In der normativen politischen Theorie werden Fragen der Migration derzeit intensiv diskutiert. Während umstritten ist, ob Staaten das beanspruchte Recht auf eigenmächtige Einwanderungskontrolle moralisch rechtfertigen können, besteht weithin Einigkeit darüber, dass Flüchtlinge einen Anspruch auf Hilfe haben. Asylsuchende dürfen nicht abgewiesen werden, wenn sie in Gefahr sind. Dieser Position entspricht das völkerrechtlich verbindliche „Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“. Kontroversen existieren aber unter anderem hinsichtlich der Lebensbedingungen der Asylsuchenden. Ist es beispielsweise legitim, AsylbewerberInnen eine geringere Grundversorgung zukommen zu lassen als den BürgerInnen oder ist dies mit der Menschenwürde unvereinbar (siehe hierzu das BVerfG-Urteil vom 18.7.2012)? Darf ferner den Asylsuchenden verboten werden, den ihnen zugewiesenen Landkreis zu verlassen oder widerspricht die sogenannte „Residenzpflicht“ dem Recht auf Bewegungsfreiheit, das laut Art. 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte auch Nicht-StaatsbürgerInnen zusteht?
Der vorliegende Beitrag versucht explizit nicht, eine umfassende Antwort auf diese Fragen zu finden. Vielmehr konzentriert er sich auf ein spezifisches Argument, das häufig herangezogen wird, um Restriktionen gegenüber Asylsuchenden zu rechtfertigen. Dieses Argument lautet, man müsse die „Ängste und Sorgen“ in der Bevölkerung ernst nehmen und diesen Rechnung tragen. Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, ob bzw. inwiefern dieses Argument tatsächlich überzeugt und welchen Stellenwert die Befürchtungen der BürgerInnen in der normativen Debatte einfordern können.
Der Fall Bremgarten
Im schweizerischen Bremgarten (Kanton Aargau) wurde jüngst eine Unterkunft für Asylsuchende eingerichtet. Allerdings stieß dies in der dortigen Bevölkerung auf Skepsis, sodass die Stadt in Rücksprache mit dem schweizerischen Bundesamt für Migration (BfM) ein Regelwerk für die Asylsuchenden erstellte. Laut diesem dürfen die AsylbewerberInnen manche öffentliche Orte, die als „sensible Zonen“ ausgewiesen werden, nicht bzw. nur eingeschränkt betreten (siehe z.B. hier und hier). In der Süddeutschen Zeitung heißt es hierzu:
Besondere Bestimmungen gelten in Bremgarten für Sport- und Badeanlagen sowie für Schulen, Alters- und Behindertenheime. Diese „sensiblen Zonen“, von denen sich Asylbewerber fernhalten sollten, würden „im Interesse des guten Zusammenlebens zwischen Bevölkerung und Asylsuchenden definiert“, erklärt Urs von Daeniken, der Projektleiter für Bundesunterkünfte beim BfM. Laut Mario Gattiker, dem Chef des BfM, handelt es sich aber grundsätzlich nicht um absolute No-go-Zonen. Man wolle nur verhindern, dass „50 Asylbewerber gleichzeitig auf den Fußballplatz oder in die Badi“ gingen. Denn das könne zu „Friktionen und Ressentiments“ führen.
Besondere Beachtung verdient die sich hier manifestierende Theorie über die Entstehung von Ressentiments: Die bloße Präsenz einer größeren Gruppe Asylsuchender erscheint als Ursache der Abneigung der AnwohnerInnen. Auf die Idee, dass die Ressentiments bereits existieren und sich Möglichkeiten der Artikulation suchen könnten, kommt man hingegen nicht. Was es jedoch bereits gebe, seien Ängste und Sorgen der AnwohnerInnen. Und diese müsse man ernst nehmen. Das gelte insbesondere dann, wenn die Bevölkerung bisher keinen direkten Kontakt zu Asylsuchenden gehabt habe. Nochmals Mario Gattiker: „Da ist es doch völlig normal, dass wir auch den Bedenken und Anliegen der lokalen Bevölkerung Rechnung tragen“ (ebd.).
