theorieblog.de | Presseschau 01/2013

12. August 2013, Huber & Huhnholz

Nachdem sich unsere beliebte Rubrik Presseschau (alte Ausgaben hier) eine längere Auszeit genommen hat, haben wir diesen Monat wieder einen Blick in nationale und international Journals geworfen. Anstelle eines allgemeinen Überblicks wollen wir diesmal pointiert ein paar ausgewählte Schwerpunkte vorstellen, kommentieren und zur Diskussion stellen, konkret: Diskussionen um die Normativität des politischen Liberalismus, die Debatte um die Krise des Spätkapitalismus und einige neue Argumente zur Diskussion um Freiheit und Verantwortung. Siehe da, auch in der akademischen Sommerpause tut sich Spannendes in der Politischen Theorie:

 

Die Normativität des Politischen Liberalismus

Wie umkämpft der normative Status liberaler Gerechtigkeitsprinzipien in pluralen Gesellschaften auch zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von John Rawls‘ „Political Liberalism“ ist, hat erst kürzlich Ulrike Spohns Beitrag hier auf dem Theorieblog und die sich daran anschließende lebhafte Diskussion gezeigt. Auch in den aktuellen Ausgaben vieler (vor allem englischsprachiger) Journals wird die Frage nach der Möglichkeit der „öffentlichen Rechtfertigung“ politischer Ordnungen innerhalb der theoretischen Prämissen des Politischen Liberalismus prominent gestellt. Dabei wird im Anschluss an Gerald Gaus‘ Konzept des „Justificatory Liberalism“ mittlerweile verstärkt die epistemische Dimension öffentlicher Rechtfertigung in den Fokus genommen, welche im späten Rawls eine eher untergeordnete Rolle spielte. So seziert etwa Fabienne Peter im Journal of Moral Philosophy den Begriff der „öffentlichen Rechtfertigung“ und argumentiert für dessen epistemische Autorität in von „vernünftigem Pluralismus“ charakterisierten Gesellschaften. Für Peters ist das entscheidende Argument für eine „freistehende“ öffentliche Rechtfertigung liberaler Prinzipien politischer Ordnung nicht in erster Linie ein moralisches, sondern die (epistemische) Unvermeidbarkeit „vernünftiger Uneinigkeit“. Eine ähnliche These verteidigt Michael Fuerstein im Journal of Political Philosophy, der zeigen möchte, dass liberale Institutionen „epistemisches Vertrauen“ der Bürger darin erzeugen, dass politische Entscheidungen tendenziell allen (vernünftigen!) Bürgern gegenüber mit guten Gründen rechtfertigbar zu sein vermögen.

Beide sind sicherlich ansprechende Artikel von analytischer Präzision; die Frage, was in der Diskussion durch die Betonung der epistemischen Dimension gewonnen ist, bleibt aber im Dunkeln. Wollen die Verfechter über Rawls‘s (oft als normativ zu schwach und empirisch zweifelhaft kritisierten) Hoffnung hinausgehen, seine politisch-liberalen Rechtfertigungsprinzipien würden sich als allgemein akzeptabel herausstellen, da sie einen „überlappenden Konsens“ vernünftiger Weltsichten darstellen? Wird hier Rawls‘ Projekt einer Hermeneutik westlicher Demokratien verlassen und „de facto“ Akzeptabilität mit rationaler Rechtfertigung ersetzt? Beim Lesen scheint es so, dass die herkömmlichen Pfade eher nicht verlassen werden: der Korrektheitsstandard, auf den rekurriert wird, ist nach wie vor der einer Rechtfertigbarkeit gegenüber allen vernünftigen Weltsichten, die, in Peters‘ Worten, „epistemic peers“ bilden. Diese auch in der Demokratietheorie zunehmend populären Ansätze (siehe etwa David Estlunds viel beachtetes Buch) haben damit ähnliche Fragen zu beantworten wie ihr Rawlsianischer Vorfahre: in erster Linie natürlich die wohlbekannte, unter anderem von Raz und Habermas vorgebrachte Kritik, dass „freistehende“ Legitimationsmodelle, die auf einem „überlappenden Konsensus“ beruhen, eine eigenständigen Normativität (unabhängig von den jeweiligen ethischen Lebensmodellen) fehlt, welche eine Verteidigung der entsprechende Prinzipien auch gegenüber „unvernünftigen“ Einwänden ermöglichen würde. Ohne eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Kritiken dieser Art scheint es ansonsten so, als sei es nur der alte Wein, der da in neuen Schläuchen fließt.

