Ein weites Feld? Theorie in Tennessee

Politische Theorie im deutschsprachigen Raum und Political Theory in den USA sind recht ungleiche Geschwister: Institutionelle Verankerungen, Karrierewege und auch inhaltliche Ausrichtungen folgen verknüpften, aber unterschiedlichen Formen und Traditionen. Gewissermaßen als Selbstbetrachtung aus der Ferne habe ich einige Impressionen von einer Tagung in Nashville – ein Wochenende lang „Theory City“ statt „Music City“ – notiert: Kein inhaltlicher Tagungsbericht also, sondern stichprobenartige Eindrücke von einem amerikanischen Konferenzformat.

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Europasehnsucht? 1:1 Waschbeton-Reproduktion des Parthenon in Nashville

 

Gern spricht man im alten Europa statt von Globalisierung von der „Amerikanisierung“ der Wissenschaften und auch der Politischen Theorie. Es könnte aber umgekehrt auch als Zeichen für eine gewisse „Europäisierung“ der US-Theorie interpretiert werden, dass mit der Association for Political Theory (APT) vor einigen Jahren eine eigenständige amerikanische Institution für dieses Themenfeld ins Leben gerufen wurde. Zumal mit dem Ziel „to promote the study of political theory and political philosophy in North America“ – also: weg von der Amalgamierung in die Political Science insgesamt, hin zur Fokussierung auf diese und damit hin zu einer Profilierung der theoretischen Subdisziplin. Die APT kommt vielleicht der deutschen „Theoriesektion“ der DVPW am nächsten – ein Forum für Politiktheoretiker also, mit Veranstaltungen, die übersichtlicher und thematisch kohärenter sind als US-Megakonferenzen wie APSA oder MPSA (oder auch die europaweite ECPR). Auf letzteren liegt zwischen hunderten Panels die Theorie meist gut verborgen und in den von 5.000 Teilnehmern besuchten Kaffeepausen ist es schwer, Dialog herzustellen. Die APT hingegen strebt nach Integration und Vernetzung aller, die zu maßgeblichen politiktheoretischen Fragen arbeiten.

Hauptaktivität der APT ist ein jährliches, thematisch offenes Symposium, das im Oktober 2013 an der Vanderbilt University im kulturell boomenden Nashville stattfand. Dem kontinentalen Beobachter wird dabei schnell klar, dass das US-Äquivalent zur deutschen Sektionstagung keine per se gemütliche oder auch nur übersichtliche Angelegenheit ist: 34 Panels mit je vier Vorträgen erstrecken sich über drei dicht getaktete Tage in den neo-  (gelegentlich auch neo-neo-)gotischen Hallen des Vanderbilt-Campus; die inhaltliche und methodische Breite könnte durchaus an die eben genannten Megakonferenzen erinnern.

Aber nein, eben nicht: Durch eine straffe, freundliche, offenbar bestens finanzierte Organisation ist es nicht nur für Zaungäste möglich, einen strukturierten Überblick über Forschungstätigkeiten und Forscherpersönlichkeiten in der Neuen Welt zu gewinnen: Auch die angereisten US-ForscherInnen profitieren, habe ich mir sagen lassen, von der Erfahrung und dem Austausch gerade über die inneren (methodischen und inhaltlichen) Gräben der Subdisziplin hinaus; über jene Gräben also, die bei thematisch spezifischen Tagungen gern als Delineans der Einladungspraxis verwendet werden, auf den Gigantentagungen dagegen unsichtbar werden. Wie kommt es, dass dies den Amerikanern so gut, vielleicht: besser als uns in Deutschland gelingt?

