Wie Michael Sandel im Hörsaal das Sokratische Gespräch belebt

Michael Sandel hat kürzlich an der Freien Universität in Berlin eine öffentliche Vorlesung gehalten. Anlass war die Vorstellung seines letzten Buches „What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets“. Der Hörsaal war bereits lange vor Beginn so überfüllt, dass kurzerhand eine Videoübertragung in den benachbarten Hörsaal eingerichtet wurde. Der große Andrang war weniger auf das Thema der Vorlesung zurückzuführen, als auf die seltene Gelegenheit, den „Rockstar“-Philosophen live zu erleben. Aber was an Michael Sandel so fasziniert und neugierige Studentinnen auf der ganzen Welt in Massen in seine Vorlesungen treibt, offline wie online, hat weniger mit ihm als Person zu tun, sondern mit seinen Fragen und seiner Art, diese Fragen zu stellen, genauer: mit seiner didaktischen Methode, um die es mir hier geht.

Der Ablauf seiner Vorlesungen und Vorträge ist immer gleich: Sandel führt knapp in das Thema ein, zieht ein praktisches Beispiel heran, das häufig aus der unmittelbaren Lebenswelt der Zuhörer gegriffen ist, und fragt das Publikum: „What would you say?“ Auf Zuruf werden einige Antworten aufgesammelt und sogleich geht es per Handzeichen zur Abstimmung: Wie viele würden für Handlungsalternative A stimmen? Wie viele dagegen? – Und schließlich die Hauptfrage: Warum? Damit werden die Teilnehmerinnen aufgefordert, die Gründe für ihre Entscheidung darzulegen. Nach einem kurzen Austausch der Argumente beider Seiten ändert Sandel das Beispiel leicht ab, lässt erneut abstimmen und begründen. Das geht so einige Male und wird innerhalb eines Vortrags anhand von mehreren Beispielen durchgeführt. – In Berlin ging es beispielsweise anfangs darum, ob man als Direktor der Freien Universität gegen Zahlung von 10 Millionen Euro einen privilegierten Studenten aufnehmen sollte, der über das normale Zulassungsverfahren keinen Platz erhalten würde, und was man mit dem Geld alles anfangen könnte.

Das Faszinierende ist: Egal wie groß das Publikum – ob 500 in Berlin, 1.100 in Harvard, 5.000 in Jaipur oder 14.000 in Seoul – jede Zuhörerin fühlt sich einbezogen. Sandel hält keine Monologe. Er stellt einfache Fragen nach dem Prinzip des sokratischen Dialogs. Er richtet sich direkt an sein Publikum und nennt diejenigen, die exemplarisch zu Wort kommen, konsequent beim Namen. Durch die häufigen Abstimmungen muss sich jede einzelne Teilnehmerin fragen, wie sie sich selbst positionen würde. Und sie bekommt sofort einen Eindruck über die Meinungen und Mehrheitsverhältnisse im Raum sowie deren Begründung. Ehe sie sich versieht, findet sie sich mitten in einer philosophischen Debatte wieder.

Sandel geht es um die moralischen Prinzipien, die hinter den Entscheidungen und ihren Begründungen stehen. In kurzen Dialogen mit einzelnen Teilnehmerinnen bohrt er nach, um die oft impliziten Prämissen, Zusammenhänge mit anderen Argumenten und Widersprüche aufzuzeigen. Geradezu beiläufig stellt er Bezüge zu den konkurrierenden philosophischen Positionen her. Eine Brücke zu bauen zwischen einerseits Situationen der alltäglichen Erfahrung und den ihnen immanenten ethischen Fragen, andererseits den moralisch-philosophischen Prinzipien, Positionen und Lösungsvorschlägen, ist der Kern von Sandels Philosophieren.

Das große Interesse an seinen öffentlichen Vorträgen führt er selbst auf die Frustration über öffentliche politische Debatten zurück, denen genau diese Verbindung fehlt. Das große Interesse vieler Studentinnen aller Fachrichtungen speist sich hingegen oft gerade aus einer umgekehrten Frustration: der häufigen Abwesenheit lebensnaher und realistischer Beispiele in moralphilosophischen Seminaren und Vorlesungen. Sandel holt die Studenten dort ab, wo sie sich mit ihren eigenen Fragen befinden – das hätte er sich auch selbst in seinem eigenen Studium gewünscht. Als Bachelor-Student war ihm die Politische Theorie viel zu abstrakt, realitätsfern und schwer zugänglich, also nahm er sich zu Beginn seiner Lehrtätigkeit 1980 in Harvard vor, so zu unterrichten, wie es seine eigene Aufmerksamkeit als Student gefesselt hätte.

