Marx im Netz: Interview zur MEGAdigital

Die Marx-Engels-Gesamtausgabe ist eine imposante Größe der deutschen Editionslandschaft. Die Wurzeln des in den späten 1960er Jahren begonnenen Projektes reichen bis in die Sowjetunion der 1920er Jahre zurück – dazwischen liegen radikale Brüche: Im Rahmen der Stalinistischen Säuberungen wurde das Projekt abgebrochen und Mitarbeiter hingerichtet. Erst 1975 entstand, gegen Widerstände, in der DDR der erste neue Band. Nach 1989 wurden die Ausgabe entideologisiert, konnte aufgrund der philologisch einwandfreien Textsubstanz aber weitergeführt werden. 61 Doppelbände sind bislang veröffentlicht, 114 insgesamt geplant. Doch die MEGA entwickelt sich weiter: Seit 2005/2006 läuft das Pilotprojekt der MEGAdigital, die Marx und Engels ins Netz bringt und der Öffentlichkeit Recherchen und Textvergleiche erleichtern soll – bislang sind Teile des Kapital und der Vorarbeiten verfügbar. Zu diesem Digitalprojekt haben wir den MEGA-Arbeitsstellenleiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Gerald Hubmann, und die Projektleiterin Regina Roth befragt. Der Zeitpunkt passt – gerade wurden Marx‘ Schriften zum Weltkulturerbe erklärt.

Was ist MEGAdigital – wie ist die Plattform entstanden und in welchem  Verhältnis steht sie zur erscheinenden papierenen MEGA?

GH: Das Projekt ist im Zusammenhang der editorischen Arbeit an der Kapital-Abteilung der MEGA entstanden. Das Kapital ist ja keineswegs, wie von Engels und im Marxismus suggeriert, das abgeschlossene Hauptwerk von Marx. Die Bände zwei und drei wurden vielmehr durch Engels aus dem Nachlass von Marx herausgegeben. Engels hat dabei aus einer großen Masse unfertiger Manuskripte selektiert. In der Kapital-Abteilung der MEGA – insgesamt 15 Bände in 23 Teilbänden – wurde das gesamte Konvolut Marxscher Manuskripte in einer ganzen Reihe von Bänden mit Erstveröffentlichungen nun erstmals publiziert und in den Zusammenhang mit den redaktionellen Texten von Engels und den Druckfassungen der verschiedenen Auflagen gesetzt. Es bot sich nun an, das im Kontext dieses editorischen Unternehmens, das in deutsch-japanisch-russischer Forschungskooperation durchgeführt wurde, entstandene Datenmaterial, auf dem die Druckbände beruhen, auch zugänglich zu machen. Insofern lag unsere Intention weniger auf der öffentlichen Wirksamkeit als vielmehr auf einem weiteren Zugang zum edierten Material.

RR: Ausgangspunkt der Entwicklung von MEGAdigital war die Frage nach zusätzlichen Funktionalitäten durch eine digitale Aufbereitung von Texten in der MEGA, etwa über eine Volltextrecherche. Enorme Schubkraft erzeugte ein Projekt unserer japanischen Kollegen zur Erarbeitung eines kumulierten digitalen Sachregisters für alle Fassungen, Entwürfe und Ausarbeitungen zum 2. Buch des Kapital. Das Besondere dieses Registers ist, dass sich damit die Genesis von Begrifflichkeiten von Marx in seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit seinem Projekt erschließen lässt, von den Marx’schen Manuskripten (MEGA II/11) über das Redaktionsmanuskript (MEGA II/12) bis zur Druckfassung (MEGA II/13). In den Einträgen zu den Sachbegriffen sind die Fundstellen in den jeweiligen MEGA-Bänden vermerkt; von diesen Fundstellen aus lassen sich die zugehörigen Texte parallel öffnen.

Die digitale Ausgabe ist ohne die Druckausgabe nicht denkbar, weil letztere zum einen eine langfristige Referenzierbarkeit gewährleistet, zum anderen weil dort die grundlegenden Zusammenhänge ermittelt und dokumentiert werden. Mit unserem „Gesamtpaket“ wollen wir alle ansprechen, die sich mit Marx und Engels beschäftigen, interessierte Laien und Studenten ebenso wie das Fachpublikum verschiedener Disziplinen.