Doch was bedeutet es, die Befürchtungen in der Bevölkerung ernst zu nehmen? Ich möchte hier zwei unterschiedliche Interpretationen vorschlagen: Nach der ersten (i) ist bereits die bloße Existenz der Ängste ein hinreichender Grund dafür, ebendiese in der normativen Auseinandersetzung zu berücksichtigen. Nach der zweiten (ii) bedarf es hingegen einer kritischen Evaluation dieser Ängste. Ich werde für letztere Interpretation argumentieren. Allerdings erscheint mir die Zurückweisung der ersten Deutung wichtig, sodass ich zunächst auf diese eingehen werde.
(i) Die bloße Existenz der Ängste als hinreichender Grund für ihre Berücksichtigung
Mit der mehrdeutigen Forderung nach dem Ernstnehmen der Ängste kann zunächst der pragmatische Hinweis gemeint sein, es sei fahrlässig, die in der Bevölkerung kursierenden Sorgen gänzlich zu ignorieren. Denn diese könnten – selbst wenn sie unbegründet sind – handlungsleitend werden. Sorgen und Ängste sind für diejenigen, die sie empfinden, äußerst real und somit motivational wirksam. Um beispielsweise das Risiko gewaltsamer Angriffe auf Asylsuchende und Flüchtlingsunterkünfte (wie insbesondere 1992 und 1993 vielerorts in Deutschland) einschätzen und diese verhindern zu können, ist es unerlässlich, über ein angemessenes Bild der Stimmungslage zu verfügen. Doch lässt sich aus dieser Überlegung ein Argument dafür gewinnen, den Ängsten und Sorgen qua ihrer bloßen Existenz einen eigenständigen Platz im normativen Nachdenken über die Ziele und Handlungsoptionen zuzugestehen? Im Folgenden werden zwei solcher Argumentationsstrategien untersucht: (a) das Backlash-Argument und (b) feasibility-constraints.
(a) In der Migrationsdebatte taucht hin und wieder das sogenannte Backlash-Argument auf (kritisch: Bauböck 1997:96f). Dieses lautet: „Bei akuter Gefährdung der Demokratie ist als kleineres Übel auch die Suspendierung bestimmter Grundrechte möglich, um eine autoritäre Machtübernahme zu verhindern“ (ebd.: 96). Angewendet auf den Fall Bremgarten ließe sich das Backlash-Argument etwa wie folgt verstehen: „Die Aufnahme von Asylsuchenden kann in der Bevölkerung Bremgartens – aufgrund der existierenden Ängste und Sorgen – zu einer Gegenbewegung führen, die das politische System Aargaus bzw. der Schweiz gefährden könnte.“
Nun ist offensichtlich, dass das Backlash-Argument nicht zu überzeugen vermag: Es ist schwer vorstellbar, dass die Aufnahme von bis zu 150 Flüchtlingen die Bremgartener BürgerInnen in einen antidemokratischen Mob verwandeln könnte, der tatsächlich dazu in der Lage wäre, das politische System Aargaus bzw. der Schweiz akut zu gefährden. Genau das ist laut Bauböck (1997:96) aber der „eng beschränkt[e]“ Anwendungsbereich des Backlash-Arguments. Abgesehen von extremen Ausnahmesituationen erscheint das Argument jedoch normativ unhaltbar. Denn in der Konsequenz wäre eine Gruppe militanter AsylgegnerInnen in der Lage, die Aufnahme- und Lebensbedingungen für Asylsuchende zu diktieren: „Demokratien wären also durch Terror oder rassistische Gewalt der Straße erpreßbar“ (ebd.:97).
(b) Das Backlash-Argument scheitert also. Nun könnte man versucht sein, die vorherrschenden Ängste als „feasiblity constraint“ zu konzeptualisieren. Demnach müssen die Sorgen der BürgerInnen als fixe Rahmenbedingungen akzeptiert werden. Sie reduzieren sowohl die Aufnahmekapazitäten als auch die Qualität der Lebensbedingungen der Flüchtlinge. Diese faktische Einschränkung muss in die normative Betrachtung eingehen: Wenn die Gesellschaft weniger Hilfe leisten kann, müssen auch die moralischen Ansprüche an ebendiese entsprechend heruntergeschraubt werden, da ein Sollen stets ein Können impliziert (ought implies can).
