theorieblog.de | Muss man die Ängste und Sorgen der BürgerInnen ernst nehmen? Die aktuelle Asyl-Debatte und der Fall Bremgarten

19. August 2013, Brezger

In der normativen politischen Theorie werden Fragen der Migration derzeit intensiv diskutiert. Während umstritten ist, ob Staaten das beanspruchte Recht auf eigenmächtige Einwanderungskontrolle moralisch rechtfertigen können, besteht weithin Einigkeit darüber, dass Flüchtlinge einen Anspruch auf Hilfe haben. Asylsuchende dürfen nicht abgewiesen werden, wenn sie in Gefahr sind. Dieser Position entspricht das völkerrechtlich verbindliche „Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“. Kontroversen existieren aber unter anderem hinsichtlich der Lebensbedingungen der Asylsuchenden. Ist es beispielsweise legitim, AsylbewerberInnen eine geringere Grundversorgung zukommen zu lassen als den BürgerInnen oder ist dies mit der Menschenwürde unvereinbar (siehe hierzu das BVerfG-Urteil vom 18.7.2012)? Darf ferner den Asylsuchenden verboten werden, den ihnen zugewiesenen Landkreis zu verlassen oder widerspricht die sogenannte „Residenzpflicht“ dem Recht auf Bewegungsfreiheit, das laut Art. 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte auch Nicht-StaatsbürgerInnen zusteht?

Der vorliegende Beitrag versucht explizit nicht, eine umfassende Antwort auf diese Fragen zu finden. Vielmehr konzentriert er sich auf ein spezifisches Argument, das häufig herangezogen wird, um Restriktionen gegenüber Asylsuchenden zu rechtfertigen. Dieses Argument lautet, man müsse die „Ängste und Sorgen“ in der Bevölkerung ernst nehmen und diesen Rechnung tragen. Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, ob bzw. inwiefern dieses Argument tatsächlich überzeugt und welchen Stellenwert die Befürchtungen der BürgerInnen in der normativen Debatte einfordern können.

Der Fall Bremgarten
Im schweizerischen Bremgarten (Kanton Aargau) wurde jüngst eine Unterkunft für Asylsuchende eingerichtet. Allerdings stieß dies in der dortigen Bevölkerung auf Skepsis, sodass die Stadt in Rücksprache mit dem schweizerischen Bundesamt für Migration (BfM) ein Regelwerk für die Asylsuchenden erstellte. Laut diesem dürfen die AsylbewerberInnen manche öffentliche Orte, die als „sensible Zonen“ ausgewiesen werden, nicht bzw. nur eingeschränkt betreten (siehe z.B. hier und hier). In der Süddeutschen Zeitung heißt es hierzu:

Besondere Bestimmungen gelten in Bremgarten für Sport- und Badeanlagen sowie für Schulen, Alters- und Behindertenheime. Diese „sensiblen Zonen“, von denen sich Asylbewerber fernhalten sollten, würden „im Interesse des guten Zusammenlebens zwischen Bevölkerung und Asylsuchenden definiert“, erklärt Urs von Daeniken, der Projektleiter für Bundesunterkünfte beim BfM. Laut Mario Gattiker, dem Chef des BfM, handelt es sich aber grundsätzlich nicht um absolute No-go-Zonen. Man wolle nur verhindern, dass „50 Asylbewerber gleichzeitig auf den Fußballplatz oder in die Badi“ gingen. Denn das könne zu „Friktionen und Ressentiments“ führen.

Besondere Beachtung verdient die sich hier manifestierende Theorie über die Entstehung von Ressentiments: Die bloße Präsenz einer größeren Gruppe Asylsuchender erscheint als Ursache der Abneigung der AnwohnerInnen. Auf die Idee, dass die Ressentiments bereits existieren und sich Möglichkeiten der Artikulation suchen könnten, kommt man hingegen nicht. Was es jedoch bereits gebe, seien Ängste und Sorgen der AnwohnerInnen. Und diese müsse man ernst nehmen. Das gelte insbesondere dann, wenn die Bevölkerung bisher keinen direkten Kontakt zu Asylsuchenden gehabt habe. Nochmals Mario Gattiker: „Da ist es doch völlig normal, dass wir auch den Bedenken und Anliegen der lokalen Bevölkerung Rechnung tragen“ (ebd.).