Die Print-MEGA umfasst ja mittlerweile 61 Doppelbände – ist denn eine Digitalisierung aller Texte inklusive der Kommentierungen angestrebt? Nach welchen Kriterien verläuft der Prozess der Selektion: Welche Texte dürfen ins Netz?

GH: Digitalisierung als solche ist nicht die primäre Aufgabe einer Edition, wenigstens nicht der unsrigen. Vielmehr steht am Anfang immer die aufwendige editorische Arbeit, die zunächst einmal unabhängig vom späteren Ausgabemedium ist. Egal ob für Buch, Netz oder DVD, die Handschriften müssen entziffert, Autorschaftsfragen geklärt – bei den zumeist anonym erschienenen publizistischen Arbeiten von Marx eine zentrale Frage –, Entstehungs- und Überlieferungsbericht erarbeitet werden. Insofern ist die Edition zunächst einmal keine Frage des Mediums. Für die MEGA gilt, dass sie primär eine Buchedition ist und zunächst auch bleiben wird. Das hängt damit zusammen, dass wir für komplizierte Formen des textkritischen Apparates, also für Varianten- und Korrekturendarbietung, über technische Lösungen verfügen, die sich im Buchsatz routiniert umsetzen lassen, noch nicht aber für die Darstellung im Netz.

Was die weitere Digitalisierung – auch die Retrodigitalisierung bereits vor dem digitalen Zeitalter erschienener Bände – anbetrifft, so zielen wir nicht auf möglichst große Textmassen, sondern wir möchten weiterhin projektbezogen operieren. Was bei MEGAdigital in Bezug auf das Kapital umgesetzt wurde, also die Zusammenhänge zwischen Manuskripten, redaktionellen Texten und Druckfassungen herzustellen, möchten wir auch in anderen Bereichen umsetzen. Lassen Sie mich als Beispiel die Feuerbach-Thesen nennen. Diese wurden bislang zumeist mit der Deutschen Ideologie zusammen abgedruckt, weil es so gut zu passen schien. Dort gehören sie aber nicht hin. Die Thesen stehen in einem Notizbuch von Marx aus dem Jahr 1845, das vollständig und authentisch in Band IV/3 der MEGA abgedruckt ist. Engels hat die Thesen dann erstmals im Anhang seiner Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie veröffentlicht (MEGA I/30), aber erst in deren zweiter Auflage von 1888 (MEGA I/31) und in veränderter Form, so dass die Textabweichungen zu dokumentieren waren (Apparat von MEGA I/30, S. 792ff.) und sich in der Vorbemerkung außerdem zu den Thesen geäußert. Ein aus editorischer Sicht adäquates Digitalisierungsprojekt wird sich deshalb nicht in der digitalen Darstellung der Thesen erschöpfen können, sondern sollte darin bestehen, die komplexen Zusammenhänge und Bezüge darzustellen, indem die entsprechenden Passagen der edierten Texte und der kommentierenden Apparate der Bände IV/3, I/30 und I/31 miteinander verknüpft präsentiert werden.

RR: Eine ersten Überblick über diese Zusammenhänge kann man sich in den Ausschnitten aus den entsprechenden Bänden auf dem edoc-Server der BBAW verschaffen, etwa hier und hier.

Wie darf man sich die technische Umsetzung dieses Projektes vorstellen? Wo liegen die Grenzen der digitalen Verfügbarmachung? Und einmal angenommen, Sie hätten unbegrenzte technische und personelle Ressourcen: Was wäre das gewünschte Maximalprojekt?