Das Argument ähnelt in gewisser Hinsicht dem vorherigen, unterscheidet sich jedoch vom Backlash-Argument dahingehend, dass hier die Gefahr einer gefährlichen Gegenbewegung keine notwendige Bedingung darstellt. Die Ängste und Sorgen der BürgerInnen werden schlechterdings als Koordinaten betrachtet, um den Raum des Möglichen abzustecken. Allerdings liegt auf der Hand, weshalb solch eine Argumentationsstrategie scheitern muss: Sie erteilt den BürgerInnen die Freiheit, die hinreichenden Bedingungen der Einschränkung ihrer moralischen Pflichten selbst zu erzeugen. Die psychologisch-motivationale Verfassung der BürgerInnen wird direkt mit dem moralisch Einforderbaren kurzgeschlossen. Das kommt im Extremfall einem Freibrief gleich. Dies ist jedoch eine unhaltbare Position, da Sorgen und Ängste keine unveränderlichen Zustände darstellen, sondern – zumindest zu einem gewissen Grad – unserer Kontrolle unterliegen. In Erweiterung von G.A. Cohens Kritik des Anreiz-Arguments (vgl. Cohen 1991 und 2008:Kapitel 1) lässt sich feststellen: Ebenso wie der Wille der BürgerInnen nicht „just a sociological fact“ ist (Cohen 1991:308, zitiert nach Pevnick 2011:159), sind Ängste keine fixen Grenzen des Möglichen. Wir können an ihnen arbeiten und sie abbauen, wir sind für sie verantwortlich.
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Keines der beiden Argumente kann zeigen, dass die bloße Existenz der Ängste und Sorgen der BürgerInnen selbst ein hinreichender Grund dafür ist, sie in der normativen Betrachtung einer Situation zu berücksichtigen.
(ii) Die kritische Evaluation der Ängste der BürgerInnen
Es ist daher notwendig, so lautet meine These, die Ängste und Sorgen sowohl normativ als auch empirisch zu überprüfen. Den BürgerInnen obliegt diese doppelte Beweislast schon allein deshalb, da jede Restriktion für Asylsuchende einen Zwang darstellt und der Rechtfertigung bedarf. Die entscheidenden Fragen lauten dann: Sind die Befürchtungen berechtigt oder nicht? Sind sie Ausdruck tatsächlich existierender Gefahren oder sind sie vielmehr unbegründet und – in diesem Sinne – irrational?
Um solch eine doppelte Evaluation vornehmen zu können, ist es zunächst notwendig, das angeblich bedrohte Gut normativ zu rechtfertigen. Nur sofern die Ängste und Sorgen auf ein legitimes Interesse verweisen, sind sie potenziell berechtigt. Anschließend muss auf empirische Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden, um Auskunft darüber zu erhalten, ob die befürchteten Szenarien mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten können. Bei „positiv“ evaluierten Ängsten handelt es sich dann jedoch nicht mehr (primär) um subjektive Gefühle, sondern vielmehr um normativ gerechtfertigte und empirisch grundierte Problembeschreibungen. Allerdings gilt zu beachten: Zwar müssen die überprüften Ängste fortan mitberücksichtigt werden, doch können sie den Ausgang der normativen Erwägung nicht vorwegnehmen. Denn zum einen existieren weitere, eventuell trumpfende Interessen (wie etwa das Recht der Asylsuchenden auf Bewegungsfreiheit). Zum anderen gibt es im Umgang mit potenziell auftretenden Problemen zahlreiche Handlungsalternativen. Erweisen sich die Befürchtungen hingegen als normativ und/oder empirisch unbegründet, so wäre es absurd, sie in die normative Diskussion einzubeziehen. Die angemessene Maßnahme bestünde vielmehr in der Aufklärung der Verängstigten.
Was bedeuten die vorangegangenen Überlegungen nun für den Fall Bremgarten? Nach der hier vorgeschlagenen Position müssen die AnwohnerInnen nachweisen, dass ihre Befürchtungen normativ gerechtfertigt und empirisch begründet sind. Allerdings erscheint mir dies im Falle der bloßen Präsenz von 50 fußballspielenden oder schwimmenden AsylbewerberInnen kaum möglich zu sein. Die gebotene Handlung ist dann aber nicht der Ausschluss der Asylsuchenden, sondern der Abbau unbegründeter Ängste.