Ein Grund für die gute Atmosphäre, die mit der Absenz offenkundiger Lagerressentiments zu tun hat, mag das Format einer nicht unbedingt Nachwuchs-, aber doch Mittelbaukonferenz gewesen sein: Die Mehrheit der Vortragenden sind Ph.D. Candidates, Post-Docs und Assistant Professors. Allerdings nicht als Resultat einer strikt nachwuchsbasierten Einladungspolitik: Auch der ein oder andere „Vollprofessor“ tritt gleichberechtigt in statusbezogen gut durchmischten Panels auf. Die Struktur der US-Academia spielt hier mit, in der die Differenz zwischen Nachwuchs und Hochschullehrertum deutlich fluider, gestaffelter ist. Professor werden kann man hier bekanntlich nicht erst mehrere Jahre, sondern gern auch direkt nach der Promotion – viel der Forschungs- und Lehrarbeit wird somit von jungen WissenschaftlerInnen bewältigt, die bereits über einen relativ hohen Status verfügen und nicht primär zwischen arbeitsvertraglich zerstückelten Qualifikationsschleifen zirkulieren – sie prägen das ehrgeizige Programm und den wenig dogmatischen Ton der APT-Tagungen: Philosophen und Juristen spielen ebenso mit wie die majoritären Politikwissenschaftler. Vielleicht gelingt dieses Format auch deshalb, weil die junge Theorie-Community sich einfach selbst jene auf US-Karrierewege zugeschnittenen Angebote schafft, die zum Erfolg führen: Neben hochkarätigen Kommentaren, die beim Aufpolieren präsentierter Papers helfen, werden ganze Workshops zur Besprechung halbfertiger Buchmanuskripte geboten – ähnlich, wie Professuraspiranten an US-Unis ihre „Job talks“ proben. Theorie, auch Theoriekarriere, als joint effort statt als Einzelkämpfertum. Sicher: Die Härte des job market ist bekannt, doch ebenso auffällig ist die geradezu sportliche Kooperation zwischen jenen, die eigentlich Konkurrenten auf ebendiesem Markt sind.

Für die konstruktive Atmosphäre der Tagung mag aber, so meine Vermutung, eben auch die Haltung zu disziplinären und subdisziplinären Grenzen eine Rolle spielen. Das gegenseitige Interesse am methodisch „Anderen“ ist groß; zwei Panel, die zentrale Theoriealternativen innerhalb der Politischen Theorie zur Debatte stellten, waren besonders gut besucht. In den durchaus hitzigen Panels erwiesen sich mögliche Methodenlager eher als Spektren: Der Versuch von Jacob Levy (McGill) etwa, mit plakativen Argumenten ideale Theorie gegen non-ideal theory auszuspielen, fand kaum Anklang – Vortragende und Diskutanten verweigerten sich diesen Schubladen. Adrian Blau (King’s College) erntete breite Zustimmung mit seinem Ansatz einer wohlverstandenen Arbeitsteilung zwischen Ideengeschichtlern unterschiedlicher Schulen (von der Cambridge School bis zu den vielgescholtenen Straussians)– anstelle eines andauernden Richtungskampfes. Komplementäre Kooperation statt Konkurrenz wurde wiederholt hochgehalten – so zumindest die Impression des Tagungsaustausches. Dass die Annahmepolitik verschiedener Journals eine andere ist, versteht sich. Doch die erfreuliche kommunikative Offenheit der Debatten kann man nicht nur auf amerikanische Höflichkeit schieben: Es entstand der Eindruck tatsächlichen gegenseitigen Interesses  und methodischer Anerkennung – zumindest als aspiratives Ziel.

Die Politische Theorie in den USA ist in ihrem institutionellen Status innerhalb der Politikwissenschaft nicht unbedingt weniger bedroht als in Deutschland und anderswo, doch die interne Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft mag eine höhere sein – und damit auch dem Profil der Theorie helfen. Aufschlussreich war hier mein Eindruck von kursorischen Kaffeepausengesprächen zum Thema: Alle Vertreter der unterschiedlichen Sub-Subdisziplinen scheinen sich marginalisiert zu fühlen – vielleicht schlicht wegen der rein quantitativ größeren Vielfalt und Ausdifferenzierung in den Staaten.  Und vielleicht ließe sich, etwas sarkastisch, sagen: Solange sich alle marginalisiert fühlen und aus dieser Erkenntnis heraus konstruktiv um Zusammenhalt bemüht sind – ja, sich bemühen müssen! – , kann dies einem integrierten, sich integrierenden Teilgebiet der Politischen Theorie nur nützlich sein.