Vor der Wahl: Theoretische Reflexionen über das Herzstück der Demokratie, Teil II

Gestern haben Thomas Biebricher, Dorothea Gädeke und Frieder Vogelmann mit ihrem Beitrag zum negativen Stimmrecht auf dem Theorieblog eine Debatte über den Wahlakt und dessen Modalitäten gestartet. Heute schließt Sebastian Huhnholz an: Im Zentrum seines Beitrages steht noch einmal eine genauere Auseinandersetzung mit der im ZEIT-Artikel von Speer und Herr proklamierten Wahlpflicht. Doch lest selbst…

Kreuz oder Leben! Zum jüngsten Vorschlag, eine Wahlpflicht zu erzwingen

„Wir sind jung“, so geht’s schon mal los. In einer August-Ausgabe der traditionell als liberal geltenden Wochenzeitung DIE ZEIT versammeln Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer unter dem bezeichnenden Titel „Wer nicht wählen will, soll zahlen“ Vorschläge zur Ausweitung der postdemokratischen Kampfzone. Die beiden Berliner Studenten, lässt DIE ZEIT wissen, waren schon vergangenes Jahr Mitautoren eines „Zukunftsmanifests“, einer Sammlung von „Sorgen“ ihrer „Generation“, die „elf junge Menschen“, überwiegend parteigebunden, der Öffentlichkeit mitzuteilen hatten. Dieses Jahr nun sei es das Anliegen ihrer Generation, den Wahlzwang einzuführen. Denn die Entscheidung, einem Wahlgang aus gleich welchen Gründen fern zu bleiben, sei „keine Freiheit, sondern selbst auferlegte Freiheitsberaubung“

Angesichts der für kommenden Sonntag prognostizierten Massennichtwahl ist Herrs und Speers Staatsbürgerkundelektion nicht nur dem Anlass nach akut, sondern auch dem Ton nach. Harald Welzers Nichtwähleressay im SPIEGEL, auf den auch Herr und Speer sich beziehen, hatte schon von drastischen Anfeindungen gegen Nichtwähler berichtet. Auch die Frage, warum derselbe SPIEGEL angesichts knapper Mehrheiten dieser Tage aggressiv nachschießt, um noch einige Restwähler zu ertüchtigen, steht auf einem anderen Blatt. Herr und Speer indes vergreifen sich nicht allein im Ton, wenn sie ihr eigenes Wahlzwangplädoyer nun mit paternalistischer Nichtwählerbeschimpfung („dämlich“, „nutzlos“, „unverantwortlich“) absichern, es mit der ihrer „Generation“ antrainierten Rhetorik der Terrorismusbekämpfung ausstaffieren („Nichtwähler stellen keine Weichen, sondern sprengen gleich den ganzen Gleisabschnitt.“) und zu allem Überfluss auch noch den Jargon finsterster deutscher Vergangenheit kopieren („verwirken unseren Anspruch auf […] Freiheit […]“).

Herr und Speer schaden auch der eigentlich wichtigen Sache. Ihrem Vorschlag ist es offenbar einzig darum zu tun, das zur Wahl Stehende auf technokratischem Wege mit verlogenem Zuspruch zu versorgen. Denn beiden geht es ausdrücklich um keine parteipolitische oder inhaltliche Wahl. Der Bürger soll einfach etwas ankreuzen, notfalls ein „Enthaltungsfeld“, andernfalls gehört er bestraft. So gerät den Autoren ihr Wählertypus unversehens zum erpressten Laienschauspieler einer konsolidierungsstaatlichen Theaterdemokratie. Herr und Speer scheint die Quotenerhöhung an sich bereits als qualitative Legitimationsbeschaffungsmaßnahme zu gelten – ganz so, als böten technische Ansätze werthaltige Lösungen für eigentlich normative Legitimierungsdefizite und substantielle Leistungskrisen einer Demokratie. Doch der Wahlzwang bietet gar keine Lösung seines eigenen Problems, im Gegenteil.

Über Wählen und Strafen

Die politische Idee einer Wahlpflicht ist nichts Neues. Vielen klassischen Demokratietheorien der Politik sind Zwangsargumente bekannt, mit denen Gleichgültige ebenso wie Abweichler im Denken und Handeln identifiziert und gefügig gemacht werden sollen. Auch dass Strafandrohungen gegen Nichtwähler gerade die Phantasien der am schwächsten legitimierten Politikvertreter beflügeln, dürfte einleuchten. Zuweilen stehen ja selbst verdiente Politologen einer Wahlpflicht als demokratierevitalisierender Idee aufgeschlossen gegenüber und halten den mit einer Zwangswahl verbundenen Verlust urliberaler Freiheitsrechte für abwägungswürdig. Doch auch jenseits theoretischer Konstruktionen und egoistischer Wünschbarkeiten ist die Wahlpflicht mitnichten weltfremd. Viele heutige Staaten kennen diverse Varianten der Stimmabgabenerzwingung und der Sanktionierung von Wahlabstinenz. Darunter befinden sich neuarabische Experimentalregimes, auch manche lateinamerikanische und südostasiatische Demokratie.

