theorieblog.de | Vor der Wahl: Theoretische Reflexionen über das Herzstück der Demokratie

17. September 2013, Biebricher, Gädeke & Vogelmann

Die Bundestagswahl steht kurz bevor – Grund genug, hier auf dem Theorieblog eine theoretische Debatte über das zentrale Charakteristikum der Demokratie vom Zaun zu brechen. Nicht die Sonntagsfrage aber, sondern die Organisation des Wahlaktes soll bei uns im Mittelpunkt stehen. Unmittelbarer Anlass ist der Artikel Wer nicht wählen will, soll zahlen von Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr, der am 22. August in der ZEIT veröffentlicht wurde und in dem die Einführung der Wahlpflicht vorgeschlagen wird. In unserer Mini-Serie werden sich heute zunächst Thomas Biebricher, Dorothea Gädeke und Frieder Vogelmann mit diesem Vorschlag auseinandersetzen und die Einführung von Negativstimmen als Alternative zur Wahlpflicht vorstellen. Morgen dann wird Sebastian Huhnholz eine kritische Reflexion auf die Grundannahmen der Wahlpflichtforderung unternehmen.

Wer nicht dafür ist, kann dagegen sein: Statt über eine Wahlpflicht sollte über die Einführung von Negativstimmen diskutiert werden

In ihrem Artikel Wer nicht wählen will, soll zahlen in der ZEIT vom 22. August plädieren Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr für die Einführung einer Wahlpflicht. Zu Recht erinnern sie daran, dass das ständig wachsende Kontingent von Nichtwählern letztlich vor allem die etablierten politischen Kräfte stärkt. Zwar wird am Wahlabend allerseits gebetsmühlenhaft beklagt werden, dass ein weiteres Mal erschreckend viele Bürgerinnen und Bürger den Urnen ferngeblieben sind. Aber spätestens am nächsten Tag dürften die Sorgen um eine schwindende Legitimation bei den politischen Repräsentanten des Volkes der beruhigenden Einsicht gewichen sein, dass ja dennoch nach wie vor um die 360 Bundestagsmandate vergeben werden und somit für die Parteien letztlich alles beim gleichen bleibt. Dies gilt selbst für den Fall, dass mehr als die Hälfte der Wähler der Wahl fern bliebe, die Nichtwähler also eine Mehrheit stellten. Speer und Herr befürchten zudem, dass die Auffassung, das Wahlrecht sei Ausdruck einer auch die Option des Nichtwählens umfassenden politischen Freiheit, allzu leicht als freiheitliches Feigenblatt für die Flucht der Bürgerinnen und Bürger aus der politischen Verantwortung missbraucht werden kann. Ja, Nichtwählen sei geradezu selbstverschuldete Unmündigkeit, da man sich als Nichtwählerin willentlich von Repräsentantinnen vertreten lasse, die man nicht gewählt habe. Die Autoren folgern daraus die Notwendigkeit einer Wahlpflicht, um die Bürgerinnen vor der selbstauferlegten politischen Freiheitsberaubung zu schützen, und schlagen vor, das Fernbleiben von der Wahlurne mit einem Bußgeld zu belegen.

Die Argumente für eine Wahlplicht sind nicht neu und tatsächlich gibt es eine Reihe von Demokratien, in denen entsprechende Gesetze existieren, die allerdings nur in einer Handvoll Länder tatsächlich angewendet werden. Aber können die angeführten Argumente für eine Wahlpflicht überzeugen? Zunächst muss festgestellt werden, das Nichtwählen per se kein guter Indikator für den Gesundheitszustand einer Demokratie ist. Zumindest im Prinzip wäre es möglich, dass es auch Ausdruck einer kollektiven Gemütslage der Zufriedenheit sein könnte, da nicht von einem hohen Politisierungs- und Mobilisierungsgrad auf entsprechend hohe Qualität und Stabilität einer Demokratie geschlossen werden kann – sonst müssten schließlich die letzten Jahre der Weimarer Republik als Sternstunde der Demokratie gelten.