Ich sehe das ähnlich wie Jan: Wenn wir erst einmal anfangen, die „Ängste in der Bevölkerung“ für bare Münze zu nehmen, ohne die entsprechenden Befürchtungen kritisch zu hinterfragen, dann bleibt kaum mehr Raum für eine rationale politische Auseinandersetzung. Die Gesetze gegen Homosexuelle in Russland wären beispielsweise durch die blosse Befürchtung gerechtfertigt, dass Kinder „angesteckt“ werden könnten, wenn offen über Homosexualität gesprochen wird. Und auch gegen ein Verbot von schwarzen Katzen wäre nichts einzuwenden, sofern nur ein genügend grosser Teil der Bevölkerung den Aberglauben teilt, dass die Tiere Unglück bringen.
Das ist offensichtlich absurd, doch genau dieser Argumentationslogik folgen die Äusserungen des schweizerischen Bundesamts für Migration: Man gibt explizit zu, dass es „kaum konkrete Probleme“ gab und „rechtfertigt“ die Beschneidung des Grundrechts auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit alleine mit dem Verweis auf diesbezügliche Ängste (vgl. u.a. hier: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/Nicht-fuenfzig-Asylbewerber-gleichzeitig-in-die-Badi/story/19103730 – Interessant auch die Aussage, man beschneide keine Grundrechte, weil man Verstösse gegen die Hausregeln der Asylunterkunft aus rechtlichen Gründen ohnehin nicht sanktionieren könne…).
Vor dem Hintergrund dessen, was sich schon seit einiger Zeit in deutschen Städten zusammenbraut http://akweb.de/ak_s/ak585/41.htm und sich gestern in Berlin-Hellerdorf ereignet hat http://www.tagesschau.de/inland/asylbewerber162.html sind die Überlegungen des Artikels äußerst aktuell. Vor diesem Hintergrund würde ich allerdings vor einer Verengung der Problemlage auf Fragen der normativen politischen Theorie warnen. Dafür sprechen für mich mindestens zwei Gründe. Den einen nennst du, Jan selbst: von bestehenden Ängsten als „Rahmenbedingungen“ politischer Entscheidungen auszugehen, kommt einer positivistischen Unterwerfung unter „das Gegebene“ gleich, die problematische Verhaltensweisen entlastet. Dein Schluss, dass Ängste durch ihre TrägerInnen normativ und empirisch zu rechtfertigen seien, scheint mir diesbezüglich eine Lösung zu sein, die unintendiert die gesellschaftliche Grundlage dieser Ängste unangestatet lässt. Das Gefühl der Bedrohung, das auch im Tagesthemen Beitrag auftaucht („Und wer beschützt uns?“), kommt ja nicht aus heiterem Himmel, sondern hängt mit einer langen Geschichte des deutschen Rassismus genauso zusammen wie mit der aktuellen europäischen und deutschen (vor allem städtischen) Asylpolitik, die nicht in der Lage ist einen angemessenen Umgang mit der steigenden Zahl von Geflüchteten zu finden. Von Interesse müssen daher auch jene gesellschaftlichen Konstruktions- und Kontrollweisen sein, die aus den Geflüchteten eine Bedrohung erst machen. Wer vor allem nach der Rechtfertigung von Ängsten fragt, scheint mir Gefahr zu laufen diese gesellschaftlichen Voraussetzungen ebenfalls zu positivieren. Womit ich zum zweiten Kritikpunkt an einer normativen Verengung der Problematik komme. Dieser betrifft die Individualiserung des Problems durch Aufforderung zur Rechtfertigung allein der TrägerInnen der Angst. Erkennt man dagegen die Angst als gesellschaftlich verursachtes Problem an, dann liegt auch die intellektuelle und politische Auseinandersetzung mit ihm in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft.
Auf der Ebene der normativen Theorie sind diese Gedankengänge nachvollziehbar und richtig. Trotzdem wirken sie insoweit unrealistisch, als unter den real gegebenen Umständen eines demokratischen Rechtsstaats, der unter den dargestellten Bedingungen besteht (Bevölkerung mit mehr oder weniger latenten fremdenfeindlichen Ressentiments, Konzentration konfliktträchtiger Menschengruppen in schwach besiedelten Zonen, Störungspotenzial durch aufgebrachte Bürger und rechte Aktivisten …), in der tatsächlichen politischen Praxis eigentlich immer die pragmatischen Überlegungen entscheidungsrelevant sind, solange sie sich gerade noch irgendwie mit den normativ-rechtlichen Vorgaben vereinbaren lassen, während theoretisch-normative Grundsatzerwägungen eher in den Hintergrund treten.