Selbst traditionell liberaldemokratische Rechtsstaaten, wie sie die westlichen Politiksysteme häufig stellen, kannten einst lokale oder nach Wählergruppen selektierende Instrumente der Wahlverpflichtung. Wie etwa Australien, die Niederlande oder Österreich hatten sie solche Maßnahmen in Umbruch- oder Krisenzeiten benutzt, um Kriegsfolgelasten, rezessionsbedingte Legitimationsdefizite oder föderale Ungleichgewichte zu regieren, um lokale Patrimonialrelikte trockenzulegen, Minderheiten zu schützen oder sanfte Motivationsanreize für noch junge Demokratien zu setzen.

So haben wir zwei legal-rationale Varianten der Wahlstimulation zu unterscheiden, namentlich einen ermutigenden Anreiz vom repressiven Zwang. Zwischen beiden, Freiwilligkeit und Pflicht, mag eine Skala verlaufen. Doch scheint es, als sei zumindest für etablierte liberaldemokratische Rechtsstaaten ein umfassender Wahlzwang im Wortsinn ab-wegig. Drei Gründe dafür seien im Folgenden ausgeführt.

Stimmvieh, dein Name sei Bürger?

Die erste Perspektive ist schlicht formalistisch. Verfassungsrechtlich ist auch in der BRD der Wahlzwang ausgeschlossen, Art. 38, Abs. 1 und 2 GG sind hier eindeutig. Sie regeln, wer „[w]ahlberechtigt“ ist, in „freier“ Wahl zu wählen.

Allerdings ist solch eine positivistische Perspektive billig zu haben. Gute Gründe sind besser als rechtsdogmatische. Doch auch hier sind Herr und Speer auf abschüssigem Grund. Denn jenseits der legalistischen Frage spricht gegen ihren Vorschlag, dass dahinter just die Umkehrung des Böckenförde-Theorems steht, gemäß welchem die Freiheitlichkeit des liberaldemokratischen Rechtsstaates um seiner Selbsterhaltung willen nicht erzwungen werden dürfe. Anders: Nach Böckenförde könne eine liberale Demokratie nicht durch legale Zwangsmittel die Produktion von Demokraten erzwingen und zugleich liberal bleiben. Wer Zwangsdemokraten züchtet, verliert die Herzensdemokraten und gewinnt Sonntagsdemokraten.

Hiergegen wird von Parteigängern der Wahlpflicht üblicherweise ins Feld geführt, der Staat reklamiere doch Anspruch auf Steuern und Wehrpflicht, warum denn nicht auch auf ein parteiliches Bekenntnis? Der Vergleich übersieht Wesentliches: Nicht nur werden Steuern leistungsabhängig erhoben und durfte der (derzeit ausgesetzte) Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert werden. Zäher noch hinkt der Vergleich, weil gerade in Fällen der Fiskalität und der Landesverteidigung jede Simulation näher an den Abgrund führt: Während ein Reichtum heuchelnder Hochstapler jede Steuerprognose Makulatur werden lässt, sind an der Front aufgestellte Pappkameraden für Armee, Staat und das Überleben aufrechter Kämpfer unweit gefährlicher als eine bedingungslose Kapitulation.

Damit ist ein dritter Faktor adressiert, der wohl die Frage ums Ganze beinhaltet: Was ist eine Wahl? Hier gilt es, zwei mal zwei Varianten zu unterscheiden, eine politische und eine dezidiert demokratische Paarung: Zum Ersten sollte die bewusste Nichtwahl als Protestwahl oder Ausdruck der Nichtzustimmung von politikferner Wahlenthaltung separiert werden. Ob eine Wahlenthaltung Protest und Ernüchterung oder Gleichgültigkeit und prinzipielle Zustimmung artikuliert, darf keine Frage sein, die durch gravierendste Grundrechtsmanipulation generalpräventiv beantwortet wird, bevor sie sich als konkrete Verfassungsgefahr anzeigt. Die proaktiv gouvernementale Maßregelung steht dem Rechtsstaat gerade in Wahldingen so wenig zu wie Gesinnungsschnüffelei oder politischer Bekenntniszwang. Denn selbst der Nichtdemokrat ist nicht notwendigerweise Antidemokrat, der Nichtwähler nicht per se Wahlfeind. Die politische Evolution bricht ab, sobald das kreativitätsfeindliche Rechtssystem Untertanenklone auf bloße Akklamation offiziöser Reproduktionsprozeduren abrichtet. Eine offene Gesellschaft überdies muss das unpolitische Leben nicht nur zulassen. Sie muss es ihrer leidgeprüften Vergangenheit wegen und um ihrer Selbsterhaltung willen bedingungslos schützen. Und dies umso mehr, als es Herr und Speer „nutzlos“ erscheint.