Dass nun auch beim Wählen Verantwortung eingefordert wird, sagt viel über unsere Zeit aus, in der den Menschen Verantwortung für alles und jeden, von der Altersvorsorge bis zu den zukünftigen Generationen abverlangt wird. Doch als Argument für die Wahlpflicht empfiehlt sich der Verantwortungsdiskurs gerade nicht, schließlich kann streng genommen nur dort verantwortlich gehandelt werden, wo auch die Freiheit besteht, es nicht zu tun. Wird Verantwortung nicht eingefordert, sondern verordnet, besteht überhaupt keine Möglichkeit mehr für verantwortungsvolles Handeln. Freilich ist „Verantwortung“ der Lieblingsbegriff des gegenwärtigen liberalen Paternalismus.

Zuletzt will auch das Argument der Volksvertreter, die man selbst nicht gewählt hat, nicht einleuchten. Schließlich müssen sich ja auch die Wählerinnen und Wähler, die 2009 ihr Kreuz nicht bei Union oder FDP gemacht haben, von einer Regierung vertreten lassen, die sie nicht gewählt haben. Im Übrigen sorgt schon das System der Parteilisten dafür, dass die Hälfte der Mandatsträger nicht im eigentlichen Sinne als Personen gewählt werden, sondern über ihren Listenplatz in den Bundestag einziehen.

Dass die Idee der Wahlpflicht bei näherem Hinsehen nur überschaubare Überzeugungskraft entfaltet, bedeutet aber noch nicht, dass die ihr zugrunde liegende Einschätzung der demokratischen politischen Kultur gänzlich verfehlt wäre. Die veröffentlichte Meinung bot über die letzten Wochen ein Bild seltener Einigkeit von der bürgerlichen bis hin zur nicht so bürgerlichen Presse. Der gemeinsame Nenner war das tiefsitzende Unbehagen an einem Nicht-Wahlkampf, der an Inhaltsleere und Trägheit sogar seinen unrühmlichen Vorgänger aus dem Jahre 2009 in den Schatten zu stellen drohe und dem im Gegenzug das geballte Desinteresse der Wählerschaft entgegenschlage. Zumindest die Kanzlerin verfolgte derart offenkundig eine Entpolitisierungsstrategie, dass ihr verwegener Politikstil den Philosophen Jürgen Habermas zur Wortneuschöpfung des Merkelschen ‚Tranquilismus‘ inspirierte.

Doch ist die Einführung der Wahlpflicht wirklich der einzige Weg, dem demokratischen Souverän Beine zu machen, oder gäbe es nicht auch andere Optionen, die mehr Dynamik in der politischen Auseinandersetzung versprächen, ohne gleich in paternalistischem Tugendfuror die Bürger zu zwingen, von ihrer politischen Freiheit Gebrauch zu machen? Wir sind der Meinung, dass als eine dieser Optionen die Einführung von Negativstimmen in Frage käme.

