Vom 18. bis 19. Juli fand in Dresden die Tagung „Global Constitutionalism. Legal Concepts and Emerging Transnational Orders“ statt. Organisiert wurde sie von Hans Vorländer, Oliviero Angeli und Steven Schäller. Die Tagung stellte unter anderem die Bilanz des DFG-Forschungsprojektes „Die Konstitutionalisierung transnationaler Räume“ zur Diskussion, an dem die drei Organisatoren beteiligt sind.
Der erste und der letzte Vortrag bildeten gewissermaßen den inhaltlichen Rahmen, innerhalb dessen sich die Konferenz bewegte: Im ersten Vortrag über „Cosmopolitan conditions for legitimate sovereignty“ erklärte Matthias Kumm (WZB/New York University), einer der profiliertesten Vertreter des „Global Constitutionalism“, gleich zwei Grundpfeiler staats- und demokratietheoretischen Denkens für obsolet: erstens die Vorstellung einer Legitimität von Autorität, die sich auf den gründenden Akt eines Volkes, eines „We, the people“ beruft und zweitens die Idee der uneingeschränkten Souveränität des Nationalstaats. In seiner Begründung, warum es keine für sich allein stehende, sich nur auf den Gründungsakt durch das Volk berufende konstitutionelle Legitimität geben kann, konzentrierte sich Kumm auf die Bedeutung von gerechtigkeitsrelevanten negativen Externalitäten, wie sie etwa durch die Produktion von Umweltbelastungen oder die Nichtbekämpfung organisierter Kriminalität hervorgerufen werden. Diese können – im Unterschied zu nicht gerechtigkeitsrelevanten Externalitäten – nicht einfach unilateral unter Berufung auf die konstitutionelle Legitimität des Handelns in einem Staat gelöst werden, da vernünftige Uneinigkeit zwischen Staaten über diese Probleme immer vorhanden ist. Jeder Versuch, gerechtigkeitssensible Externalitäten doch unilateral anzugehen, läuft, so Kumm, auf Herrschaftsausübung hinaus.
Gerade diese emanzipatorische, fortschrittsorientierte Vorstellung von einem globalen Konstitutionalismus wurde jedoch im letzten Vortrag mit dem Titel „South America and the reemergence of the constituent power“, in Frage gestellt: Hier verwies der in São Paulo lehrende Rainer Schmidt auf die Position vieler lateinamerikanischer Länder, in denen die Idee eines globalen Konstitutionalismus im Gegenteil als eine neue Form der von außen kommenden (neo-)liberalen Einmischung wahrgenommen wird. Gerade die beiden Pfeiler, die Kumm zum Einsturz bringen möchte, gelten, so Schmidt, beispielsweise in Brasilien, Venezuela, Ecuador und Bolivien als Errungenschaften: In diesen ehemals eher oligarchischen Staaten wurden in den vergangenen Jahren tief greifende Umwälzungen in Gang gesetzt und teilweise neue Staatsverfassungen ausgearbeitet, in denen die permanente Beteiligung einer Mehrheit der Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen eine zentrale Rolle spielte. Die Idee eines lebendig gehaltenen „pouvoir constituant“ – die mit einer Ablehnung von jeglicher externer Einmischung einhergeht – rückte hier in den Mittelpunkt des Interesses.
Bei genauerer Betrachtung, dies machte der Vortrag von Schmidt ebenfalls deutlich, sind aber auch diese Prozesse einer „Reemergenz des pouvoir constituant“ in Lateinamerika keine Wiederbelebung des aus der französischen oder amerikanischen Verfassungstradition bekannten Modells eines „We, the people“: So geht es beispielsweise in Bolivien explizit um die Verfassung eines „estado plurinacional“, in dem die verschiedenen indigenen Völker repräsentiert sein sollen.
Antje Wiener (Hamburg) greift genau diese neue Pluralität von Akteuren in dem Projekt „Constitutionalism Unbound“ auf, das sie in Dresden präsentierte. Bereits der Titel bringt zum Ausdruck, dass es diesem internationalen Forschungsvorhaben darum geht, die Frage des Konstitutionalismus aus der Fixierung auf den Staat ganz zu lösen. Dazu sollen die potentiellen „konstitutionellen Qualitäten“ aufgespürt werden, die sich in Prozessen ungebundener Konstitutionalisierung entwickeln und möglicherweise zu globalen Machtverschiebungen führen. „Konstitutionelle Qualitäten“ möchte Wiener mit zwei Kriterien beobachtbar machen: das legitimitätsstiftende Moment des „pouvoir constituant“ und das Vorhandensein gemeinsamer normativer Wurzeln.