Doch bleibt noch die zweite, die demokratiereferentielle Variante der Antwort auf die Frage, was eine Wahl ist. Sie ist die gängige: Der Bürger wählt, sich der zur Verfügung stehenden Auswahl zu stellen. Und spätestens hier wird der Vorschlag Herrs und Speers auch formal obszön. Einmal in die Kabine genötigt nämlich darf nun auch der Neuwähler machen, was ihn schon als Nichtwähler auszeichnete: nicht wählen. Er soll einfach ankreuzen, irgendwas, sich notfalls enthalten. Wer mit einem dermaßen stark moralistisch auftrumpfenden Pathos wie Herr und Speer fordert, gefälligst ‚so zu tun als ob’, und zwar ausschließlich, damit das simulierte Angebot sich durch geheuchelte Nachfrage bestätigt fühlt, muss die mit wesentlichen Grundrechten und Vergangenheitslehren forsch brechende Entmündigung des mündigen Wahlberechtigten normativ begründen statt in der selbstgerechten Pose des jugendstolzen Demokratieingenieurs Nichtwähler zu verhöhnen. Angesichts der Abgeklärtheit aber, mit der Speer und Herr auf den technokratischen Vollzug systemischer Verfahren vertrauen, stellt sich die Frage: Wozu eigentlich noch Demokratie?

 Spätliberale Sozialtechnokratie

Freilich bleibt Demokratie für denjenigen eine unauffindbare black box, dem es ausschließlich darum zu tun ist, durch eine „größere Wahlbeteiligung […] die Legitimation des Parlaments und der Regierung, die es dann wählt“, zu „erhöhen“. Auf Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, so argumentierte nicht erst Habermas im zweiten Band der Theorie des kommunikativen Handelns, pflegen wir mit dynamisiertem Wachstum zu reagieren. Warum also nicht auch im Zustimmungsdefizit nur ein Beteiligungsquotenproblem erkennen und es aalglatt minimieren?

Das ist das Dilemma, das unter dem Label „Postdemokratie“ seit einigen Jahren verhandelt wird. „Das Unbehagen an der Demokratietheorie“ von Hubertus Buchstein und Dirk Jörke ist vielzitiert, das FJNSB-Schwerpunktheft „Postdemokratie“ nicht minder. Auch in dem der Postdemokratie ebenfalls intensiv nachspürenden Folgeheft der nunmehr „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“ genannten Institution fragte in diesem Januar unter dem Titel „Demokratischer Symbolismus“ Emanuel Richter, woran wir Demokratien eigentlich erkennen, wenn doch allerorts die eigentümlichsten Stilblüten, Erregungsecken und digitalen Ätherkrippen als irgendwie „demokratische“ avancieren. Von Colin Crouch, Alain Badiou über Jürgen Habermas, Claus Offe, Herfried Münkler, Sighart Neckel, Raymond Geuss, Chantal Mouffe und Luc Boltanski bis Wolfgang Streck erscheinen dieser Jahre, Monate und Wochen immer häufiger mal mehr resignierte, mal mehr engagierte, insgesamt aber deutlich beunruhigende Zahlen von sich auch der breiten Öffentlichkeit anzeigenden Kritikern scheindemokratischer Fassadenpolitik.

Fraglos kann man auf solche Bedenken mit Orwellscher Dialektik reagieren: „Zwang“, so Herr und Sperr, „sollte nur eingesetzt werden, wenn er unvermeidlich ist. Bei der Wahlpflicht ist diese Notwendigkeit gegeben.“ Man kann auch schlicht wandzeitungsagitatorische Fröhlichphrasen dreschen: „Und somit erinnert uns die Wahlpflicht daran, unsere Freiheit wahrzunehmen und dadurch zu wahren.“ Davon stirbt keine Demokratie; allenfalls stellen sich ihre Nachlassverwalter vor. Schwerer wiegt, dass Herr und Speer die ernsten Auswüchse der Postdemokratie mit neoliberal verspielter Phantasielosigkeit kurieren wollen, indem sie auf moralische Prämien spekulieren, nämlich Bußgelder (Was sonst?) von Nichtwählern (Wem sonst?) fordern, die dann einem guten Zweck (Wozu sonst?) zukommen sollen.

Hier spätestens gilt dann aber in Anlehnung an Henry David Thoreaus „Civil Disobedience“: ‚Der Stimmzettel ist unschuldig; mich beschäftigt vielmehr die Folge meiner Treue als Untertan.’ Denn noch der Wahlakt verkäme hierbei zur Farce. Wenn das den Nichtwählern abgepresste Geld „beispielswiese“ tatsächlich „in den Bildungsetat der Länder“ einflösse, um „politische Bildung an Schulen stärker zu unterstützen“, konterkariert sich der Wahlzwang ins Bodenlose. Das Bußgeld würde essentielle Staatsaufgaben substituieren und weniger den Nichtwähler als den Wähler erpressen. Läse man nicht bald Warnhinweise auf Wahlplakaten? Motto: „Wählen macht dumm!“ Freilich ließe sich der ‚gute Zweck’ der Abgabe beliebig ändern. Wie wäre es mit Hilfen für Kriegsopfer, für den Aufbau West, für schönere Innenstädte? Oder warum nicht mittels Wahlverweigerung kranke Kinder heilen? Motto: „Kreuz oder Leben!“

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