RR: Technisch betrachtet ist die digitale MEGA im Prinzip eine große Datenbank, in der alle editorischen Texteinheiten (Edierte Texte, Register, etc.) im XML-Format abgelegt sind, zusammen mit Abbildungen, Grafiken und Skripten für die dynamische Anzeige von Texten und Verknüpfungen. Voraussetzung ist, dass die Texte entziffert und geprüft und die Bezüge zu anderen Texten und Quellen ermittelt sind. Die Datenbank ist einbettet in eine Webanwendung, die modular aufgebaut ist, so dass jederzeit neue Textteile, MEGA-Bände, Apparatteile oder Funktionalitäten hinzugefügt werden können. Komplizierte Strukturen, seien es grafische Elemente, Brüche, etc. in den Texten oder synoptische Übersichten in den Varianten, können im Satz, wie Gerald Hubmann bereits sagte, aufgrund der langen Erfahrung mühelos dargestellt werden, während z.B. sich die Browsertechnologie dieser Vielfalt in der Anzeige erst nach und nach annähert. Beispielsweise können wir Brüche erst seit kurzem korrekt anzeigen, allerdings noch mit unterschiedlich guten Ergebnissen je nach Browser.

Wünschenswert wäre eine digitale Verknüpfung mit den von Marx und Engels genutzten Quellen, die mehr und mehr auch im Netz verfügbar gemacht werden; damit könnte man die Einbettung der Werke unserer Autoren in den zeitgenössischen Diskurs deutlicher sichtbar werden lassen.

GH: Denn wie gesagt, ist die Verknüpfung der in einer großen Edition sehr stark auf verschiedene Abteilungen verteilten Inhalte und Zusammenhänge ein großes Anliegen.
Darüber hinaus wäre die digitale Verfügbarkeit der gesamten Brief-Abteilung ein Desiderat, nicht nur für die Marx-Forschung. Denn die MEGA erfasst erstmals auch alle an Marx und Engels gerichteten Briefe von über 2000 Korrespondenzpartnern aus allen Ländern Europas und den USA. Damit wird ein völlig neues Untersuchungsfeld eröffnet: anders als bei der bereits gut erforschten Briefkultur des Bürgertums werden hier erstmals die Kommunikationsnetzwerke der politischen Emigranten und frühen Arbeiterbewegungen freigelegt. Aus der digitalen Verfügbarkeit dieser Materialien könnte ein großer Gewinn für die Forschung erwachsen.

Soll das digitale Projekt auch Möglichkeiten der Interaktion der LeserInnen einschließen?

GH: Einerseits liegt die primäre Aufgabe von Editionen sicherlich mehr in der Dokumentation und authentischen Präsentation von Textmaterial als in der Interaktion. Andererseits aber ermöglicht die digitale Präsentation durch ihren flexibelen Charakter die Einfügung von Nachträgen (wichtig insbesondere bei später aufgefundenem Briefmaterial), aber auch die spätere Ergänzung von Quellenfunden und der Kommentierung – auch durch NutzerInnen der Edition. Insofern bietet die digitale Präsentationsform auf jeden Fall Potenziale, die es zu nutzen gilt.

Versprechen Sie sich auch Impulse der MEGAdigital für die Marx-Forschung – verändert die digitale Verfügbarmachung Ihrer Meinung nach den Zugriff und das Lesen der Texte?

RR: Der digitale Zugang eröffnet neue Möglichkeiten, zum einen über die Volltextrecherche, zum anderen über die Visualisierung der Bezüge innerhalb verschiedener Fassungen und Ausarbeitungen. Dies wird neue Anregungen bieten, jedoch das Lesen im Kontext nicht ersetzen, sondern fruchtbar ergänzen.

GH: MEGAdigital in seiner jetzigen Form wird insbesondere Konsequenzen haben für die Zitierfähigkeit der weit verbreiteten MEW (Marx-Engels-Werke). Obgleich die Unzulänglichkeit dieser von den marxistisch-leninistischen Parteiinstituten herausgegebenen Ausgabe weithin bekannt ist, wird sie doch noch von vielen FachkollegInnen genutzt. Durch MEGAdigital wird es nun möglich, nicht nur die in der MEW gefundenen Belegstellen aus dem Kapital zu verifizieren und korrekt nach MEGA zu zitieren, sondern es werden überdies die Bezüge zu den Parallelstellen und zu den Marxschen Manuskripten dokumentiert – wenn das kein Mehrwert ist…

 

Dr. Gerald Hubmann, Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (Amsterdam) und Arbeitsstellenleiter Marx-Engels-Gesamtausgabe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Dr. Regina Roth ist Projektleiterin für MEGAdigital und Editorin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

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