Ein weiterer Aspekt dieser Diskussion ist die Frage, wie sich westliche Gesellschaften gegenüber (internen und externen) Individuen und Gruppen positionieren sollen, welche liberale Gerechtigkeit- bzw. Legitimitätsprinzipien nicht teilen (und daher in Rawls‘s Worten „unvernünftig“ sind). Während Rawls zweifelsfrei nicht besonders daran interessiert war, „Nichtvernünftige“ zu überzeugen oder gesellschaftlich zu integrieren, rückt hier stärker die Rolle des Toleranzbegriffs für eine Theorie, die sich der gleichen Achtung aller Bürger und der ethisch-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, in den Mittelpunkt. Wie weit sollte liberale Toleranz reichen? Wie verhält sich der Begriff zur vermeintlich normativ schwächeren Konzeption des „Modus Vivendi“, wie zum stärkeren Begriff der „gleichen Anerkennung“? Das European Journal of Political Theory widmet dem Thema diesen Monat ein ganzes Symposium. Dabei wird jedoch nicht ganz klar, inwiefern die ausgewählten Themenschwerpunkte die Debatte bereichern sollen. Die Frage nach dem sozialontologischen Status sozialer Gruppen (hier gestellt von Federico Zuolo und Magali Bessone) ist nicht zuletzt zentraler Bestandteil der Multikulturalismus-Debatte und gefühlt ist hier kaum neues zu sagen. Auch Enzo Rossis Versuch einer instrumentell-pragmatischem Rechtfertigung des Toleranzbegriffs, welcher die von ihm identifizierten Schwächen einer deontologischen, Respekt-basierten Konzeption zu vermeiden sucht, bleibt bezüglich seiner normativen Grundlage im Ungefähren. Ähnlich der Diskussion um die epistemische Dimension öffentlicher Rechtfertigung hat man auch hier das Gefühl, dass andere Fragen drängender zu stellen und spannender zu beantworten wären, etwa die nach dem normativen Stellenwert religiöser Argumente im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung (so ähnlich auch von Habermas zuletzt verstärkt behandelt). Erfrischend ist da noch der Beitrag Maxim Khomyakovs, der im Anschluss an Arbeiten wie die von Rainer Forst oder Anna Galeotti eine konzeptionelle Verbindung zwischen einer historischen Abhandlungen zum Toleranzbegriff und dessen normativer Rechtfertigung herauszuarbeiten versucht (wer sich weiterhin für den ideengeschichtlichen Hintergrund des liberalen Toleranzbegriffs interessiert, dem sein auch zu Kei Numaos Artikel zu „Locke on Atheism“ in der aktuellen History of Political Thought ans Herz gelegt). Historisches Bewusstsein ist in der Debatte um den Rechtfertigungsstatus des politischen Liberalismus eine seltene Tugend.

Sicherlich ist die Rechtfertigung politischen Zwangs in pluralen Gesellschaften ein wichtiges und spannendes Thema, das zu Recht prominent in der politischen Theorie diskutiert wird. In der gegenwärtigen  Debatte um den Rechtsfertigungsliberalismus drängt sich jedoch der Eindruck auf, man schaue auf eine Wiese und sieht nur lauter Grashalme, der eine länger, der andere kürzer, der eine grüner, der andere brauner – und würde sich mal die ein oder andere neue Pflanzenart (oder gar einen Rasenmäher?) wünschen.

 