Einfacher gesagt: Wenn tatsächlich mehr als sagen wir 60% der Bevölkerung fest davon überzeugt wären, dass schwarze Katzen eine schwer wiegende Gefahr für das Gemeinwohl darstellen, würden diese am Ende wohl wirklich verboten, selbst wenn den Entscheidungsträgern klar ist, dass ein solches Verbot blödsinnig ist. In einem repräsentativen System, wo die Entscheidungsträger auf Wahlen schielen und in so einer Konstellation wahrscheinlich bald auch unter den Mandatsträgern überzeugte Katzengegner sitzen, ist das meine ich unausweichlich (und selbst autoritäre Systeme können in solchen Fragen oft nicht auf einen Rückhalt im Volk verzichten und benutzen gerade solche Fragen, um „durchzugreifen“). Ein unschönes hist. Bsp. wären etwa Hexenverfolgungen.
Der an sich richtige normativ-theoretische Ansatz, wonach sich der Rechtsstaat nicht von irrationalen „Ängsten“ und menschenfeindlichen Ressentiments bestimmen lassen darf, stößt daher pragmatisch gesehen schnell an faktisch unüberwindliche Grenzen. Damit wären wir im Prinzip wieder bei der vom Blogautor unter (b) dargestellten Ansicht, dass „die Sorgen der BürgerInnen als fixe Rahmenbedingungen akzeptiert werden“ müssen, nicht weil sie es wert wären, sondern weil es gar nicht anders geht.
Lösungsansätze können hier m.E. nur in unterschwelligen Maßnahmen gesucht werden: Statt den Asylbewerbern den Schwimmbadbesuch zu verbieten, könnte man vorbeugend integrierende Gemeinwesensozialarbeit vorsehen, die Bürger und Asylbewerber auf verhersehbare Konflikte vorbereitet und diese, wenn sie auftreten, zu entschärfen versucht. Also die Ausnahmesituation für einen gesellschaftlichen Lernprozess auf Mikroebene zu instrumentalisieren versuchen, statt Konflikte von Vornherein durch fragwürdige Restriktionen „vermeiden“ zu wollen.
Oder eben überhaupt darauf verzichten, große Lager in dünn besiedelten Gegenden einzurichten, was eigtl. immer zu sozialen Konflikten führt.
Vielen Dank für die Kommentare!
@ Frau Kuchen: Beim Verfassen des Blogbeitrags hatte ich ebenfalls an die Ereignisse in Marzahn-Hellersdorf gedacht. Die beiden von Dir angesprochenen Kritikpunkte finde ich sehr wichtig. Ich denke allerdings nicht, dass sie aus meiner Position folgen. Die Aufforderung zur Rechtfertigung der Ängste lässt meines Erachtens weder die „gesellschaftliche Grundlage“ der Angst unangetastet, noch führt dies zur einer „Individualisierung des Problems“. Vielmehr denke ich, dass beide von Dir genannten Hinsichten im Rahmen der Rechtfertigung berücksichtigt werden. Im Versuch, eine Angst zu begründen, müssen intersubjektiv nachvollziehbare Argumente formuliert werden. Wenn sich herausstellt, dass es sich bei den vermeintlichen „Sorgen und Ängsten“ schlechterdings um Rassismus handelt (wie etwa in Marzahn-Hellersdorf und vermutlich den meisten Fällen), dann ist meines Erachtens eindeutig, dass sich das Problem nicht allein auf die TrägerInnen der rassistisch motivierten „Ängste“ beschränkt. Entsprechend reicht es nicht aus, lediglich die „Ängste“ der AnwohnerInnen abzubauen. Man muss ebenso gegen den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus vorgehen.