Doch was bedeutet es, die Befürchtungen in der Bevölkerung ernst zu nehmen? Ich möchte hier zwei unterschiedliche Interpretationen vorschlagen: Nach der ersten (i) ist bereits die bloße Existenz der Ängste ein hinreichender Grund dafür, ebendiese in der normativen Auseinandersetzung zu berücksichtigen. Nach der zweiten (ii) bedarf es hingegen einer kritischen Evaluation dieser Ängste. Ich werde für letztere Interpretation argumentieren. Allerdings erscheint mir die Zurückweisung der ersten Deutung wichtig, sodass ich zunächst auf diese eingehen werde.

(i) Die bloße Existenz der Ängste als hinreichender Grund für ihre Berücksichtigung
Mit der mehrdeutigen Forderung nach dem Ernstnehmen der Ängste kann zunächst der pragmatische Hinweis gemeint sein, es sei fahrlässig, die in der Bevölkerung kursierenden Sorgen gänzlich zu ignorieren. Denn diese könnten – selbst wenn sie unbegründet sind – handlungsleitend werden. Sorgen und Ängste sind für diejenigen, die sie empfinden, äußerst real und somit motivational wirksam. Um beispielsweise das Risiko gewaltsamer Angriffe auf Asylsuchende und Flüchtlingsunterkünfte (wie insbesondere 1992 und 1993 vielerorts in Deutschland) einschätzen und diese verhindern zu können, ist es unerlässlich, über ein angemessenes Bild der Stimmungslage zu verfügen. Doch lässt sich aus dieser Überlegung ein Argument dafür gewinnen, den Ängsten und Sorgen qua ihrer bloßen Existenz einen eigenständigen Platz im normativen Nachdenken über die Ziele und Handlungsoptionen zuzugestehen? Im Folgenden werden zwei solcher Argumentationsstrategien untersucht: (a) das Backlash-Argument und (b) feasibility-constraints.

(a) In der Migrationsdebatte taucht hin und wieder das sogenannte Backlash-Argument auf (kritisch: Bauböck 1997:96f). Dieses lautet: „Bei akuter Gefährdung der Demokratie ist als kleineres Übel auch die Suspendierung bestimmter Grundrechte möglich, um eine autoritäre Machtübernahme zu verhindern“ (ebd.: 96). Angewendet auf den Fall Bremgarten ließe sich das Backlash-Argument etwa wie folgt verstehen: „Die Aufnahme von Asylsuchenden kann in der Bevölkerung Bremgartens – aufgrund der existierenden Ängste und Sorgen – zu einer Gegenbewegung führen, die das politische System Aargaus bzw. der Schweiz gefährden könnte.“

Nun ist offensichtlich, dass das Backlash-Argument nicht zu überzeugen vermag: Es ist schwer vorstellbar, dass die Aufnahme von bis zu 150 Flüchtlingen die Bremgartener BürgerInnen in einen antidemokratischen Mob verwandeln könnte, der tatsächlich dazu in der Lage wäre, das politische System Aargaus bzw. der Schweiz akut zu gefährden. Genau das ist laut Bauböck (1997:96) aber der „eng beschränkt[e]“ Anwendungsbereich des Backlash-Arguments. Abgesehen von extremen Ausnahmesituationen erscheint das Argument jedoch normativ unhaltbar. Denn in der Konsequenz wäre eine Gruppe militanter AsylgegnerInnen in der Lage, die Aufnahme- und Lebensbedingungen für Asylsuchende zu diktieren: „Demokratien wären also durch Terror oder rassistische Gewalt der Straße erpreßbar“ (ebd.:97).

(b) Das Backlash-Argument scheitert also. Nun könnte man versucht sein, die vorherrschenden Ängste als „feasiblity constraint“ zu konzeptualisieren. Demnach müssen die Sorgen der BürgerInnen als fixe Rahmenbedingungen akzeptiert werden. Sie reduzieren sowohl die Aufnahmekapazitäten als auch die Qualität der Lebensbedingungen der Flüchtlinge. Diese faktische Einschränkung muss in die normative Betrachtung eingehen: Wenn die Gesellschaft weniger Hilfe leisten kann, müssen auch die moralischen Ansprüche an ebendiese entsprechend heruntergeschraubt werden, da ein Sollen stets ein Können impliziert (ought implies can).

