten nutzen, um auf eine solche internationale Einigung hinzuwirken.
Neueste Kommentare