Der Frage, wie „pouvoir constituant“ und demokratische Legitimität in globalen Institutionen verwirklicht werden könnten, widmete sich Markus Patberg (Darmstadt/Hamburg) in seinem Vortrag „Constituent Power and the Democratic Legitimacy of Institution Building in the Global Realm“. Dabei führte er zunächst eine ganze Reihe von Gründen an, warum die weit verbreitete Konstruktion des demokratischen Intergouvernementalismus unfähig ist, demokratische Legitimität für internationale Organisationen zu generieren: So fehlt ihr etwa die deliberative Dimension, sie verletzt die Gewaltenteilung und setzt die Unterscheidung von konstituierter und konstituierender Macht außer Kraft. Als Gegenkonzept entwarf Patberg eine alternative Theorie internationaler institutioneller Politik und schlug ein Modell permanenter konstituierender Versammlungen vor, die für die Gesetzgebung jenseits des Staates zuständig sein sollen. Sein Konzept basiert letztlich, wie in der Diskussion deutlich wurde, auf einer positivistischen Grundhaltung: Was vom „pouvoir constituant“ ausgeht, ist auch legitim.
Die genaue Gegenposition bezog Alon Harel (Hebrew University Jerusalem): Wie er selbst in der Diskussion bestätigte, sprach aus seinem Vortrag ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den politischen Akteuren, das sich wohl auch auf einen hypothetischen permanent gehaltenen globalen „pouvoir constituant“, wie ihn Patberg vorschlägt, ausweiten lässt. In seinem Vortrag „Why constitutional rights matter“ skizzierte er die Grundlage seines „sehr deutschen Projektes“, wie er es nannte, nämlich herauszuarbeiten, warum es auf die konstitutionelle Garantie von Rechten ankommt, und das Ergebnis, also etwa die faktische Bewahrung eines Rechts, nicht allein ausschlaggebend ist: Nur das Vorhandensein bindender konstitutioneller Direktiven befreit den Bürger aus der Abhängigkeit von der „Gnade des Gesetzgebers“.
Schließlich fokussierte der Vortrag von Oliviero Angeli und Steven Schäller auf das Legitimitätsproblem emergierender globaler Konstitutionalisierung. Die Titelfrage „Emerging Constitutional Orders?“, bejahten sie zwar, fügten aber hinzu: Die Legitimitätsbehauptung dieser globalen Konstitutionalisierungen ist empirisch ungeklärt. Dabei verwiesen sie darauf, dass sich jenseits der Nationalstaaten eine Konzeption des „small ‚c’ constitutionalism“ etabliert hat, in der es primär um die Konvergenz konstitutioneller Vorstellungen über Grenzen hinweg geht. Diese Konvergenz konstitutioneller Vorstellungen soll – normativ – ein neues Legitimitätsreservoir darstellen, das durch richterliche Anwendung ausgeschöpft wird. Dieser Fokus ist jedoch, so Angeli und Schäller, aus politikwissenschaftlicher Perspektive unbefriedigend, weil er sich auf die Interaktion von Gerichten konzentriert und dabei die gesellschaftlichen Interpretationen und Vorstellungen außer Acht lässt, die in der allgemeinen Öffentlichkeit zum Ausdruck kommen und solche kosmopolitischen Normen untermauern könnten – oder eben nicht.