Spätkapitalismus

Wolfgang Streeck, seines Zeichens Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, dürfte sich über seine Publizität nie beschwert haben. Die jüngste Welle an Artikeln indes, mit der Streeck seine – auch dem theorieblog nicht entgangene – Frankfurter Adorno-Vorlesung zur „vertagten Krise des demokratischen Kapitalismus“ begleitet, ist außergewöhnlich. Streeck scheint allgegenwärtig. Mit Habermas, U.K. Preuß und Schmitter bespielt er das Ehrensymposion für Claus Offe an der Hertie School of Governance, lehrt im Herbst wieder an der New School of Social Research über jüngere Kapitalismustheorien; das bei Suhrkamp verlegte Buch ist für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert, prominent auf seine Thesen reagiert haben längst Jürgen Habermas, Andre Brie, Arne Heise, Thomas Assheuer und andere mehr. Die Blätter für deutsche und internationale Politik  haben eine regelrechte Kampagne für die Debattierung von Streecks Thesen inszeniert. Streeck selbst, der nach heftigem Poltern gegen die „Kapitalversteher im Krisenkapitalismus“ schon vergangenes Jahr im Merkur sprachgewaltig seine Streitlust signalisierte, und auf „den Ruinen der Alten Welt“ die Demokratie zur „Marktgesellschaft“ degeneriert sah, sieht nun Europa am Scheideweg, fragt in den „Blättern“: Was nun, Europa? Kapitalismus ohne Demokratie oder Demokratie ohne Kapitalismus, spekuliert im Leviathan über eine europäische „Finanzverfassung“ und attestiert in Der moderne Staat Kapitalismusversagen mit Ausrufezeichen: „Kapitalismusversagen!“ Nebenbei erscheinen MPI Working Papers, Sammelbände und und und…

Lassen wir die Frage, wie man derlei macht; fragen wir nur: warum? Streecks Anliegen ist eine analytische Revitalisierung neomarxistischer Gesellschaftsanalyse, namentlich die Überarbeitung des alten Konzepts vom „Spätkapitalismus“, mit dem der junge Claus Offe nicht nur prominent wurde, weil sich dessen damaliger Vorgesetzter Jürgen Habermas des Konzeptes unter dem berühmten Titel der „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ annahm. Von heute aus betrachtet – so Streeck – scheine es nun aber so, als sei die in den 1960er Jahren in der deutschen Soziologie kontrovers geführte Debatte um „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“ etwas voreilig geführt und wieder beendet worden. Die Krisenhaftigkeit einer aus sich heraus nicht reformierbaren Marktgesellschaft, die in immer kürzeren Abständen von Krise zu Krise torkelt, den Fiskalstaat als Rettungsanker missbraucht, dabei wie nebenbei die Demokratie abschafft, um sich den postdemokratischen „Konsolidierungsstaat“ (Streeck) als Garanten der eigenen Schuldscheine zu halten, ist als „Fassadendemokratie“ (Habermas) in erstaunlich rasanter Geschwindigkeit wieder zur Gewissheit der älteren deutschen Generation von Gesellschaftstheoretikern geworden. Dass Sighard Neckel seine im Leviathan publizierte Antrittsvorlesung am legendären Frankfurter Institut für Sozialforschung auch noch unter den (mit „Spätkapitalismus“ demokratietheoretisch deckungsgleichen) Oberbegriff der „Refeudalisierung“ stellte, wie er dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Habermas an einigen Stellen noch immer zu entnehmen ist, wundert dann schon gar nicht mehr, sondern vollendet das Bild vielmehr: Hier kehrt nicht die altbundesrepublikanische Kapitalismuskritik wieder; eher bewahrheiten sich dieser Tage nach Ansicht erschreckend vieler Analysten die früheren fatalistischen Prognosen.

Dies gilt zwar nur, legt man ein um den Finanzkapitalismus erweitertes Krisenverständnis zugrunde, doch entfalten sodann die Kritiken umso heftigere Plausibilität: Da ist der deutsche Kleinsparer, dessen private Rentenversicherung und dessen Ersparnisse vampirartig an der durch Staatsüberschuldung garantierten Einlagensicherung hängen. Da ist der Wohnungsmieter, der sich dem Wucher nur noch dadurch zu entziehen können glaubt, dass er einen Billigkredit um den nächsten in überteuertes Wohneigentum architektonisch nachverdichteter Großstädte pumpt und die ihm verhasste Mietpreisspirale in astronomische Höhen schraubt. Da ist der zum Massentypus gewordene junge Erbe, durch den Leistungsprinzip und demokratische Steuerpolitik gemeinsam kollabieren, der sich freilich dennoch gut fühlen darf, verteilt der großzügige Mäzen doch beachtliche Teile seines unverdienten Vermögens an Bedürftige seiner Wahl. Da sind die jungen arbeitslosen Hochqualifiziertenmassen der europäischen Südstaaten, deren depressive Lethargie mit dem Steuergeld ihrer Urenkel erkauft wird.

Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Wichtig zu betonen ist hier wohl nur, dass die Krisendiagnosen Streecks und seiner (maßvollen, da generell zustimmenden) kollegialen Kritiker von Crouch über Habermas bis Neckel keinen Grund für Optimismus mehr bieten, sondern in immer schärferen Formulierungen auf massivste Veränderungen im Auge eines Hurrikans drängen.