Es gibt auch einige Kritiker, denen Sandels sokratische Methode zu seicht, zu formal und inhaltlich zu beliebig ist. Und denen allein das Gefühl, einbezogen, gehört und verstanden zu werden nicht ausreicht. Aber die wenigen Kritiker diskreditieren sich durch ihre alternativen Vorschläge zum Teil selbst.

Sandel ist weit entfernt von einem inhaltslosen Prozeduralismus. Es geht ihm gerade um den Umgang mit pluralistischen Positionen, Begründungen und Prinzipien. Deshalb ist es auch haltlos, ihm vorzuwerfen, unterschwellig nur seine eigene Position durchdrücken zu wollen. Natürlich sind reale Situationen, in denen sich ethische Fragen stellen, oft weitaus komplexer, existenzieller und für die beteiligten Akteure undurchsichtiger, als es sich in einer fiktiven Gesprächssituation rekonstruieren lässt. Aber selbst in Bezug auf die einfachen Beispiele in seinen Vorträgen bleibt Sandel immer offen für weiteren Input, Vorschläge und Widerspruch.

Man kann sich auch fragen, inwiefern der hohe Unterhaltungswert von Sandels Vorträgen auf Kosten des Tiefgangs geht, und wie viel tatsächlich vom Besuch seiner Veranstaltungen oder vom Reinschauen in seine Vorlesungen auf YouTube hängen bleibt. Aber was ist von einer kurzfristigen Beschäftigung realistisch zu erwarten?

Letztlich gelingt Sandel die große Kunst, philosophisches Denken auf alltäglichen Situationen und Erfahrungen anzuwenden und sein Publikum in die Debatte einzubeziehen. Allein die Teilnahme an einer solchen Form der Deliberation ist als individuell gemachte Erfahrung nicht zu unterschätzen. Sie wirkt auf die Grundlage deliberativer Demokratie ein: auf die politische Kultur. Diese versucht Sandel nicht zuletzt mit seinen öffentlichen Veranstaltungen zu beleben.

Das gilt auch für die zunehmenden MOOCs (theorieblog.de berichtete kürzlich): Hier ist die Technik inzwischen so weit, dass Sandel in Echtzeit Vorlesungssäle auf verschiedenen Kontinenten zusammenbringen und somit echte interkulturelle Diskussionen moderieren kann: Er konnte einen Studenten in Delhi aufrufen, eine Studentin aus der 5. Reihe in Harvard bitten, auf jemanden in São Paulo zu antworten und zugleich noch jemanden in Shanghai zu Wort kommen lassen.

Technologisch befinden wir uns in der Veränderung von Bildung und Wissenschaft durch die Digitalisierung noch immer am Anfang. Doch Sandels enormer Erfolg zeigt, wie wichtig vor allem die didaktische Methode dafür ist, um alle Beteiligten in eine gemeinsame philosophische Diskussion – im Großen wie im Kleinen – überhaupt einzubeziehen und anzusprechen. Seine spezifische Form des Sokratischen Gesprächs ist dabei nur eine unter einer Vielzahl an Gruppengesprächs- und Moderationsmethoden, die auch für die universitäre Lehre fruchtbar gemacht werden könnten. Lädt nicht die eindrucksvolle Wirkung von Sandels Vorträgen zum eigenen Experimentieren ein?

4 Kommentare zu “Wie Michael Sandel im Hörsaal das Sokratische Gespräch belebt

  1. „(…)einen Studenten (!) in Delhi aufrufen, eine Studentin (!) aus der 5. Reihe in Harvard bitten, auf jemanden in São Paulo zu antworten und zugleich noch jemanden in Shanghai zu Wort kommen lassen.“
    Inter-kulturell meint unter Akademikern leider meist intra-akademisch. Entscheidend ist womöglich nicht der geographische Abstand, sondern die soziale Stellung im Produktionsprozess. Ansonsten vielen Dank!

  2. Ich stimme Dir zu, dass soziale Unterschiede im akademischen Bereich viel zu wenig thematisiert werden. Dass Sandels Vorlesungen im Internet kostenfrei zugänglich sind, ist hinsichtlich des Zugangs immerhin schon eine Besonderheit.

    Grundsätzlich eignen sich die verschiedenen Gesprächsmethoden im Übrigen besonders, um in Gesprächsgruppen Inklusion zu gewährleisten und einseitigen Gruppendynamiken entgegenzuwirken. Auch (bzw. insbesondere) im Seminarraum.

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