Sowohl der globale Konstitutionalismus als auch die anderen während der Tagung diskutierten Ansätze bieten einen Lösungsvorschlag für ein altbekanntes und dennoch hochbrisantes Problem: In der globalisierten Welt hat das Handeln einzelner Akteure grenzüberschreitende Folgen, aber es ist unklar, wer die Legitimität besitzt, dieses Handeln zu regulieren. Ob der globale Konstitutionalismus die überzeugendste Lösung für dieses Problem zu bieten hat, muss auch nach der Konferenz offen bleiben. Auf jeden Fall aber schärften die Kontroversen, die sich während der Tagung ergaben, den Blick auf einige der Kernfragen: Ist die Durchsetzung universaler Normen und Regeln gefragt, oder gilt es die Partikularität der Nationalstaaten, Regionen und lokalen Einheiten gegen Fremdsteuerung zu schützen? Sollen Konflikte rechtlich reguliert oder politisch ausgefochten werden? Verlangt die hohe Komplexität von Problemen in der globalen Arena in erster Linie nach Expertenwissen oder kann nur breite Bürgerbeteiligung zu legitimen Entscheidungen führen? Obwohl oftmals Fragen der Realisierbarkeit von Reformvorschlägen nur angerissen werden konnten, hat die Tagung die Herausforderung jeder wissenschaftlichen Veranstaltung gemeistert, nämlich, sich mit „weltbewegenden“ Fragen zu beschäftigen, ohne dabei nur um sich selbst zu kreisen.
Christine Unrau schreibt ihre Dissertation über „Erfahrung und Engagement: Motive, Formen und Ziele der Globalisierungskritik“ am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Köln und arbeitet am Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research in Duisburg im Projekt „Globale Kulturkonflikte und transkulturelle Kooperation“.
Vielen Dank für diesen, wie ich finde, sehr prägnanten Bericht zu einer sehr inspirierenden Tagung! Zur Zusammenfassung meines Beitrags würde ich allerdings gerne folgende Anmerkung machen. Ich finde, dass das Fazit – „Sein Konzept basiert letztlich auf einer positivistischen Grundhaltung: Was vom ‚pouvoir constituant’ ausgeht, ist auch legitim.“ – die These meines Papiers und den Inhalt der Diskussion zu sehr zuspitzt und mir eine Position zuschreibt, die ich nicht vertrete.
Es ist zwar richtig, dass die von mir präsentierte Konzeption konstituierender Gewalt in einem bestimmten Sinne *rechts*positivistisch ist. Das hängt damit zusammen, dass sie auf einem Verständnis von Volkssouveränität als Kontrolle der Rechtssetzung durch den demos (sowohl auf verfassungsrechtlicher Ebene als auch hinsichtlich der ordentlichen Gesetzgebung) beruht. Daraus folgt aber nicht, wie ich in Erwiderung auf eine von Matthias Kumm formulierte Frage zum Ausdruck zu bringen versucht habe, dass Entscheidungen des pouvoir constituant nicht aus normativer Perspektive kritisch evaluiert werden können. Vielmehr bin ich der Auffassung, dass verfassunggebende Gewalt sowohl in prozeduraler als auch in substanzieller Hinsicht bestimmten Legitimitätskriterien gerecht werden muss. Beispielsweise sind Verfahren, die einen Teil der Betroffenen vom verfassungspolitischen Meinungs- und Willensbildungsprozess exkludieren (prozedurales Legitimitätsdefizit) ebenso problematisch wie Entscheidungen, die zur Konstituierung einer politischen Ordnung führen, welche grundlegenden Menschenrechten widerspricht (substanzielles Legitimitätsdefizit). Es ist keinesfalls alles legitim, was vom pouvoir constituant ausgeht.
Ich nehme an, dass der Satz „Was vom ‚pouvoir constituant’ ausgeht, ist auch legitim“ meine Antwort auf eine Frage zusammenfassen soll, die von Kerstin Budde in ihrem Kommentar aufgeworfen wurde. Diese richtete sich auf die Möglichkeit, dass die Öffnung internationaler Institutionen für demokratische Verfassungspolitik faktisch zu unerwünschten Ergebnissen führen könnte, z.B. zu einem absoluten verfassungspolitischen Deadlock oder gar zur Abschaffung eigentlich wünschenswerter internationaler Institutionen. In dieser Hinsicht habe ich tatsächlich eine (wenn man so will) klar rechtspositivistische Position vertreten: *Insofern* die Ausübung konstituierender Gewalt jenseits des Staates sich in prozeduraler und substanzieller Hinsicht *legitim* vollzieht, müssen wir die Ergebnisse akzeptieren, ganz gleich ob sie uns politisch ratsam erscheinen oder nicht.