Das Prinzip ist sehr einfach: Wählerinnen können entscheiden, ob sie ihre Zweitstimmen für oder gegen eine Partei abgeben. Positiv- und Negativstimmen werden miteinander verrechnet und die Mandate werden gemäß der Nettostimmenzahl verteilt. Was spräche für eine solche Regelung? Zunächst einmal erweitert die Negativstimme die Bandbreite möglicher politischer Willensbekundungen der Wähler und kann damit als Beitrag zur staatsbürgerlichen Autonomie verstanden werden. So kann es schließlich einem Anhänger der CDU/CSU wichtiger sein, mit seiner Negativstimme dafür zu sorgen, dass die NPD nicht in den Bundestag einzieht, als mit einer Positivstimme die Union zu stärken. Gleiches gilt für diejenigen, die womöglich zu wenig für die SPD übrig haben, um für sie zu stimmen, aber mit einer Negativstimme für die FDP die Wiederauflage der aktuellen Regierungskoalition verhindern wollen. Die Negativstimme bietet in dieser Hinsicht schlicht die Chance, politische Präferenzen – auch negative – differenzierter auszudrücken, und im Lichte demokratischer Prinzipien gibt es keinen Grund, negative politische Willensbekundungen nicht als ebenso legitim wie positive anzusehen. Darüber hinaus ließe sich auch ein beträchtlicher Mobilisierungs- und Politisierungseffekt als Folge einer solchen Regelung vermuten. Man mag das bedauern, aber unter den Nichtwählern gäbe es vermutlich viele, die zumindest ihrer Unzufriedenheit mit einer bestimmten Partei Ausdruck verleihen wollen. Im Moment könnten sie zum Zweck der ‚Abstrafung‘ einer (Regierungs-)Partei entweder nichtwählen oder eine Protestpartei wählen, die zumeist an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Stattdessen könnten sie mit der Neuregelung eine Negativstimme abgeben und so ohne jede Zweideutigkeit ihre politischen Präferenzen bekunden. Hinzu kommt, dass die Negativstimme nicht nur vermutlich eine höhere Wahlbeteiligung mit sich brächte, mit ihr würde das Wahlergebnis als Willensbekundung des demokratischen Souveräns um einiges aussagekräftiger. Denn schließlich wären doch sowohl das Vorliegen wie auch das Fehlen vieler Negativstimmen für alle oder nur eine bestimmte Partei höchst aufschlussreich – nicht zuletzt für die Parteien selbst, die so möglicherweise auch gezwungen wären, ihre politische (Wahlkampf-) Strategie zu überdenken. Könnte dies in Extremfällen bedeuten, dass Parteien am Ende des Wahlabends nur über einige tausend Nettostimmen verfügen oder gar ein negatives Nettoergebnis erzielen? Ja, aber schließlich wäre dies nur eine differenziertere Darstellung des Wählerwillens in seiner politischen Zustimmung und Ablehnung, und sollte es tatsächlich parteiübergreifend nur geringe Nettostimmenzahlen geben, so müssten daraus eben die unangenehmen Schlussfolgerungen bezüglich der Legitimation des Parteiensystems insgesamt gezogen werden – die nun aber klarer wären als im Fall eines heterogenen Reservoirs von Nichtwählern, deren Motivlage für die Wahlabstinenz unklar bleibt. Auch der Einwand, das Negativstimmensystem würde zu einer Polarisierung bei Politik und Wählern führen und durch eine möglicherweise vergiftete Stimmung das verhindern, was auch zur Demokratie gehört, nämlich zumindest punktuell parteiübergreifende Kooperation, lässt sich leicht entkräften. Klar ist, dass ein solches System nicht für jeden politischen Kontext geeignet ist; doch eine mittlerweile stabile Demokratie, wie sie in Deutschland existiert und die in den letzten Jahrzehnten weder durch Instabilität noch durch extreme Polarisierung aufgefallen ist, könnte sich eine solche Belebung des politischen Geschäfts, das in einer Demokratie gerade auch der Konfrontation und gegenseitigen Kritik bedarf, vermutlich leisten. Bevor jedenfalls die Bürger zur Wahl verpflichtet werden, sollte zumindest erwogen werden, ob die elegantere Lösung nicht darin besteht, ihre Wahlmöglichkeiten auszuweiten. Gegenstimmen nicht als „ungültige“ Stimmen verdrängen zu müssen, stände der deutschen Demokratie gut zu Gesicht.

 

Thomas Biebricher vertritt im Moment die Professur für Internationale Politische Theorie am Exzellenzcluster ‚Die Herausbildung normativer Ordnungen‘. Er arbeitet an einem Buchmanuskript mit dem Titel ‚The Political Theory of Neoliberalism‘. Dorothea Gädeke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Leibniz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit“ an der Professur für Politische Theorie und Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Sie arbeitet an einer Dissertation zum Thema „Gerechtigkeit und Beherrschung. Zur normativen Dialektik der Universalisierung der Demokratie“. Frieder Vogelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen. Er hat in der Philosophie in Frankfurt zum Thema „Im Bann der Verantwortung“ promoviert.“


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