@ Jordi: Dein Kommentar verweist zum einen auf die Skepsis hinsichtlich der Grenzen des Machbaren und deutet zum anderen konkrete Handlungsalternativen an. Zunächst zum ersten Punkt: Es macht meines Erachtens einen enormen Unterschied, ob wir – mit den Mitteln der normativen politischen Theorie – Ziele formulieren und dafür Unterstützung mobilisieren, oder ob wir hingegen einfach hinnehmen, dass die eigentlich gebotene Handlung in der Bevölkerung nicht hinreichend Rückhalt findet. Letzteres wäre aber purer Populismus. Ferner handelt es sich bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen nicht um eine Wohltat (im Sinne von „Charity“), sondern um eine moralische und juridische Pflicht (Art. 33 GFK, Art 16a GG). Es wäre politisch fatal, sich angesichts eines (vermeintlichen) Mangels an Unterstützung für Asylsuchende in Skepsis zu verlieren. Man kann es auch konsequentialistisch ausdrücken: Je mehr Asylsuchende Zuflucht finden, desto besser. (Das Ziel sollte selbstverständlich zudem darin bestehen, die Ursachen unfreiwilliger Migration zu bekämpfen).
Die von Dir abschließend genannten Optionen scheinen mir richtigerweise auf Handlungsalternativen hinzuweisen. Statt uns von den „Ängsten und Sorgen“ erpressen zu lassen, sollten wir uns fragen: Wie können wir – hier uns jetzt – die Aufnahmekapazitäten und Lebensbedingungen für Asylsuchende verbessern? Hierzu sage ich im Text zu wenig. „Aufklärung“ in einem engen Sinne greift vielleicht zu kurz (siehe die Kritik von Frau Kuchen). Geeignete Maßnahmen könnten z.B. sowohl in antirassistischer Bildungsarbeit als auch in der Abschaffung von stigmatisierenden Lebensmittelgutscheinen und Sammelunterkünften (Lagern) bestehen, wie Du es auch vorschlägst.
Die hieraus resultierende Frage für die normative politische Theorie könnte (frei nach Sen) lauten: „What do we want from a theory of asylum?“ Soll sie uns ein wünschenswertes, aber vielleicht utopisches Ideal beschreiben? Oder soll sie uns möglichst „realistische“ Handlungsoptionen im Hier und Jetzt anbieten und „komparative“ Urteile anleiten? Brauchen wir das Ideal überhaupt für letzteres? Dies ist die ausufernde Diskussion um ideale und nicht-ideale Theorie, angewendet auf Asyl (siehe hierzu etwa Matthew Gibney 2004). Was der Blog-Beitrag primär leisten sollte, war den Verweis auf existierende „Ängste und Sorgen“ auch für die nicht-ideale Theorie zu problematisieren.
Ich wollte schon seit einiger Zeit etwas zu diesem Beitrag schreiben, den ich mit viel Interesse gelesen habe. Leider komme ich erst jetzt dazu und bitte um Entschuldigung für meinen „verspäteten Kommentar“:
In dem Beitrag „Muss man die Ängste und Sorgen der BürgerInnen ernst nehmen?“ werden zwei Lesarten des „Ernstnehmens“ vorgestellt und anschließend für die letztere von beiden plädiert: Einerseits könne man die Existenz der Ängste als hinreichenden Grund für ihre Berücksichtigung verstehen. Andererseits wäre eine kritische Evaluation der Ängste der BürgerInnen geboten.
Während ich die argumentative Stoßrichtung des Artikels auch mit Hinblick auf die Bewertung des Falls Bremgarten teile, habe ich mich doch auch gefragt, ob nicht die Formulierung, man müsse die Ängste und Sorgen der Bürger ernstnehmen, noch eine dritte Lesart zulässt: Es soll keine Politik über die Köpfe der Bürger und Bürgerinnen hinweg gemacht werden, sondern die Ängste und Sorgen derselbigen sollten in der politischen Debatte eine Rolle spielen (evt. auch mit dem Ziel der Selbstaufklärung über die eigenen Interessen).
Diese Lesart verweist auf den Anspruch der Einbeziehung der Bürger und Bürgerinnen in den politischen Meinungsbildungsprozess. Ein durchaus hehres Ziel. Dieser Anspruch wird anschließend offensichtlich verkürzt – wie in der Diskussion der ersten Lesart von Jan Brezger dargestellt –, scheint, meines Erachtens nach, aber gleichwohl in den Argumentationen präsent zu sein – und macht sie eben deshalb auch so wirkungsvoll. Ich denke, wenn man sich diesen „appeal“ bewusst macht, kann man sie auch ebenso wirkungsvoll entkräften.