Wer sich Anfang September dem Hochschulgelände der Science Po Bordeaux näherte, den konnte das Gefühl beschleichen, eher auf einer Großbaustelle denn auf der größten politikwissenschaftlichen Tagung Europas (mit über 2000 Teilnehmern und weit über 400 Panels) gelandet zu sein. Angesichts großflächiger Bauarbeiten mussten viele Diskussionen in behelfsmäßig aufgestellten Containern abgehalten werden, in denen die südfranzösische Nachmittagssonne den Teilnehmern den Schweiß auf die Stirn trieb. Die insgesamt recht mangelhafte Organisation, verstärkt durch die Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl großer Namen kurzfristig ihre Teilnahme absagte (u.a. Arash Abizadeh, Rainer Forst, Pablo Gilabert, Allen Buchanan, Miriam Ronzoni, Catherine Lu), bewirkte, dass die diesjährige ECPR General Conference bei vielen zunächst einen etwas enttäuschenden Eindruck hinterließ. Davon unbenommen, kam es jedoch in vielen Panels zu komplexen und vielschichtigen Auseinandersetzungen, von denen an dieser Stelle natürlich viele gänzlich unerwähnt bleiben müssen. Im Folgenden wollen wir vielmehr anhand zweier Sektionen einige Eindrücke vermitteln, die von der Nischensuche der Politischen Theorie im System der ECPR zeugen: zwischen politikwissenschaftlicher Reflexionsinstanz und praktischer Philosophie, abstrakt-konzeptueller Reflexion und praxisnaher Theorie, zwischen der Abhängigkeit von empirischen (Macht-) Analysen und der „Reinheit“ normativer Prinzipien. Mit Blick auf eine Konferenz, in der von 56 thematischen Sektionen nur zwei explizit theoretisch ausgerichtet waren, drängt sich die Frage danach, wie sich die Politische Theorie mit Bezug auf die empirische Politikwissenschaft heute positioniert und definiert, geradezu auf.
Die Sektion „International Political Legitimacy: Normative Theory for Real World Politics“ (organisiert von Eva Erman und Terry MacDonald) trug den Versuch der Annäherung an die empirische Politikwissenschaft bereits im Titel. Hier wurden über zwei Tage Fragen der „Legitimität globaler Institutionen“ diskutiert. In der Internationalen Politischen Theorie tritt, wie in wenigen anderen Feldern, die Spannung zu Tage zwischen einem Verlangen (und einem wachsenden Druck), möglichst angewandt und wirklichkeitsnah zu arbeiten einerseits und stärker konzeptionellen Debatten andererseits. (Für letztere steht exemplarisch die in den letzten Jahren bis an die Grenze des Formelhaften geführte Auseinandersetzung zwischen „relationalen“ und „nicht-relationalen“ Theorien globaler Gerechtigkeit. Siehe unter anderem auch die Debatten bei der DVPW Sektionstagung 2009). Diese grundlegende Spannung spiegelte sich auch in den Panels der Sektion wieder.
So wurde die entscheidende Frage von Rainer Schmalz-Bruns im ersten Panel auf den Nenner gebracht: Was für eine Art von Theorie suchen wir überhaupt mit Bezug auf normative Fragen globaler Beziehungen? Diese Frage war von den Panelteilnehmern Anja Karnein (zur Interessensvertretung zukünftiger Generationen in der Klimapolitik), Matthias Iser (zu legitimem Gewalteinsatz in der internationalen Politik) und Julian Culp (zur Rolle aufstrebender Schwellenländer für globale Gerechtigkeit) – trotz aller Unterschiede – einhellig beantwortet worden: Was wir brauchen, ist in erster Linie eine Theorie legitimer oder gerechter Institutionen bzw. deren Design. Bob Goodin zog (in seiner Antwort auf die Vorträge von Eva Erman, Costica Dumbrava und Caleb Yong) mit einem eindringlichen Plädoyer (in gewohnter Polemik) gegen diese Art der normativen Theorie zu Felde: Während in philosophischen Instituten normative Fragen mit rigoroser Argumentation “logically driven, from first premises“ beantwortet würden, bewege sich die politische Theorie politikwissenschaftlicher Provenienz oft in den engen Grenzen vordefinierter Debatten (die als verlässliche “stepping-stones“ dienen) und komme so selten über originalitätsfreies Stückwerk hinaus. Die Frage, wie (internationale) Politische Theorie handlungsanweisend und praxisrelevant sein kann, ohne den Anspruch philosophischer Tiefenschärfe zu verlieren, stellte sich immer wieder. Kann etwa die Abwanderung medizinischen Personals aus Entwicklungsländern als Menschenrechtsverletzung angeprangert werden, ohne eine (notwendigerweise kontroverse) Theorie der Menschenrechte zu Grunde zu legen (Leif Wenar zu Esztar Kollar)? Wie können wir über ein so konkretes Problem nachdenken wie unsere Pflichten gegenüber politischen Gemeinschaften, deren Territorium durch den (durch Klimawandel verursachten) Anstieg des Meeresspiegels verschwindet (Jörgen Ödalen), ohne eine grundlegendere Theorie globaler Gerechtigkeit vor Augen zu haben? Inwieweit sollte eine philosophische Theorie der Menschenrechte die Rolle und Funktion des Konzepts in politischen Diskursen und Institutionen widerspiegeln (Jesse Tomalty, Ayelet Banai)?