In diesem Sinne hat man übrigens Streecks mittels Artikeln nur noch proliferierten Titel „Gekaufte Zeit“ zu verstehen: Das derzeit über mehrere Generationen hinweg absehbare Koma der demokratisch kontrollierbaren Fiskalautonomie sei identisch mit der substantiell abgestorbenen Demokratie. Die Postdemokratie droht nicht mehr, wir leben in ihr und lassen das Licht der Demokratiesemantiken noch etwas glimmen, bis der Strom abgestellt wird. Das derzeit florierende Spielgeld täuscht komatöse Demokraten wahlweise noch über Hirn- oder über Herztod hinweg; die einst Bürger genannten Konsumenten der Markgesellschaft verprassen seit geraumer Zeit ihre Zukunft und antworten in Telefoninterviews brav, man müsse jetzt sparen, den Haushalt konsolidieren, die Demokratie zukunftssicher machen usw. Folgt man also Streeck, kaufen wir Zeit nicht für die Rettung spärlicher Restdemokratie; wir verzichten einfach auf den Stresstest, um den recht gewissen Kollaps noch einen Tag zu vertagen, und dann noch einen, und vielleicht noch einen. Denn offenbar ist nichts mehr zu retten, wohl aber noch etwas zu holen. Zum Beispiel das neue Buch zur Krise von Wolfgang Streeck. Bei Suhrkamp, dem Verlag zur Krise.

 

Freiheit und Verantwortung im Boston Review

Zum Abschluss noch ein kurzer Blick in die nicht-akademische Literatur. In der aktuellen Ausgabe des Boston Review (der unter anderen von Joshua Cohen herausgegeben wird) findet sich unter dem Titel „Beyond Blame –  Would we better off in a world without blame?“ eine spannende und auch für die politische Theorie relevante Debatte zur Frage individueller Verantwortung im öffentlichen Raum mit Implikationen von der Sozialpolitik bis zum Strafrecht. In ihrem Debattenbeitrag stellt die Rechtsphilosophin Barbara Fried die gewagte These auf, aus jüngeren biologischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen sei auf einen tiefgreifenden Determinismus zu schließen, der die Idee eines freien Willens und die darauf basierende Zuschreibung individueller Verantwortung für Handlungen zur Illusion werden lasse (siehe auch die ähnlich reduktionistische Behauptung des Neurowissenschaftlers David Eagleman). Da wir und unser Verhalten einzig und allein das Produkt äußerer Umstände seien, sollten wir die Praxis der Zuschreibung von Schuld als soziale Instanz ganz aufgeben und uns stattdessen den (strukturellen) Ursachen von Kriminalität und moralischem Fehlverhalten zuwenden.

Es antworten eine Reihe von prominenten Juristen, Psychologen und Sozialwissenschaftler_innen, die sich kritisch mit Frieds Thesen auseinandersetzen. Insbesondere von Interesse dürften die Kommentare von Christine Korsgaard, Tim Scanlon und Brian Leiter sein, die auf verschiedene Weise die philosophische Idee der freien Handlung moralisch verantwortlicher Individuen vor der Determinismus-These zu retten versuchen. Während Korsgaard mit Kant argumentiert, dass individuelle Verantwortungszuschreibung als integrative soziale Praxis auch unabhängig von metaphysischem Wissen über Handlungsfreiheit möglich ist, plädiert Scanlon dafür, einen Begriff moralischer Verantwortung (der sich aus dem Nachvollziehen individueller Handlungsgründe ergibt) zu erhalten, ohne daraus den (politisch fragwürdigen) Schluss zu ziehen, dass Menschen für das Wohlergehen oder Scheitern ihres eigenen Lebens ganz allein („substantiell“) die Verantwortung tragen. Leiter schließlich, der die Vorherrschaft einer Moral von individueller Schuld und Verantwortung im christlichen Menschenbild verankert sieht, fragt sich, ob die Alternative (eine Gesellschaft, die sich systematisch dem „Ausbügeln“ schlechter Charaktereigenschaften zuwenden würde) vorzuziehen sei. Ein gutes Beispiel für eine vielschichtige Debatte von hoher gesellschaftlicher Relevanz, in der die Politische Theorie einen wichtigen Beitrag zu leisten vermag.


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