Das Argument ähnelt in gewisser Hinsicht dem vorherigen, unterscheidet sich jedoch vom Backlash-Argument dahingehend, dass hier die Gefahr einer gefährlichen Gegenbewegung keine notwendige Bedingung darstellt. Die Ängste und Sorgen der BürgerInnen werden schlechterdings als Koordinaten betrachtet, um den Raum des Möglichen abzustecken. Allerdings liegt auf der Hand, weshalb solch eine Argumentationsstrategie scheitern muss: Sie erteilt den BürgerInnen die Freiheit, die hinreichenden Bedingungen der Einschränkung ihrer moralischen Pflichten selbst zu erzeugen. Die psychologisch-motivationale Verfassung der BürgerInnen wird direkt mit dem moralisch Einforderbaren kurzgeschlossen. Das kommt im Extremfall einem Freibrief gleich. Dies ist jedoch eine unhaltbare Position, da Sorgen und Ängste keine unveränderlichen Zustände darstellen, sondern – zumindest zu einem gewissen Grad – unserer Kontrolle unterliegen. In Erweiterung von G.A. Cohens Kritik des Anreiz-Arguments (vgl. Cohen 1991 und 2008:Kapitel 1) lässt sich feststellen: Ebenso wie der Wille der BürgerInnen nicht „just a sociological fact“ ist (Cohen 1991:308, zitiert nach Pevnick 2011:159), sind Ängste keine fixen Grenzen des Möglichen. Wir können an ihnen arbeiten und sie abbauen, wir sind für sie verantwortlich.

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Keines der beiden Argumente kann zeigen, dass die bloße Existenz der Ängste und Sorgen der BürgerInnen selbst ein hinreichender Grund dafür ist, sie in der normativen Betrachtung einer Situation zu berücksichtigen.

(ii) Die kritische Evaluation der Ängste der BürgerInnen
Es ist daher notwendig, so lautet meine These, die Ängste und Sorgen sowohl normativ als auch empirisch zu überprüfen. Den BürgerInnen obliegt diese doppelte Beweislast schon allein deshalb, da jede Restriktion für Asylsuchende einen Zwang darstellt und der Rechtfertigung bedarf. Die entscheidenden Fragen lauten dann: Sind die Befürchtungen berechtigt oder nicht? Sind sie Ausdruck tatsächlich existierender Gefahren oder sind sie vielmehr unbegründet und – in diesem Sinne – irrational?

Um solch eine doppelte Evaluation vornehmen zu können, ist es zunächst notwendig, das angeblich bedrohte Gut normativ zu rechtfertigen. Nur sofern die Ängste und Sorgen auf ein legitimes Interesse verweisen, sind sie potenziell berechtigt. Anschließend muss auf empirische Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden, um Auskunft darüber zu erhalten, ob die befürchteten Szenarien mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten können. Bei „positiv“ evaluierten Ängsten handelt es sich dann jedoch nicht mehr (primär) um subjektive Gefühle, sondern vielmehr um normativ gerechtfertigte und empirisch grundierte Problembeschreibungen. Allerdings gilt zu beachten: Zwar müssen die überprüften Ängste fortan mitberücksichtigt werden, doch können sie den Ausgang der normativen Erwägung nicht vorwegnehmen. Denn zum einen existieren weitere, eventuell trumpfende Interessen (wie etwa das Recht der Asylsuchenden auf Bewegungsfreiheit). Zum anderen gibt es im Umgang mit potenziell auftretenden Problemen zahlreiche Handlungsalternativen. Erweisen sich die Befürchtungen hingegen als normativ und/oder empirisch unbegründet, so wäre es absurd, sie in die normative Diskussion einzubeziehen. Die angemessene Maßnahme bestünde vielmehr in der Aufklärung der Verängstigten.

Was bedeuten die vorangegangenen Überlegungen nun für den Fall Bremgarten? Nach der hier vorgeschlagenen Position müssen die AnwohnerInnen nachweisen, dass ihre Befürchtungen normativ gerechtfertigt und empirisch begründet sind. Allerdings erscheint mir dies im Falle der bloßen Präsenz von 50 fußballspielenden oder schwimmenden AsylbewerberInnen kaum möglich zu sein. Die gebotene Handlung ist dann aber nicht der Ausschluss der Asylsuchenden, sondern der Abbau unbegründeter Ängste.


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