Neben den oft anwendungsorientierten Einzelfragen wurde im letzten Panel („Real World Justice in International Political Theory: Which Methodology?“) neben begrifflichen Analysen (von Theorieblogger Cord Schmelzle zum Legitimitätsbegriff) denn auch die konzeptionelle Debatte zwischen Relationisten und Nicht-Relationisten wieder aufgegriffen, was zu einer lebhaften Debatte zwischen den Vortragenden Stefan Gosepath und Tamara Jugov mit Frieder Vogelmann, Christian List, Caleb Yong, Matthias Iser und Anja Karnein führte. Letztlich stellte sich hier wohl die Frage, an welchem Punkt die Debatte zu globaler Legitimität steht. Die Panelteilnehmer, so schien es, konnten sich darauf einigen, dass eine einseitig relationale oder nicht-relationale Herangehensweise nicht zielführend sei. Die Bedeutung (der Analyse) tatsächlicher Dominierungs- und Machtbeziehungen für eine Theorie der Gerechtigkeit (und/oder Legitimität) scheint hier immer stärker in der Vordergrund zu rücken. Ist es nun also an der Zeit die konzeptuelle Debatte zu verlassen und sich den praxisnäheren Fragen empirischer Machtverhältnisse und des institutionellen Designs zu widmen? Aber inwieweit ist dies überhaupt die Aufgabe normativ arbeitender politischer Theoretiker?
Ähnliche Fragen standen, implizit oder explizit, auch in der von der Kantian Political Thought Standing Group organisierten Sektion unter dem Motto “Justification and Application: The Nature and Function of Political Norms” im Vordergrund. Kants politische Philosophie erfreut sich, nicht zuletzt seit Arthur Ripsteins vieldiskutiertem Buch Force and Freedom, nicht nur unter Kantwissenschaftlern, sondern auch unter normativen politischen Theoretikern mit, im weitesten Sinne, Kantianischem Einschlag, wachsender Beachtung. Eine Frage, die sich dabei immer wieder stellt, ist, inwieweit man Kants fundamentale philosophischen Positionen (einschließlich seines Transzendentalen Idealismus) von seiner politischen und Rechtsphilosophie trennen kann, sollte, oder sogar muss. Auf der einen Seite scheint die dominante Position in der politischen Theorie – spätestens seit Rawls’ Ruf nach einer weltanschaulich neutralen Begründung politischer Normativität – die zu sein, dass auf den Kantischen Zug nur noch aufspringen kann, wer vorher den metaphysischen Ballast abwirft. Dieser Sichtweise Rechnung tragend, versuchten einige Vortragende, “Kantianische“ Positionen in Bezug auf zeitgenössische Debatten zu entwickeln: so etwa zu den legitimen Bedingung der Sezession von politischen Gemeinschaften (Jonathan Peterson), des gerechten Handels (Liesbet Vanhaute) oder der institutionellen Ausgestaltung legitimer globaler Institutionen und Rechtsnormen (Howard Williams). Dies wirft gelegentlich dann doch die Frage auf, inwieweit es redlich und hilfreich ist, Kant als „besseren Rawls“ (Helga Varden) zu „mainstreamen“ und damit als analytischen politischen Philosophen wiederzubeleben, der uns aber häufig dann doch nicht mehr sagt, als wir ohnehin schon wussten. Dem standen stark exegetisch ausgerichtete Vorträge gegenüber, die sich mit rein theorieimmanenten Problemen auseinandersetzen, so Hugo el Kholy zum Begriff des „höchsten Guts“ oder Max Brinnich zum Kantischen Zeitbegriff. Am spannendsten wurde es immer, wenn die Paper eine systematische Auseinandersetzung mit Kant wagten, ohne sich in reiner Nabelschau zu ergehen. So etwa Karoline Reinhardt, die verschiedene argumentative Strategien diskutierte, Kants Kosmopolitismus mit einem „Recht auf Ausschluss“ zu versöhnen, oder Sorin Baiasus Diskussion der Rolle von Verteilungsgerechtigkeit in der Rechtslehre. Hier zeigte sich, dass besonders originelle Erkenntnisse und Sichtweisen vor allem bei Autoren zu Tage treten, die eng am Text arbeiten und Kants konkrete Einzelposition vor dem Hintergrund seiner grundlegenden philosophischen Standpunkte zu verstehen suchen, ohne den Blick dafür zu verlieren, was die Kantische Sicht politischer Normativität zu gegenwärtigen Debatten beitragen kann.
Insgesamt ergab sich das Bild einer Politischen Theorie, die sich in vielerlei Hinsicht in einem Prozess der Selbstdefinierung im Anschluss an, und Absetzung gegenüber, der empirischen Nachbardisziplin befindet – eine Debatte die mit Sicherheit auch auf der nächstjährigen ECPR General Conference in Glasgow – dann unter hoffentlich etwas angenehmeren Bedingungen – im Vordergrund stehen dürfte.
Johannes Schulz promoviert im Rahmen der Leibniz-Forschungsgruppe „Transnationale Gerechtigkeit” an der Professur für Politische Theorie und Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt.
Jakob Huber ist im Theorieblog-Team.
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